BAG, Urteil vom 9. August 2016 – 9 AzR 575/15

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Foto von Adeolu Eletu

Problempunkt

Die Klägerin war seit Juli 2008 als sog. Operatorin bei der Beklagten beschäftigt. Zu ihren Tätigkeiten gehörte u. a. die Arbeit mit potenziell infektiösem Blut und Blutplasma. Anfang 2013 genehmigte die Beklagte der Klägerin im Rahmen ihrer alljährlichen Urlaubsplanung im Zeitraum von Juli 2013 bis Oktober 2013 an insgesamt 17 Tagen Urlaub.

Nachdem die Beklagte im Juni 2013 von der Schwangerschaft der Klägerin erfahren hatte, sprach sie der Klägerin auf Grundlage von § 4 MuSchArbV i. V. m. § 4 MuSchG ein tätigkeitsbezogenes Beschäftigungsverbot aus. Ein anderer Arbeitsplatz (bei dem ein Kontakt mit infektiösem Blut und Blutplasma ausgeschlossen ist) wurde der Klägerin für den Zeitraum der Schwangerschaft nicht zugewiesen. Stattdessen erfolgte der Ausspruch des Beschäftigungsverbots unter Anrechnung der bereits bewilligten 17 Urlaubstage.

Die Klägerin war der Auffassung, die Anrechnung von Urlaubsansprüchen während eines mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbots verstoße gegen § 17 Satz 2 MuSchG. Sie begehrte – nach zwischenzeitlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses – Urlaubsabgeltung für die 17 Tage. Das ArbG Erfurt und das LAG Thüringen gaben der Klage statt und verurteilten die Beklagte zur Abgeltung des Urlaubs.

Entscheidung

Das BAG wies die Revision der Beklagten als unbegründet zurück und bestätigte damit die Entscheidungen der Vorinstanzen.
Der 9. Senat stellte in seiner Entscheidung zunächst klar, dass eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen während eines mutterschutzrechtli- chen Beschäftigungsverbots nicht möglich ist, wenn die geschuldete Tätigkeit wegen des Beschäftigungsverbots nicht erbracht werden kann.

Zur Begründung führte er aus, dass in Zeiten der Freistellung nur dann wirksam Urlaub gewährt werden kann, soweit im geplanten Urlaubszeitraum die Pflicht zur Arbeitsleistung besteht. Dies ist regelmäßig bei gesetzlichen Beschäftigungsverboten nicht der Fall, selbst dann nicht, wenn es sich nur um ein tätigkeitsbezogenes Beschäftigungsverbot handelt.

Für die wirksame Gewährung von Urlaub kommt es nämlich allein darauf an, ob die Arbeitnehmerin während eines Beschäftigungsverbots weiterhin in der Lage ist, der ihr zugewiesenen Tätigkeit nachzukommen. Da die Beklagte der Klägerin keine Ersatztätigkeit zugewiesen hatte, war die Operatorin im Rahmen des (nur) tätigkeitsbezogenen Beschäftigungsverbots von ihrer Arbeitspflicht befreit.

Darüber hinaus verdeutlichte das BAG, dass ein Urlaubsanspruch im Geltungsbereich des MuSchG nicht bereits deshalb untergeht, weil der Arbeitgeber den Urlaub vor Kenntnis von der Schwangerschaft bzw. einem Beschäftigungsverbot festgelegt hatte. Es betonte in diesem Zusammenhang, dass die Regelung des § 17 Satz 2 MuSchG für alle Beschäftigungsverbote des MuSchG gilt. Eine andere Beurteilung widerspräche dem  Normzweck.

Konsequenzen

Darf eine Arbeitnehmerin aufgrund eines Ver- bots nach dem MuSchG nicht beschäftigt wer- den, kann ihr für diese Zeit nicht mit Erfüllungs- wirkung Urlaub gewährt werden. Dies gilt selbst dann, wenn der Urlaub bereits vor Schwanger- schaft bzw. Beschäftigungsverbot in Absprache mit der Arbeitnehmerin festgelegt wurde (anders noch BAG, Urt. v. 9.8.1994 – 9 AZR 384/92). Mit
Blick auf § 17 Satz 2 MuSchG führt dies dazu, dass eine Arbeitnehmerin nach Ablauf der Mut- terschutzfristen bzw. nach Beendigung etwai- ger Elternzeiten bereits genehmigten, wegen Beschäftigungsverbot aber nicht erfüllten Urlaub noch im Anschluss an diese Zeiten nehmen kann. Die Urlaubsansprüche einer schwangeren Beschäftigten sind damit nicht nur vor dem Unter- gang, sondern auch vor dem Verfall geschützt.
§ 17 Satz 2 MuSchG stellt insoweit eine spezial- gesetzliche Ausnahme von § 275 Abs. 1 BGB (Befreiung von einer Verpflichtung wegen Unmöglichkeit der Erfüllungshandlung) und § 7 Abs. 3 BUrlG (Übertragung des Urlaubsanspruchs bis zum 31.3. des Folgejahres) dar.

Praxistipp

Das BAG hatte vorliegend einen relativ kuriosen Fall zu entscheiden. Der Arbeitgeber sprach nämlich seiner schwangeren Mitarbeiterin ein tätigkeitsbezogenes Beschäftigungsverbot aus und verkannte insoweit die Wirkung eines Beschäftigungsverbots.

Ein mutterschutzrechtliches Beschäftigungsverbot besteht kraft Gesetzes. Der Arbeitgeber kann allenfalls entscheiden, ob er der Mitarbeiterin für den Zeitraum des Verbots eine andere Tätigkeit im Unternehmen zuweisen oder diese freistellen möchte. Dies vorausgeschickt, unterstreicht das BAG mit der Entscheidung wieder einmal die Bedeutung des MuSchG und führt im Wesentlichen seine derzeitige Linie zum Umgang mit Urlaubsansprüchen im Geltungsbereich von mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverboten fort.

So hat es nunmehr klargestellt, dass auch bei tätigkeitsbezogenen Beschäftigungsverboten jedenfalls dann die Pflicht zur Arbeitsleistung entfällt, wenn der Arbeitgeber nicht von seinem arbeitsvertraglichen bzw. mutterschutzrechtlichem Umsetzungsrecht Gebrauch gemacht hat.
Wenn ein Arbeitgeber einer Mitarbeit rin während eines bestehenden tätigkeitsbezogenen Beschäftigungsverbots Urlaub gewähren möchte, sollte er dringend prüfen, ob im Unternehmen zumutbare Arbeiten existieren, die dem Beschäftigungsverbot nicht entgegenstehen und diese der Arbeitnehmerin zuweisen. Nur dann bleibt sie zur Erbringung der Arbeitsleistung verpflichtet und damit die Möglichkeit zur Erteilung von Urlaub bestehen.

Das Recht zur Umsetzung steht einem Arbeitgeber nämlich nach herrschender Meinung selbst bei Fehlen einer arbeitsvertraglich vereinbarten Versetzungsklausel zu, soweit für die vertraglich vereinbarte Tätigkeit ein Beschäftigungsverbot besteht.

RAin Nina Stephan, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Essen

Mit freundlicher Genehmigung der HUSS-MEDIEN GMBH aus AuA 3/17, Seite 184