Als ihn ein Arbeitsangebot aus Stromland erreicht, zaudert Sven zunächst, den Auftrag überhaupt anzunehmen. Doch einmal im Land der unbegrenzten Möglichkeiten angekommen, ist er sofort Feuer und Flamme. Mit der Magnetschwebebahn rasen die Menschen in irrwitzigem Tempo durch das Land. Stromländische Stärke und Innovationskraft blitzen in dem elektronischen Superauto „eCoupé” auf, das bei Sonnenschein auch mit Solarstrom betrieben werden kann. Die „intelligenten Beobachtung”, eine gesundheitliche Rundumbewachung, zeichnet die Tätigkeiten von Patienten auf. Das System revolutioniert das Gesundheitswesen, indem es dem Arzt eine Ferndiagnose erlaubt, die psychische Störungen und deren Ursachen enthält. Der Albtraum jedes Datenschützers lockt in dieser Welt nur die ewigen Nörgler hinter dem Ofen hervor, denn technische Aufzeichnungsmöglichkeiten lassen sich auf Wunsch der Nutzer einfach abschalten. Ähnlich unproblematisch verhält es sich mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Wer Bedenken in sich trägt und das nötige Kleingeld hat, kann sich aus einem vollautomatischen Backautomat ebenso biologisch ernähren.

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Foto von John Schnobrich

Die revolutionäre Innovationskraft von Stromland nimmt ihren Ausgang in einer neuen Organisation der Schulausbildung. Die stromländischen Kinder kommen bereits mit vier Jahren zur Schule und lernen von Anfang an mehrere Sprachen. Der Staat garantiert den Eltern eine Ganztagsversorgung der Kinder, was bereits zu einer deutlichen Steigerung der Geburtenzahlen geführt hat. Staatliche Großzügigkeit gesellt sich in Stromland zur Eigenverantwortlichkeit seiner Bürger. So ist die geringe Arbeitslosigkeit auf das Engagement der Menschen zurückzuführen: Sie schrecken nicht davor zurück, sich selbständig zu machen und sich flexibel auf neue Anforderungen der Gesellschaft einzustellen. Sie verhalten sich nach dem Motto: Bringe den nötigen Einigungswillen auf! Vernetze die Innovationen und profitiere von den Wechselwirkungen! „Mein Traum ist die lernende Gesellschaft mit dynamischen Menschen, dynamischen Unternehmen, einem schlanken, dynamischen Staat”, ruft ein alter Schulfreund von Sven, den er nach Jahren wieder trifft, enthusiastisch aus. Diese Forderung setzt der Autor in seinem utopischen Roman konsequent um.

Leider traut Scholtissek bei der Umsetzung seiner Vorstellung eines neuen Deutschlands in Romanform dem Leser zu wenig zu. Allein positives Denken genügt wohl kaum, um eine Gesellschaft zu verändern. Der Wunsch, Erfindungen wie die Magnetschwebebahn oder das Mautsystem nicht immer klein zu reden, ist durchaus nachvollziehbar. Der Autor thematisiert zweifellos wichtige Innovationen und führt dem Leser vor Augen, wie Umsetzungskreativität in der Praxis aussehen kann. Und dennoch bleiben Stromland und seine Menschen stereotyp und leblos. So einfach wie im Familienleben von Sven geht es in der Realität höchstens im deutschen Fernsehen zu. Mitreißend wirkt dieser Strom wohl kaum. Vielleicht wäre Scholtissek besser damit beraten, zur Verbreitung seiner Ideen beim Sachbuch zu bleiben.

Zum Autor:

Wenn Stephan Scholtissek, Jahrgang 1959, keine Bücher schreibt, ist er für den Management-, Technologie- und Outsourcing-Dienstleisters Accenture als Sprecher der deutschen Geschäftsführung tätig.

Scholtissek ist promovierter Biochemiker. Nach dem Studium steigt er beim Medizintechnologieunternehmen Dräger ein und wechselt danach in die Unternehmensberatung. Er geht zunächst zu AT Kearney, später zu Bain & Company und schließlich zu Accenture. Was ihn besonders umtreibt, ist das Thema Innovation am Standort Deutschland. Denn dazu hat er seine ganz eigene Meinung: Das von der Bundesregierung ausgerufene „Jahr der Innovation” (2004) war ihm ein Gräuel, weil Innovation für Scholtissek Erfindung plus Markterfolg ist – und solche Prozesse deutlich länger dauern als nur ein Jahr. Er glaubt auch nicht, dass es in Deutschland an Ideen mangelt. Stattdessen fehle vielfach eine konsequente Umsetzung in Produkte und Dienstleistungen.

Nach zwei Sachbüchern zum Thema Innovation und Outsourcing – „Die dritte Revolution der Wertschöpfung? Mit Co-Kompetenzen zum Unternehmenserfolg” (2004) und „New Outsourcing – Die dritte Revolution der Wertschöpfung in der Praxis” (2005) – hat er mit „Stromland” seinen ersten Roman geschrieben.

Informationen zu dem Buch unter: www.ich-bin-ein-stromlaender.de