Das Gehirn ist unser zentrales Lernorgan. Dort laufen Reize, also Informationen aus dem Körper und der Umwelt, zusammen. Die Aufgabe des Gehirns ist es, diese Informationen zu verarbeiten und Reaktionen auszulösen. Dazu finden komplexe elektrische und chemische Prozesse statt. Unsere Nervenzellen, die Neuronen, sind genau darauf spezialisiert. 

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Foto von Sigmund

Die Verarbeitung funktioniert in mehreren Schritten entlang ihres Aufbaus:

1. Die „Eingangskabel“, die sogenannten Dendriten, übertragen Reize auf den Zellkörper der Neuronen. Die Weiterleitung innerhalb des Neurons erfolgt elektrisch.

2. Der Zellkern verarbeitet diese eigehende Information und erzeugt dann, wenn der Reiz stark genug ist, Ausgangssignale, die über ein oft weit verzweigtes „Ausgangskabel“, das Axon, weitergeleitet werden. Man spricht davon, dass das Neuron „feuert“.

3. Am Ende des Axons stellt eine besondere Struktur, die Synapse, den Kontakt zu anderen Neuronen her. Zwischen den Neuronen erfolgt die Weiterleitung chemisch.

4. Je stärker die Erregung, das Ausgangssignal, im Axon, desto mehr Moleküle eines Überträgerstoffes, eines Neurotransmitters, schüttet die Synapse aus.

5. Der Neurotransmitter wandert zur Zielzelle. Immer wenn diese dort ankommenden Eingangssignale einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, erfolgt eine Übertragung. Bleibt die Eingangserregung unter der Grenze, reagiert die angepeilte Zelle nicht. 

Nach dem Hebb`schen Gesetz „What fires together, wires together“ verstärken häufig erregte, also häufig „genutzte“ Verbindungen zwischen zwei Nervenzellen diese Verbindung. Die Verknüpfung zwischen zwei Nervenzellen wird abgeschwächt oder ganz gelöst, wenn die Verbindung nicht oder nur selten benutzt wird.

Ableitung 3: An Bekanntes anknüpfen
Um die Bereitschaft für das Lernen von Neuem zu schaffen, sorgen Sie für aufmerksame bewusste Auseinandersetzung mit den neuen Inhalten und bieten Sie logische Verknüpfungen mit bestehendem Wissen, Bekanntem oder Wertgeschätztem an.

Welcher Aspekt der neuen Strategie trägt zum bestehenden Verständnis meiner Rolle als Dienstleister bei? Welche meiner Kompetenzen kann ich in die neue Struktur einbringen? Wenn wir an Bestehendes anknüpfen und Sinn vermitteln, erleichtern wir dem Gehirn die Regelbildung, wir reduzieren Angst und fördern die Bereitschaft, etwas auszuprobieren und damit den Weg des Lernens über Wiederholungen zu beschreiten.

Wenn wir eine bewusste Auseinandersetzung mit der Neuerung fördern und Begeisterung für das neue Thema schüren möchten, benötigen wir Zeit. Natürlich setzen wir Zeit als kostbarste Ressource möglichst sparsam ein. Da scheint es naheliegend, über den Einsatz von hierarchischem Druck neues Verhalten zu erzwingen und den Veränderungsprozess zu beschleunigen.

Doch: Druck und Stress erzeugen genau das, wovon die Bezeichnung „Stress“ ihren Namen hat: Stress, vom Lateinischen „stringere“ („einschnüren, einengen“) engt unsere Handlungsoptionen ein. Unter Druck schaltet das Gehirn auf schon überprüfte und getestete Strategien zurück. Diese werden von neuronalen Netzwerken gesteuert, die bisher häufig verwendet wurden und sich daher „bewährt“ haben, also bereits starke Verknüpfungen haben. Neues, noch wenig „Getestetes“, also nur schwach neuronal verknüpftes Verhalten, kommt damit natürlich nicht zum Einsatz: Die tatsächliche Veränderungsbereitschaft oder auch Lernfähigkeit steigt unter diesen Bedingungen nicht.

Ableitung 4: Bedenken thematisieren
Greifen Sie bestehende Sorgen bezogen auf Veränderungsprozesse auf und setzen Sie sich damit auseinander.

Denn so wecken Sie Aufmerksamkeit für die Neuerungen und die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen (siehe Ableitung 3). Erliegen Sie nicht der Verlockung, die Sorgen der Mitarbeiter weiter zu schüren und zu instrumentalisieren, um Veränderung zu erzwingen: Den damit verbundenen scheinbaren Erfolgen liegt keinerlei wirkliches, nachhaltiges Lernen zugrunde.

Fazit
Die Funktionsweise unseres Gehirns steuert unsere Fähigkeit, Neues anzunehmen und umzusetzen. Wer Veränderungen „gehirngerecht“ einführt, steigert somit seine Chancen, dass diese im Unternehmen wirklich greifen.

