Herr Sprenger, Studien wie die von Gallup kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der Mitarbeiter längst innerlich gekündigt hat. Woran liegt das  aus Ihrer Sicht?
Ich halte diese Studien für hochgradig fragwürdig, weil deren Fragen meist schon die Antworten provozieren. Regelmäßig äußern Mitarbeiter in diesen Befragungen eine extreme Unzufriedenheit mit dem Unternehmen und dem Betriebsklima – aber viele Mitarbeiter verrichten dennoch ausgesprochen loyal ihre konkreten Aufgaben. Für ihre Arbeit sind die meisten Menschen nämlich in hohem Maße motiviert. Nichtsdestotrotz beklagen sie sich sehr häufig über die äußeren Rahmenbedingungen, insbesondere aus dem Makro-Bereich der Unternehmensleitung.

person stepping down on brown wooden stairs aerial photography
Foto von Raphael Koh

Welche Faktoren beeinflussen denn die Motivation der Mitarbeiter?
Motivation ist sehr komplex. Es gibt im Grunde immer zwei Quellen, aus denen sich Motivation und Demotivation speisen. Motivation hängt zum einen vom Individuum und seinen Einstellungen ab. Zum anderen beeinflusst der institutionelle Rahmen des Unternehmens die Motivation. Diesen institutionellen Rahmen repräsentiert im Wesentlichen die Führungskraft. Der unmittelbare Vorgesetzte ist häufig der größte Demotivator. Allerdings wird die Bedeutung des Faktors Motivation zum Teil grotesk überschätzt.

Inwiefern?
Die Motivation – also die Leistungsbereitschaft – ist nur ein Teil des Leistungsentstehungsprozesses. Viel wichtiger als Motivation sind jedoch die Leistungsmöglichkeiten und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Natürlich hängen die verschiedenen Elemente zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Was bedeutet das für die Führungspraxis? Wie können Führungskräfte Leistung fördern? Führungskräfte sollten gar nicht erst versuchen, die Motivation ihrer Leute zu fördern. Denn Leistungsbereitschaft müssen die Mitarbeiter selbst mitbringen. Motivieren können Vorgesetzte nicht, es reicht völlig aus, wenn sie ihre Mitarbeiter nicht demotivieren, zum Beispiel durch respektloses Verhalten. Einfluss nehmen können Führungskräfte allerdings auf die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten: Sie müssen die Menschen ihren Talenten entsprechend einsetzen und ihnen damit die Möglichkeit geben, ihre Potenziale zu entfalten. Außerdem können sie die Leistungsmöglichkeiten der Beschäftigten beeinflussen, also den institutionellen Rahmen. Dieser institutionelle Rahmen ist oft misstrauensinduziert. Das fängt schon mit dem Zeiterfassungsgerät am Eingang an, das zeigt, wie misstrauisch das Unternehmen seinen Mitarbeitern gegenübersteht. Und das geht in einigen Unternehmen bis hin zu einem Wust an bürokratischen Regelungen, die dazu führen, dass Mitarbeiter nicht mehr tun, was sie für sinnvoll halten, sondern nur damit beschäftigt sind, sich rückzuversichern und Fehler zu vermeiden. Das können Führungskräfte verhindern. Außerdem können sie kritisch hinterfragen, ob sie die Leistungsmöglichkeit der Mitarbeiter selbst aktiv behindern. Wenn der Vorgesetzte zum Beispiel meint, ständig in die Spezialgebiete der Mitarbeiter hineinregieren zu müssen, führt das zu Frustrationen.

Führungskräfte sollten also Freiräume schaffen?
Es geht vielmehr darum, diese Freiräume gar nicht erst als Räume entstehen zu lassen. Wenn der Mitarbeiter seinen Kunden kennt und Hautkontakt mit ihm hat, weiß er im Regelfall auch, was zu tun ist. Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter nicht permanent an irgendwelche intern definierten Märkte, Policies und Guidelines rückbinden. Denn dann steht nicht mehr der Kunde im Zentrum, sondern ausschließlich die „Please the Boss“- Einstellung.

