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Herr Prof. von Rosenstiel, Talentmanagement ist das neue Schlagwort des Human Resource Managements. Wer zählt eigentlich zu den Talenten?
Die Unternehmen suchen zurzeit Talente auf allen Ebenen – auch für manuelle technische Tätigkeiten insbesondere Facharbeiter. Meist bezeichnen sie mit dem Begriff Talent aber Fachhochschul- und Universitätsabsolventen mit einem besonderen Potenzial.

In der Diskussion um den ‚War for Talents‘ gewinnt man häufig den Eindruck, dass sich der Begriff Talent nur über Angebot und Nachfrage definiert. Sind Mitarbeiter nur dann Talente, wenn ihre Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind?
In der Berufswelt wird der Begriff Talent tatsächlich sehr stark über den Markt definiert. Für die Unternehmen sind Mitarbeiter dann Talente, wenn sie Kompetenzen mitbringen, die sie in der Organisation besonders nutzbringend einsetzen können.

Ist Talentmanagement dann Personalarbeit für besonders gefragte Mitarbeiter?
Talentmanagement bedeutet eigentlich, Absolventen des Bildungssystems, die das Unternehmen besonders dringend benötigt, zu erkennen, zu gewinnen, zu fördern und nutzbringend unterzubringen.

Aber das sind klassische Aufgaben der Personalarbeit. Was ist das Neue am Talentmanagement?
Die Intensität, mit der sich die Unternehmen um bestimmte Arbeitskräfte bemühen, ist neu. Früher lag die Stärke bei den Organisationen. Die jungen Leute mussten sich anstrengen, um überhaupt in die Organisationen zu kommen, und sie konnten meist nur wenige Forderungen stellen. Heute ist es so, dass die wirklich Guten schon vor ihrem Abschluss mehrere Angebote haben, so dass die Unternehmen anfangen, um sie zu buhlen.

Und welche Unternehmen machen das Rennen?
Unseren Forschungen zufolge kommt es den Berufseinsteigern nicht so sehr auf das Gehalt an, sondern vor allem darauf, in einem Unternehmen ihre persönlichen beruflichen Ziele zu verwirklichen [siehe: Forschung zum Thema]. Diese Ziele können zum Beispiel darin bestehen, sich für einen Auslandseinsatz zu qualifizieren, die Leitung eines Projektes zu übernehmen oder bestimmte Weiterbildungen zu besuchen. Gelingt es ihnen, ihre Vorstellungen zu verwirklichen, denken sie deutlich seltener an eine Kündigung.

Dann sind Recruiter gut beraten, verstärkt auf die persönlichen Ziele der Kandidaten zu achten?
Genau. Und sie sollten ganz gründlich prüfen, ob die Ziele der Bewerber mit den Zielen des Unternehmens übereinstimmen. Sie müssen herausfinden, was die wirklichen Ziele der Kandidaten sind. Das ist nicht ganz einfach. Denn die abstrakten Ziele von Bewerbern unterscheiden sich meist sehr stark von den konkreten. Ein Beispiel: Wir haben Absolventen der Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Betriebswirtschaftslehre gefragt, was ihnen bei einem Arbeitgeber wirklich wichtig ist. Die meisten gaben an, dass sie Wert auf das Umweltbewusstsein des Unternehmens legen. Fragt man dieselben Kandidaten nach ihren konkreten persönlichen Zielen, steht der Umweltschutz ganz hinten auf der Liste. Diese konkreten persönlichen Ziele sind es aber, die den Ausschlag für Karriereentscheidungen geben.

Was sind die ausschlaggebenden Gründe für einen Jobwechsel?
Besonders häufig verlassen Berufseinsteiger ein Unternehmen, weil sie mit falschen Versprechungen gelockt und später enttäuscht wurden. Weitere Gründe sind mangelnder Freiraum für Ideen und fehlende soziale Unterstützung. Unter diesen Bedingungen kommen Kündigungsgedanken auf. Ein weiteres Ergebnis der Befragung: Wenn Berufseinsteiger ein Unternehmen verlassen, sind sie danach meistens zufriedener. Und das liegt nicht nur am kognitiven Dissonanzabbau nach dem Motto: „Jetzt habe ich gekündigt und darf nicht zugeben, dass es danach eigentlich schlimmer geworden ist.“ Nein, wir haben deutlich gesehen, dass die Mitarbeiter nach einem Wechsel eine höhere Bindung an das neue Unternehmen hatten, zufriedener waren und mehr verdienten. Aus Sicht der Talente ist es daher klug zu gehen, wenn sie in der Firma, für die sie arbeiten, nicht erreichen, was sie wollen. Für die Unternehmen ist es natürlich teuer, das Loch zu stopfen, das durch einen Wechsel entsteht.

Wie individuell sollte Retentionmanagement sein? Bleiben Frauen zum Beispiel aus anderen Gründen in einem Unternehmen als Männer?