Ein paar Ableitungen machen aus dem Managen von Veränderung noch kein Kinderspiel. Aber Sie investieren Ihre Energie damit gezielter und Sie wissen ja jetzt: Freude an den sichtbaren Erfolgen lässt Sie diesen neuen Führungsstil schneller lernen! 

Natürlich können Vorgesetzte Mitarbeiter mit Druck oder dem Schüren von Ängsten dazu bringen, sich situativ kurzfristig so zu verhalten, wie sie das wünschen. Im Gehirn dieser Mitarbeiter verändert sich dabei jedoch nichts: Sobald die unmittelbare Bedrohung aus dem Blickfeld verschwunden ist, wird unter dem anhaltenden Stress weiter auf das bewährte Verhaltensmuster zurückgegriffen, also bestehende neuronale Verknüpfungen durch Wiederholung sogar noch weiter verstärkt.


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Quelle: personal manager – Zeitschrift für Human Resources | Ausgabe 4  Juli/ August 2016.

Ableitung 1: Wiederholungen
Wenn jemand etwas Neues lernen soll, sorgen Sie dafür, dass es zu möglichst vielen Wiederholungen dieses neuen Verhaltens kommt:

Sie haben Prozesse geändert, qualitätssichernde Arbeitsschritte in der Produktion eingeführt, den Umgang mit den Kunden im Sinn einer neuen Dienstleistungsstrategie modifiziert oder ein neues Ablage- oder Dokumentationssystem angestoßen? Unabhängig davon, worin das Neue besteht, jede Vorgehensweise muss konsequent eingesetzt und geübt werden, neues Wissen immer wieder angewandt werden. Untersuchungen zeigen, dass selbst ein gedankliches Durchspielen bestimmter Verhaltensabläufe die entsprechenden Nervenbahnen aktiviert und so zur Neuroplastizität beiträgt, also zur Neubildung und Verstärkung dieser neuronalen Verknüpfungen.

Beseitigen Sie also von Beginn an gezielt behindernde Rahmenbedingungen, schaffen Sie Gelegenheiten und Erleichterungen, genau das tatsächlich anzuwenden, was Sie als neue Vorgehensweise von Ihren Mitarbeitern erwarten. Stellen Sie sicher, dass die Mitarbeiter die Neuerung fachlich umsetzen können. Unterstützen und verstärken Sie bewusst jeden Ansatz dieses Verhaltens, und achten Sie konsequent darauf, dass die „alte“ Vorgehensweise nicht mehr möglich oder sofort gestoppt wird, also neuronal „ent-lernt“ wird.

Bestimmte biochemische Bedingungen begünstigen das Lernen zusätzlich: Die Neurotransmitter Dopamin, das das Belohnungssystem und positive emotionale Prozesse steuert, oder Serotonin, das für Stimmungskontrolle und Angstreduktion zuständig ist, begünstigen die Neuroplastizität.

Alles, was Spannung auflöst, Angst reduziert, eine positive Stimulation darstellt, Begeisterung und positive Emotion auslöst, wirkt somit wie „Dünger“ auf die Verknüpfung der Nervenbahnen und fördern so das Lernen zusätzlich.

Ableitung 2: Angstfreie Umgebung
Stellen Sie, wo immer es möglich ist, sicher, dass das, was an Neuem gelernt werden soll, in positiver, angstfreier Umgebung und mit Freude und Begeisterung geübt und ausprobiert werden kann.

Begeisterung lässt sich am besten über Vorbildwirkung vermitteln, das limbische System spielt hier eine entscheidende Rolle: Zeigen Sie, dass Sie von den neuen Vorgehensweisen selber überzeugt sind, vermitteln Sie Ihre eigene Überzeugung, indem Sie selbst den neuen Vorgaben nachvollziehbar und mit positiver Energie folgen, machen Sie Ihre Freude an ersten Erfolgen sichtbar, stecken Sie andere damit an. Unterstützen Sie die emotionalen, informellen Sprecher Ihres Teams, als Erste ebenfalls als Vorbild wirksam zu werden.

Soweit zu dem, was uns unterstützt, wenn wir selbst oder mit unserem Team Veränderung anstreben und Neues lernen möchten: Wiederholungen in emotional positivem Umfeld.

Aber genau dieses „Sich verändern wollen“ ist es ja, von dem wir im Alltag bei Weitem nicht immer ausgehen können. Welche Vorgehensweise legt die Funktionalität unseres Gehirns hier nahe?

Um der Menge an Informationen und deren Komplexität zu begegnen, muss das Gehirn nach dem Prinzip der Vereinfachung arbeiten, indem es aus der Fülle der Reize allgemeingültige Regeln ableitet und Uneindeutigkeiten, also kognitive Dissonanzen, vermeidet. Regelbildung vermittelt Sicherheit und somit eine biochemische Situation, die Neuroplastizität begünstigt.