Und wie sollten Führungskräfte mit Fehlern ihrer Mitarbeiter umgehen?
Sie sollten nicht anklagend, sondern handelnd reagieren. Das heißt: Wenn der Fehler passiert ist, gibt es eigentlich nur zwei sinnvolle Fragen: Wie können wir jetzt vorgehen? Und was können wir tun, damit der Fehler nicht noch mal passiert? Wer anklagt, trägt dazu bei, dass der Mitarbeiter beim nächsten Mal einen Fehler vertuscht, ihn anderen zuschiebt oder einfach gar nicht mehr arbeitet – denn das ist bekanntlich die einzige Möglichkeit, keine Fehler mehr zu machen.

Führungskräfte, die so agieren, müssen ihren Mitarbeitern vertrauen …
Alle Arbeitsverhältnisse müssen partiell Vertrauensbeziehungen sein, denn ohne Vertrauen könnte man nicht zusammenarbeiten. Selbst die uralte Idee der Delegation basiert auf dem Vertrauen, dass Mitarbeiter ihre Freiräume nutzen. Als Führungskraft kann ich in Vertrauen investieren und mein Unternehmen damit unbürokratischer und schneller machen. Dafür muss ich mich aber zunächst verwundbar machen und bestimmte Reporting- oder Monitoring-Systeme abschaffen. Damit gebe ich dem Mitarbeiter die Möglichkeit, mein Vertrauen zu erwidern. Dieses Angebot werden nicht alle annehmen. Aber es gibt schon heute Führungskräfte, die sehr gut darin sind, Vertrauen aufzubauen. Was wir allerdings noch dringender benötigen sind Führungskräfte, die es schaffen, dass die Mitarbeiter sich selbst vertrauen. Das einzig legitime Ziel von Führung kann nur Selbstführung sein.

Wie können Führungskräfte das Selbstvertrauen anderer fördern?
Sie können Selbstvertrauen fördern, indem sie Mitarbeiter in der Verantwortung belassen – auch auf die Gefahr hin, dass ihnen Fehler unterlaufen. Wenn ein Mitarbeiter mit einem Problem zu ihnen kommt, sollten sie ihn nicht mit Ratschlägen erschlagen, sondern Vertrauen in seine Problemlösungskapazitäten haben. Denn es gibt einen uralten Grundsatz: Wann immer jemand mit einem Problem zu dir kommt, hat er selbst schon die Lösung. Wenn Mitarbeiter nicht das Gefühl haben, dass sie sich permanent rückversichern müssen, werden sie tun, was zu tun ist, und nicht permanent fragen, was der Chef denkt.

Nach welchem Führungstyp sollten Unternehmen also Ausschau halten?
Wonach Personalisten am ehesten suchen sollten, sind Menschen mit – und das kann ich am besten auf Englisch sagen: „cool head, warm heart and working hands“. Gesucht sind Menschen mit einem kühlen Kopf, die entscheiden können, die Prioritäten setzen, Situationen strukturieren und klären. Darüber hinaus sollten sie die Herzen der Mitarbeiter erreichen können und in der Lage sein, sie hinter gemeinsame Ziele zu bringen. Ein Kognitionsautomat schafft das nicht. Der Begriff „working hands“ beschreibt, dass all das ohne ein gewisses Maß an Fleiß, Blut, Schweiß und Tränen nicht zu schaffen ist.

Diese Führungsqualitäten erkenne ich aber erst im Lauf der Zusammenarbeit …
Natürlich. Deshalb ist das wichtigste Element der Personalauswahl ja auch die Probezeit – und die nutzen Unternehmen am allerwenigsten. Es gibt kein personaldiagnostisches Instrument, dessen Prognosegenauigkeit so hoch ist, wie eine gut vorbereitete, gut begleitete und gut ausgewertete Probezeit. Und genau das machen die meisten Personalmanager nicht. Dass der Mitarbeiter erst am Ende der Probezeit eingestellt ist, muss sonnenklar sein.

