1. Faustregel: Für Arbeitnehmer gibt es kaum eine Konstellation, in der eine solche Anfechtung nicht sinnvoll ist. Warum?

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Foto von Domenico Loia

• Sie zahlen keine Gerichtsgebühr.

• Sie müssen keinen Kostenersatz leisten, wenn der Prozess verloren geht.

• Sie haben häufig Rechtsschutz durch die Arbeiterkammer, also eine kostenlose Vertretung vor Gericht. Im Übrigen gibt es keinen Anwaltszwang.

• Die Anfechtungsklage bringt wenig Aufwand mit sich.

• Aus Sicht der Arbeitgeberin ist das Verfahren vor allem ein lästiges Ärgernis.

• Geschätzte 90 Prozent der Anfechtungsverfahren enden per Vergleich. Im Rahmen dessen erkämpft der Arbeitnehmer eine Abgangsentschädigung. Eine Art “Abschiedsbonus” also.

2. Faustregel: Arbeitnehmer wissen das in aller Regel, kennen also Faustregel Nr. 1 und agieren dementsprechend.

Deshalb fechten auch zahlreiche Arbeitnehmer ihre Kündigung an, die nicht einmal selbst ernsthaft mit einem Prozesserfolg rechnen (ein wichtiger Unterschied zu anderen Konfliktsituationen!). Vielmehr wissen sie, dass sie schnell wieder eine gut bezahlte Stelle finden und dass das Gericht und der Sachverständige das auch so sehen werden.

Grund für die Anfechtung trotz schlechter Prozessaussichten sind die beschriebenen geringen Kosten und Risiken und die hohe Wahrscheinlichkeit, eine Abgangsentschädigung zu lukrieren. Deshalb ist dieser Schritt – aus Sicht der Arbeitnehmerin – rational, strategisch nachvollziehbar und verständlich.

3. Faustregel: Arbeitgeberinnen beachten dies hingegen häufig nicht, arbeiten also weder mit Faustregel Nr. 1 noch mit Faustregel Nr. 2.

Deshalb lassen sie sich von der Klagsführung (Anfechtung) oft mehr beeindrucken als nötig und möchten das Verfahren so schnell wie möglich beenden. Raus aus dem Gerichtssaal, koste es was es wolle. Hohe Vergleichszahlungen werden als unabwendbar gesehen und in Kauf genommen.

4. Faustregel: Wer sich als Arbeitgeberin der Faustregeln Nr. 1 und Nr. 2 bewusst ist, fährt besser.

Denn eine solche Arbeitgeberin bleibt unbeeindruckt, sieht die Anfechtung als logischen Schachzug des Arbeitnehmers, nimmt diesen nicht persönlich, geht niedriger in Vergleichsverhandlungen und steigt am Ende günstiger aus als selbst vermutet.

5. Faustregel: Wenn das Ziel der Anfechtung eine Abgangsentschädigung ist, dann hat der Arbeitnehmer in der Regel keinen langen Atem.

Will der Arbeitnehmer den Job gar nicht behalten, sondern ist von Beginn an auf einen günstigen Vergleich und einen “Abschiedsbonus” aus, dann sinkt mit zunehmender Verfahrensdauer seine Schmerzgrenze. Der Grund ist häufig die neue Arbeitsstelle. Und außerdem: Lieber einen Spatz auf der Hand als eine Taube auf dem Dach.

6. Faustregel: Die Arbeitgeberin sollte nach Möglichkeit gleich zu Beginn erkennen, um welche Art von Anfechtung es sich handelt.

Sie muss beurteilen, ob es sich um eine erfolgversprechende Anfechtung handelt, die auch wirklich den Joberhalt (also die Unwirksamkeit der Kündigung) zum Ziel hat und die schnell per Vergleich aus der Welt geschafft werden sollte, oder ob es sich um eine Anfechtung handelt, an deren Berechtigung nicht einmal die anfechtende Arbeitnehmerin selbst glaubt und mit der – von Beginn an – eine Abgangsentschädigung erkämpft werden soll. Natürlich gibt es hier nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Graustufen.

Aber wie mache ich das? Wie unterscheide ich zwischen diesen beiden Erscheinungsformen einer Kündigungsanfechtung?

• Die bloße Tatsache, dass angefochten wurde, hat dafür in aller Regel keinerlei Indizwirkung – anders als in anderen Konstellationen, in denen ein Kläger vor Gericht mehr zu verlieren hat.

• Und selbstverständlich sind die Jobchancen der gekündigten Arbeitnehmerin in rechtlicher Hinsicht das alles entscheidende Kriterium. Das ist juristisches Handwerk und nichts Neues.

Aber diese Jobchancen werden häufig erst durch das Sachverständigengutachten sichtbar, das am Beginn des Verfahrens ja noch nicht vorliegt. Davor lässt sich nur mutmaßen, zu welchen Schlüssen der Sachverständige ausgehend von der Biographie der Arbeitnehmerin kommen wird.

Daher folgende letzte Faustregel:

7. Faustregel: Wenn der Arbeitnehmer gleich in der ersten Tagsatzung ein Vergleichsangebot in den Raum stellt, dann sollte der Arbeitgeber zuwarten. Die Summe wird noch sinken. Sagt der Arbeitnehmer hingegen, dass er seinen Job wieder brauche, weil er nichts Vergleichbares mehr finde, und dass er an einer Abgangsentschädigung deshalb nicht interessiert sei, dann heißt es für den Arbeitgeber hingegen „Vorsicht“: Ein Vergleich ist sinnvoll. Denn der Arbeitnehmer schätzt seine Prozesschancen offenbar tatsächlich als gut ein und spekuliert auf die Unwirksamkeit der Kündigung. Die Faustregeln 1, 2 und 5 sind nicht einschlägig.

Bitte vergessen Sie nicht: Das sind Faustregeln. Nicht mehr, nicht weniger. Sie fahren als Arbeitgeberin besser, wenn Sie diese Faustregeln kennen. Aber dennoch müssen Sie dann den Einzelfall gesondert beurteilen, um einschätzen zu können, zu welchen Konditionen es sinnvoll ist, eine Kündigungsanfechtung per Vergleich aus der Welt zu schaffen.