Urteilsbesprechung BGE 4A_223/2010 vom 12. Juli 2010

selective focus photography of people sits in front of table inside room
Foto von Annie Spratt

Sachverhalt und Entscheidbegründung

Der Mitarbeiter arbeitete seit mehreren Jahren als Küchenplaner und -verkäufer bei der Arbeitgeberin. Gemäss Arbeitsvertrag aus dem Jahre 2001 stand ihm eine Umsatzprovision von 1,5 Prozent zu. Ab dem Jahre 2004 wurde ihm diese nur noch zu einem reduzierten Satz von 0,7 Prozent ausbezahlt. Zuvor war ihm ein Entwurf eines neuen Arbeitsvertrages vorgesetzt worden und man hatte ihm mündlich mitgeteilt, dass er fortan an einem neuen Ort zu arbeiten habe und seine Provision reduziert würde. Man forderte ihn auf, den Vertrag zu unterzeichnen, alternativ stellte man ihm die Kündigung in Aussicht. Der Arbeitnehmer unterzeichnete den Entwurf des neuen Arbeitsvertrages nicht, protestierte aber auch nicht ausdrücklich gegen die neue Regelung und bezog in der Folge die reduzierte Provision von 0,7 Prozent bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Jahre 2007.

Das Bundesgericht wies die Klage des Arbeitnehmers auf Nachzahlung der Restprovision ab. Dabei stellte es in der Entscheidbegründung fest, dass Stillschweigen zwar grundsätzlich nicht als Annahme gilt, wenn ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Antrag auf Lohnkürzung unterbreitet. Gemäss Art. 6 OR ist allerdings von einer stillschweigenden Annahme des Antrags auszugehen, wenn nach den Umständen eine ausdrückliche Annahme nicht zu erwarten ist und der Antrag nicht binnen angemessener Frist abgelehnt wird. Solche Umstände liegen insbesondere dann vor, wenn für den Arbeitnehmer erkennbar ist, dass der Arbeitgeber von seinem stillschweigenden Einverständnis ausgeht. Dies ist der Fall, wenn der Arbeitgeber andernfalls bestimmte Massnahmen, namentlich die Entlassung, veranlassen würde. Konkret gilt nach Lehre und Rechtssprechung bei vorbehaltloser Annahme des gekürzten Lohnes während drei Monaten eine tatsächliche Vermutung für eine stillschweigende Zustimmung zur Lohnkürzung. Diese Vermutung kann der Arbeitnehmer allerdings umstossen, wenn er besondere Umstände nachweist, nach denen der Arbeitgeber trotz des langen Schweigens des Arbeitnehmers nicht auf dessen Zustimmung zur Reduktion schliessen durfte.

Bemerkungen

Ein Einzelarbeitsvertrag kann unter den Parteien formlos, sprich ohne schriftliche Vereinbarung, abgeschlossen werden. Somit lässt sich ein Arbeitsverhältnis auf mündlicher Vereinbarung begründen und auch durch mündliche Vereinbarung und/oder konkludentes Verhalten abändern. Konsequenz dieser Formfreiheit im Arbeitsrecht ist, dass das „gelebte Recht“ unter Umständen vertragliche Regelungen aus den Angeln heben kann. Dies gilt auch dort, wo ein schriftlicher Arbeitsvertrag vorbesteht und gemäss Bundesgericht sogar, wenn dieser einen Schriftlichkeitsvorbehalt enthält. Es lässt in seinem Entscheid offen, ob der Vorlage eines Vertragsentwurfs im Doppel durch den Arbeitgeber die Bedeutung eines Schriftvorbehalts beigemessen werden könne. Die Umsetzung des geänderten Vertrages über eine längere Zeit ohne Protest des Arbeitnehmers sieht es bereits als einen stillschweigenden Verzicht auf die Schriftform.

Diese Betrachtungsweise deckt sich mit dem in der Praxis Gelebten. So werden beispielsweise Lohnerhöhungen häufig faktisch gewährt, ohne dass die Parteien (selbst bei Schriftlichkeitsvorbehalt im Vertrag) jedes Mal eine schriftliche Vereinbarung darüber abschliessen würden. Ein auf den Schriftlichkeitsvorbehalt gestützter Rückforderungsanspruch des Arbeitgebers besteht hier natürlich nicht. Es ist nicht einzusehen, wieso im umgekehrten Fall mit anderen Ellen gemessen werden soll.

An diesem Ergebnis ändert gemäss Bundesgericht auch die Androhung der Kündigung für den Fall der Ablehnung des neuen Vorschlags durch den Arbeitnehmer nichts. Zwar hat diese Ankündigung den Mitarbeiter im konkreten Fall wohl unter Druck gesetzt und vom Protest gegen die neue Regelung abgehalten. Das Bundesgericht geht aber mit der Vorinstanz davon aus, der Arbeitnehmer wäre trotz der befürchteten Kündigung nach Treu und Glauben gehalten gewesen, gegen die Provisionsreduktion zu protestieren, wenn er auf der ursprünglichen Regelung hätte beharren wollen. Weil er dies nicht getan habe, habe die Arbeitgeberin auf seine konkludente Zustimmung vertrauen dürfen.

Diese Betrachtungsweise ist nichts anderes als eine konsequente Umsetzung der im Arbeitsvertragsrecht geltenden Kündigungsfreiheit. Sofern ein Arbeitgeber keine missbräuchliche Motivation hat, darf er das Arbeitsverhältnis zum Arbeitnehmer (selbstverständlich unter Wahrung der Formen und Fristen) jederzeit auflösen. Erscheint ihm der Lohn eines Mitarbeiters zu hoch, darf er den Vertrag kündigen, wenn dieser einer Lohnsenkung nicht zustimmt.

In diesem Zusammenhang sei immerhin darauf hingewiesen, dass der den Arbeitgebern mit dem besprochenen Entscheid in die Hand gedrückte Bogen nicht überspannt werden sollte. Insbesondere sollte bedacht werden, dass eine Kündigungsandrohung, die zur Abänderung der vertraglichen Konditionen benutzt wurde, die daraufhin tatsächlich ausgesprochene Kündigung missbräuchlich machen kann. So hat das Bundesgericht eine Änderungskündigung als missbräuchlich qualifiziert, mit der eine für den Arbeitnehmer unbillige (weil nicht betrieblich bzw. marktbedingt begründete) Verschlechterung herbeigeführt werden sollte. (BGE 123 II 246).