Welche Möglichkeiten hat das Management, die Motivation der Mitarbeiter zu fördern?
Das Topmanagement ist ja in den meisten Unternehmen selbst die Krise, die sich zu bewältigen glaubt. Topmanager beschäftigen sich zu 90 Prozent mit Problemen, die sie selbst schaffen, und sind eigentlich klug beraten, weniger zu machen als zu lassen.

Aber Manager können doch auch aktiv werden und Rahmenbedingungen schaffen, die Leistung fördern.
Was meinen Sie damit?

Viele Unternehmen setzen zum Beispiel auf Vergütungsmodelle, die Leistung belohnen. Sie haben sich immer gegen Belohnungssysteme ausgesprochen, die mit Boni und Incentives arbeiten. Aber was halten Sie von Mitarbeiterbeteiligungen?
Von Mitarbeiterbeteiligungen halte ich grundsätzlich sehr viel. Ich denke, es sollte ein Paradigmenwechsel vom Anreizen und Steuern über Boni und Incentives hin zum Beteiligen stattfinden. Das bedeutet: Wenn das Unternehmen gut gearbeitet hat, sollten alle profitieren und beteiligt werden. Diese Beteiligung kann das Unternehmen in Krisenzeiten auch mal nach unten fahren, ohne gleich Tausende an die Luft setzen zu müssen. Allerdings sollte die Vergütung im Unternehmen insgesamt kein allzu großes Gewicht bekommen.

Leistung hängt ja auch von privaten Faktoren ab –  von der Gesundheit und der familiären Belastung zum Beispiel. Wie wichtig ist Work-Life-Balance heute für die Unternehmen?
Unternehmen sind Veranstaltungen zum Erzeugen und Vertreiben von Gütern und Dienstleistungen. Dabei gilt das ökonomische Prinzip. Alles andere hat Unternehmen nicht zu interessieren – es sei denn, die Märkte zwingen sie dazu. Natürlich sind Arbeitgeber gut beraten, entsprechende Initiativen zu starten, wenn sie eine bestimmte Klientel von Mitarbeitern bekommen und halten möchten. Allerdings muss das einem ökonomischen Kalkül genügen. Ich finde es scheinheilig, wenn sich Unternehmen für solche Programme auszeichnen lassen. Würden sie ehrlich sagen, dass sie Work-Life-Balance fördern, um Arbeitskräfte anzuziehen, wäre ich absolut bei ihnen. Aber als Sozialveranstaltung sind solche Programme verlogen. Ein Unternehmen ist sozial, indem es Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Alles andere sollte es Kirchen oder Privatleuten überlassen.

Stichwort Arbeitsplätze: Sie schreiben, dass Mitarbeiter und Unternehmen nicht nur einen expliziten, sondern auch einen impliziten Vertrag abschließen. Was verstehen Sie darunter?
Der implizite Vertrag ist der Vertrauensanteil des Vertragsverhältnisses. Über den expliziten Vertrag, der zum Beispiel Stellenbeschreibungen und Zielvereinbarungen umfasst, lässt sich nicht alles regeln. Denn das Verhalten eines Menschen lässt sich nicht unbegrenzt kontrollieren. Er muss auch die Freiheit haben, seine unternehmerischen Fähigkeiten einsetzen zu können. Das heißt: Sie müssen davon ausgehen können, dass ein Mitarbeiter seine Spielräume nicht zum Nachteil der Organisation missbraucht. Das ist der implizite Vertrag. Dieser Vertrag ist wechselseitig. Momentan kündigen viele große Unternehmen wie Siemens oder Telekom ihren impliziten Vertrag auf. Denn Teil des impliziten Vertrags ist auch die Aussage: „Dafür, dass unsere Mitarbeiter loyal sind und auf Alternativen verzichten, stehen sie nicht bei der kleinsten betriebswirtschaftlichen Schieflage auf der Straße.“

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 3/2007