Etwas Großes ist im Gange.
Es wird ein neues Spiel gespielt. Wir stecken mitten drin im größten Change-Prozess aller Zeiten. Ein paradigmatischer Wandel der Lebens-, Kauf- und Arbeitsstile ist längst unübersehbar. Digital transformiert treiben mutige Anbieter mit frischen Ideen den Markt atemberaubend schnell voran. Und die „Weisheit der Vielen“ hat, von den meisten Unternehmen nahezu unbemerkt, die Macht schon längst übernommen. Was das bedeutet? Heute entscheiden vor allem die eigenen Kunden darüber, ob neue Kunden kommen und kaufen. Und die eigenen Mitarbeiter entscheiden maßgeblich mit, wer die besten Talente gewinnt. Passende interne Rahmenbedingungen und eine auf diesen Wandel ausgerichtete Führungskultur sind unausweichlich, damit es gelingt, in solchen Märkten auf Dauer verlockend zu sein. Doch während sich draußen alles rasant verändert, vertrödeln drinnen in den Unternehmen die Manager mit verbrauchten Ritualen aus dem letzten Jahrhundert wertvolle Zeit: Topdown-Formationen und Hierarchiegehabe, Silodenke, Insellösungen und Abteilungsegoismen, Kontrollitis und Anweisungskultur, Budgetierungsmarathons und Kennzahlenmanie, schwerfällige Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse sind nur einige Stichworte von vielen. Die Unternehmen sind in ihren eigenen Systemen gefangen. Und sie werden nicht am Markt, sondern an ihren Strukturen scheitern. Denn mit Werkzeugen von gestern ist die Zukunft nun mal nicht zu packen.
1. Re-Start: Wie Unternehmen die Zukunft erreichen
Ein Umdenken ist jetzt zunächst drinnen, im firmeninternen Zusammenspiel, dringendst vonnöten. Die wichtigsten Schlagworte heißen: öffnen, verflachen, verbreitern. Vernetzung und Kollaboration sind die Keywords zum Ziel. Ein zaghaftes Auffrischen von Bestehendem reicht dabei nicht aus. Eine Neuausrichtung ist vielmehr gefragt. Vieles muss einer schöpferischen Unruhe und manches einer schöpferischen Zerstörung (Joseph Schumpeter) preisgegeben werden, um Raum für Neues, Passenderes zu schaffen, und sich für den Wettbewerb der Zukunft zu rüsten. Weitermachen wie bisher ist jedenfalls keine Option. Ein Re-Start ist dran. Noch vor technologischen und produktbasierten Innovationen sind zuallererst Management-Innovationen gefordert. