Vielleicht hat es eines so gewaltigen Moments wie der Wirtschafts- und Finanzkrise bedurft, um dem systemischen Blick und der systemischen Weltanschauung zum Durchbruch zu verhelfen. Aber leider besteht kein Grund zu altklugem Jubel. Alle, die sich auch nur etwas mit der systemischen Theorie beschäftigt haben, ihren Watzlawick, Maturana oder Luhmann gelesen haben, erkennen sofort: Die wenigsten, die jetzt das Wort „systemisch“ in den Mund nehmen, wissen überhaupt was sie sagen.

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Foto von Adolfo Félix

Andere ahnen nicht, was sie schreiben. Nur so ist es zu erklären, dass man in der Frankfurter Rundschau von „systemisch unzufriedenen Bundesbürgern“ lesen konnte während die FAZ die Angst vor einer „systemischen Krise“ beschwor. Sind wir nicht alle ein bisschen systemisch? Nein, bestimmt nicht. Zumindest nicht, wenn wir Bundeskanzlerin Angela Merkel Glauben schenken. Sie hat ja deutlich festgestellt, dass Opel kein systemisches Unternehmen sei. Die Erklärung, was denn ein systemisches Unternehmen auszeichnet und wer das bestimmen kann, blieb sie allerdings schuldig …

Schreckliche Kakophonie

Im Blätterwald, in den Medien und Diskussionen geht einiges durcheinander. Nicht nur weil manche verkürzt „systemisch“ sagen, wenn sie „systemisch relevant“ sagen wollen. Weil keiner so genau weiß, von welchem System man redet, wer es beobachtet und wer bestimmt, wer oder was diesem System oder diesen Systemen angehört oder angehören darf, ist so gut wie alles mehr oder wenig systemisch (das Wort „unsystemisch“ wartet noch auf seinen Mentor des öffentlichen Diskurses). Eine schreckliche Kakophonie.

Vor wenigen Monaten noch musste man aufpassen, dass der Terminus „systemisch“ beim Korrigieren nicht von Dritten in „systematisch“ geändert wurde. Andererseits war das Wort auch ein Etikett: Wer systemisch arbeitete, konnte zumeist unausgesprochen für sich in Anspruch nehmen, kritischer, reflektierter und oft auch flexibler an Beratungs-, Entwicklungs- und Trainingsaufgaben heranzugehen. Vielleicht deswegen haftete den „Systemikern“ immer auch das Flair des Esoterischen an.

Jetzt, da das Wort „systemisch“ etwa genauso oft und genauso gedankenlos benutzt wird wie das Wort „esoterisch“, verliert es an Provokationspotenzial, an Schärfe und leider auch an Aussagekraft. Es nutzt sich ab. Das tut weh, denn wir haben es so lieb gewonnen.

Man kann keine Zertifizierung oder Akkreditierung für Wortbenutzer einführen. Aber was bleibt stattdessen? Wer systemisch denkt und arbeitet, also über das althergebrachte Ursache- Wirkungsschema hinausgeht, muss in Zukunft präziser formulieren und seine Methoden, Instrumente und Ziele genauer und schärfer beschreiben, wenn er nicht als Nebelwerfer und Schwadronierer erscheinen möchte. „Wir machen das systemisch“ reicht nicht mehr.

Wenn das stimmt und sich alle daran halten, dürften wir uns über leichter evaluierbare Arbeit und vorzeigbare Ergebnisse der systemischen Berater, Coaches und Trainer freuen. Und dann hätte der unsachgemäße Gebrauch des kleinen Wortes „systemisch“ durch diesen und jenen ja auch wieder etwas Gutes bewirkt. Wäre doch schön.

Quelle: PERSONAL – Heft 11/2009