Ein Plädoyer für mehr Offenheit – ohne negative Konsequenzen

Es ist unzulässig, beim Bewerbungsgespräch die Frage nach einer Schwerbehinderung zu stellen. Leichter ist es, Einschränkungen zu thematisieren, wenn sie offensichtlich vorliegen. Tatsächlich sind jedoch viele mögliche Schwerbehinderungen nicht sofort ersichtlich. Schwerbehinderungen, wie man sie noch nach dem Krieg oder nach Unfällen durch körperliche Versehrtheit erkennen konnte, werden heute mehrheitlich durch Folgen schwerer Krankheit ausgelöst. Dem BAG 16.02.2012, Az 6 AZR 553/10 zufolge kann man diese Frage erst stellen, wenn das Arbeitsverhältnis sechs Monate bestand.

Auf der anderen Seite besteht für Arbeitgeber eine Auflage, die „Behindertenquote“ einzuhalten. Wie soll er diese jedoch ermitteln, wenn er eingangs nicht danach fragen darf – und ohnehin der Kandidat dazu auch schweigen dürfte?

Gründe für das Schweigen

Was hält Arbeitnehmer und Arbeitgeber davon ab, von Behinderungen zu sprechen? Für den Arbeitnehmer ist die Sachlage häufig klar: „Er hat grundsätzlich Angst, und das leider durchaus zu Recht, durch eine klare Aussage, gleich am Anfang „aussortiert“ zu werden. Außerdem scheinen die Hemmungen und Vorurteile bei „unsichtbaren“ Behinderungen durch Krankheitsfolge höher zu sein, als die Bereitschaft, interessiert und offen auf jemanden zuzugehen, wenn derjenige offensichtlich „nur“ im Rollstuhl sitzt.

Manchen Betroffenen fällt es einfach leichter, in der „Masse zu verschwinden“, als sich zu outen, zu erklären, Fakten immer wieder richtig zu stellen, selbst „gutgemeinten“ Frotzeleien zu entgehen, Vorurteilen zu begegnen, sie zu entkräften, dagegen anzuarbeiten etc. Außerdem ist dies auch ein Weg für Betroffene, die eigene Einschränkung nicht in das Zentrum des Lebens zu stellen.

people gathering inside the building
Foto von Evangeline Shaw

Outen oder Nicht-Outen?

Hier kommt es vor allem darauf an, dass für die Weiterentwicklung des Bewerbungs- und Unternehmensklimas in Deutschland noch viel „Luft nach oben“ besteht. Zusätzlich ist viel Verantwortungsgefühl und Reife auf beiden Seiten gefragt, um eine echte Entscheidung zur Einstellung/zum Outing treffen oder eben nicht - und dazu stehen. Je selbstverständlicher man mit Behinderungen umgeht, gute Beispiele bieten da die USA und die nordeuropäischen Länder, umso weniger Befürchtungen, Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen auf beiden Seiten, umso selbstverständlicher und konstruktiver wird das Miteinander.

Sicherlich ist Offenheit seitens der Bewerber von Anfang an die bessere und auch rechtlich eindeutigere Lösung. Denn sie signalisiert dem Arbeitgeber: Hier ist jemand, der kann mit seiner Situation kompetent und professionell umgehen. Mit ihm habe ich einen verantwortungsvollen potenziellen Arbeitnehmer vor mir, mit dem eine llösungsorientierte und nüchterne Zusammearbeit möglich ist. Dieser Arbeitnehmer ist das, was ich erwarte: ein Spezialist auf seinem Fachgebiet – und auf dem Gebiet des konstruktiven Umgangs mit seiner Behinderung. Hier nämlich liegt die große Chance, wie sie in unserem Newsletterleitartikel formuliert wird: In der Überwindung der Einschränkung liegen auch Vorteile, die allen zugutekommen – zusätzlich zur fachlichen Qualifikation.

Fazit

Zum Thema Behinderung kann der Arbeitgeber zwar den Arbeitnehmer keine diesbezüglichen Fragen stellen – er kann jedoch signalisieren, wie offen die Firma mit unterschiedlichen Mentalitäten, Arbeitsbedingungen etc. umgeht, was wiederum zu größerer Offenheit des Bewerbers beitragen kann. Das Vertrauen dazu muss auf beiden Seiten wachsen. Das AGG ist ein wichtiger Impuls, über diese Wechselwirkungen nachzudenken – und diese Entwicklung anzustoßen und weiterzuführen. Dann könnten auch irgendwann die Quote und das AGG der Vergangenheit angehören.

