Problempunkt

Diese Entscheidung des BAG hat große Aufmerksamkeit gefunden. Das Gericht ließ damit die Revision gegen das in der Presse und Öffentlichkeit viel diskutierte Urteil des LAG Berlin- Brandenburg im sog. Fall „Emmely“ (v. 24.2.2009 – 7 Sa 2017/08, AuA 12/09, S. 727, in diesem Heft) zu. Das LAG sah die Kündigung einer 50 Jahre alten Kassiererin nach 31-jähriger Betriebszugehörigkeit als wirksam an. Es hielt es für erwiesen, dass die Mitarbeiterin zwei Leergutbons im Gesamtwert von 1,30 Euro unterschlagen hatte. Die Richter berücksichtigten im Rahmen der Interessenabwägung, dass die Klägerin bei der Anhörung vor Ausspruch der Kündigung und im Prozess mehrfach durch unwahre Angaben versucht hatte, den Verdacht von sich ab- und auf andere Kolleginnen zu lenken. Das LAG bestätigte deshalb das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts (ArbG). Die Revision ließ es nicht zu.

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Hiergegen wendete sich die Klägerin mit einer Nichtzulassungsbeschwerde. Zur Begründung führte sie aus, die Entscheidung des LAG weiche von der Rechtsprechung des BAG ab. In einem Urteil vom 23.6.2005 (2 AZR 256/04) hatte das BAG ausgeführt:

„Für die Frage der Rechtswirksamkeit der Kündigung … ist entscheidend, ob Umstände vor – liegen, die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung die Kündigung als wirksam erscheinen lassen. Es ist eine rückschauende Bewertung dieser Gründe vorzunehmen, später eintretende Umstände sind grundsätzlich nicht mehr einzubeziehen.“

Entscheidung

Das BAG gab der Nichtzulassungsbeschwerde statt. Zwar widerspricht die Entscheidung des LAG nicht der bisherigen Rechtsprechung des BAG. Mit dem Urteil vom 23.6.2005 hatte der für Kündigungsentscheidungen zuständige 2. Senat lediglich einen (ausnahmefähigen) Grundsatz aufgestellt. Dem lässt sich deshalb nicht entnehmen, dass Umstände, die erst nach der Kündigung eintreten, bei der Beurteilung generell außer Betracht bleiben müssen.

Der für die Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde zuständige 3. Senat sah jedoch eine allgemeine Bedeutung für die Rechtsordnung in der Frage, ob es zulässig ist, ein späteres Prozessverhalten in die Interessenabwägung einzubeziehen und als mitentscheidend zu berücksichtigen. Deshalb bejahte er die grundsätzliche Bedeutung und ließ die Revision zu. Weitere Fragen, insbesondere ob die Kündigung im Fall „Emmely“ rechtmäßig war, musste er in diesem Verfahren nicht beantworten.

Konsequenzen

Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde hatte das BAG lediglich die Fragen zu prüfen,

  • ob eine für die Entscheidung wesentliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat (vgl. zum Thema auch Link/van Dorp, AuA 12/09, S. 703 ff., in diesem Heft) oder
  • ob das Urteil des LAG im Widerspruch zu anderen obergerichtlichen Entscheidungen steht.

Es ist deshalb auf den ersten Blick überraschend, dass das Gericht die Revision zugelassen hat. Schließlich ist die Rechtsprechung des BAG und aller LAG zur Kündigung bei Diebstahl geringwertiger Sachen eindeutig und das LAG Berlin-Brandenburg weicht hiervon nicht ab. Es hatte aber im Rahmen der Interessenabwägung auch das Verhalten der Klägerin nach Ausspruch der Kündigung berücksichtigt. Die Frage, ob das Gericht Vorgänge nach Ausspruch der Kündigung in die Abwägungsentscheidung einbeziehen darf, insbesondere das Verhalten des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess, ist bisher noch nicht entschieden. Da die Erfurter Richter diese Frage für grundsätzlich bedeutsam halten, ist es konsequent, die Revision zuzulassen.

Wie die Entscheidung des BAG ausfallen wird, lässt sich gegenwärtig nicht absehen. Es spricht viel dafür, das Verhalten von Arbeitnehmern im Prozess bei der Bewertung der Kündigung nicht zu berücksichtigen. Ob sie berechtigt ist oder nicht, beurteilt sich anhand der Tatsachen zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung. Anderenfalls wäre das Risiko für den Arbeitgeber unkalkulierbar. Aus Gründen der Chancengleichheit wird es auch nicht möglich sein, nur auf Prozessvorgänge zulasten des Mitarbeiters abzustellen.

Selbst wenn das BAG die Entscheidung des Berufungsgerichts aufhebt, steht damit noch nicht fest, ob die Kündigung wirksam ist. Das LAG hatte das klageabweisende Urteil mit ausführlichen und differenzierten Argumenten begründet und die Verstöße der Klägerin gegen die prozessuale Wahrheitspflicht nur ganz nebenbei erwähnt. Selbst wenn das BAG die Revision also für begründet halten sollte, bedeutet dies noch nicht zwingend eine abschließende Entscheidung. Es kann das Verfahren auch an das LAG zurückverweisen.

Praxistipp

Arbeitgeber müssen nicht damit rechnen, dass das BAG die Frage, ob eine Kündigung wegen Diebstahls geringwertiger Sachen wirksam ist, zukünftig anders beurteilt als in seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung (Urt. v. 11.12.2003 – 2 AZR 36/03, AuA 8/04, S. 48 f.). Seine Entscheidung wird lediglich eine Detailfrage im Rahmen der Interessenabwägung klären. Wer sich für das Ergebnis interessiert, muss nur die Tagespresse verfolgen. Sicher wird auch das Revisionsurteil ein großes Medienecho finden.

Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht – Personal-Profi – 12/09