Grundsätzlich denken Frauen, die ausbildungsadäquat untergebracht sind, seltener an eine Kündigung als Männer. Und das hat nicht nur familienbedingte Gründe, wie zum Beispiel die Geburt eines Kindes.

Sondern?

Frauen haben häufig geringere Erwartungen an ihre Karriere. Wir haben BWL-Absolventen und -Absolventinnen gegen Ende ihres Studiums zu ihren Karriereaussichten interviewt. Das Ergebnis: Die Frauen haben die Wahrscheinlichkeit, nach dem Studium eine adäquate Stelle zu bekommen, deutlich geringer eingestuft als die Männer. Außerdem hatten sie weitaus geringere Erwartungen an ihre Karriere als die männlichen Kollegen. Dabei waren sie mindestens ebenso qualifiziert wie ihre Kommilitonen. Sie haben sogar im Durchschnitt etwas bessere Examensergebnisse erzielt als die Männer. Aber ihre niedrige Erwartungshaltung war trotzdem realistisch, denn sie haben tatsächlich seltener Karriere gemacht als ihre männlichen Mitbewerber.

Wie verliefen die Karrieren der Frauen?
Die Frauen hatten zwar ähnlich gute Chancen auf eine ausbildungsadäquate Einstiegsposition, doch sie wurden zu einem deutlich geringeren Gehalt eingestellt, so dass sie anfangs rund 10 bis 15 Prozent weniger verdienten. Im Lauf der Zeit ging die Gehaltsschere – mit bedingt durch erste Karriereschritte der Männer – dann immer weiter auseinander. Hinzu kommt, dass die Unternehmen den Bewerberinnen viel häufiger befristete Stellen angeboten haben, während die Bewerber gute Chancen auf unbefristete Verträge hatten. Aufgrund ihrer geringen Erwartungen waren die Frauen trotz der schlechteren Bezahlung in ihrem Job zufriedener als die Männer.

Das bedeutet also, dass sich die Unternehmen beruhigt zurücklehnen können und keinen Wert auf geschlechtergerechte Bezahlung legen müssen?
Nein, das bedeutet, dass sich Unternehmen bei ihren weiblichen Mitarbeitern schon dadurch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können, wenn sie diese fair behandeln und bezahlen.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler, die Unternehmen im Talentmanagement begehen können?
Zwei große Fehler bestehen darin, Karrieremöglichkeiten zu versprechen, die ein Unternehmen nicht bieten kann, und Perspektiven zu eröffnen, die sich nicht mit den Zielen der Bewerber decken. Arbeitgeber sollten sich die Mühe machen, herauszufinden, was ihr Gegenüber eigentlich will, und ihm ganz realistisch sagen, ob sich diese Ziele im Unternehmen verwirklichen lassen. Im zweiten Schritt ist es wichtig, einem neuen Mitarbeiter autonome Teilaufgaben zu geben und ihn sozial einzubinden, damit er sich aufgehoben und fachlich unterstützt fühlt.

Und bezogen auf die Geschlechterthematik?
Hier ist es wichtig, gleiche Chancen für alle zu schaffen. Wenn Unternehmen stärker auf Geschlechtergerechtigkeit setzen, haben sie bei weiblichen Talenten einen deutlichen Vorteil. Allerdings müssten die Aktivitäten eigentlich schon früher ansetzen – nämlich im Elternhaus und in der Schule. In technisch orientierten Unternehmen kommen Absolventen der Natur- und Ingenieurwissenschaften natürlich schneller in Führungspositionen. Mehr als die Hälfte der Führungskräfte sind Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Und diese Fächer studieren die Frauen nach wie vor selten, obwohl sie es von der Begabung her könnten. Daher sollten Elternhaus und Schule stärker technische und naturwissenschaftliche Interessen wecken und die Sicherheit vermitteln: „Ihr schafft das auch!“.

Forschung zum Thema
Über einen Zeitraum von neun Jahren befragte ein Forschungsteam der Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit anderen Hochschulen, zum Beispiel den TUs München, Bochum, Rostock, Berlin und Leipzig, rund 1.100 Absolventen der Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Betriebswirtschaftslehre zu ihrer Karriere. Die Münchner Wertestudie gehört zu den bislang umfangreichsten Langzeitstudien zum beruflichen Werdegang und die Karrieremotive von Hochschulabsolventen (Literaturtipp).


Interview: Bettina Geuenich

Literaturtipps

Von der Hochschule in den Beruf.
Von Lutz von Rosenstiel, Friedemann W. Nerdinger und Erika Spieß
Verlag für Angewandte Psychologie 1998.

Grundlagen der Organisationspsychologie. Basiswissen und Anwendungshinweise.
Von Lutz von Rosenstiel
6. Aufl., Schäffer- Poeschel 2007.


Quelle: personal manager 3/2008