Quellen:
Lesen Sie hierzu den aktuellen, ausführlichen Artikel von Alexander Zumkeller, des Vorsitzenden des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU):
https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/arbeitsrecht-reformen-im-schwerbehindertenrecht-noetig_76_413556.html?ecmId=21778&ecmUid=3873547&chorid=00511427&newsletter=news%2FPortal-Newsletter%2FPersonal%2F50%2F00511427%2F2017-06-01%2F

http://www.xing-news.com/reader/news/articles/718492?link_position=digest&newsletter_id=22064&toolbar=true&xng_share_origin=email

Schwerbehinderung – ein Verwaltungsakt

Was seit dem 1. Juli 2001 im zweiten Teil des SGB IX durch „Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“ festgeschrieben ist – bildet die rechtliche Basis für das sogen. Schwerbehindertenrecht. „Schwerbehinderte“ sind Personen, deren „körperliche, geistige oder seelische Behinderung §2 Abs. 2 SGB IX zufolge mindestens 50 Grad der Behinderung (GdB) beträgt – festgestellt durch Antrag des Betroffenen durch zuständige Behörden (z.B. Versorgungsamt).

Die Einteilung begründet auch Rechtsansprüche auf Nachteilsausgleiche, darunter auch besondere Regelungen zum Kündigungsschutz. Eigentlich ein guter Grund für Arbeitgeber, von diesen Beeinträchtigungen zu erfahren. Doch wer will – Betroffener oder nicht – auf dem (Schwerbehinderten-)Ausweis gerne lesen: „G“ (erheblich gehbehindert), „aG“ (außergewöhnlich gehbehindert), „B“ (auf der Vorderseite des Schwerbehindertenausweises steht „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen.“), „H“ (hilflos), „BL“ (blind), „RF“, „GL“ (gehörlos). Die Feststellung von Schwerbehinderung kann daher für Betroffene – und zuweilen auch für engagierte Firmen – leider zu einem echten Verwaltungsakt werden.

Verzicht auf Sonderregelungen – zugunsten der Unscheinbarkeit

Betroffene zahlen einen hohen Preis, sich nicht zu „outen“. Sie verzichten u.U. auf fünf Tage Sonderurlaub. Sie verzichten auf Hilfsmittel. Sie müssen bei möglicherweise schwierigeren Ausgangsvoraussetzungen gleiche Leistung erbringen – ohne Hoffnung auf Verständnis oder Hilfe von Kollegen. Im Nachhinein mit einer Behinderung zu argumentieren, ist kontraproduktiv. Das Nichteingestehen von körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen erfordert im Gegenzug Arbeit, Einsatz, Disziplin und Leistung und muss bewusst getroffen werden, denn der Arbeitnehmer schuldet eine bestimmte Leistung ohne Wenn und Aber.

Unterschiede in der Beurteilung nach dem Outen?

Solange der Arbeitnehmer nachweislich die erforderliche Leistung erbringt, muss seine Behinderung auch kein Thema sein. Außerdem haben beeinträchtigte Arbeitnehmer häufig die Erfahrung gemacht, dass sie ohne „Outing“ u.U. relativ un(be/ge)hindert Ihrer Arbeit nachkommen können – mit guten Ergebnissen und entsprechender Anerkennung der Leistung – diese Leistungserbringung jedoch in dem Moment durch Argwohn, übermäßige Kontrolle, Misstrauen, falsche Rücksichtnahme, Schonung und u.U. Neid der Mitarbeiter auf angebliche „Vorzugsbehandlung“ etc. gestört wird (und die Angst vor schlechterer Leistung der Arbeitgeber dann plötzlich „belegt“ zu sein scheint), sobald die Behinderung bekannt wird.

Auf der anderen Seite kann es jedoch auch immer wieder zu einer gesundheitlichen Verschlechterung kommen – was sagt der Arbeitnehmer dann? Dann nämlich ist er u.U. gezwungen, doch über bestimmte gesundheitliche Sachverhalte zu reden – und der Arbeitgeber kann sich – zu Recht – hintergangen fühlen. Doch können auch nicht behinderte Arbeitnehmer mit unerwarteten schweren Krankheiten und Unfällen konfrontieren - also macht auch hier eine Behinderung keinen wirklichen Unterschied.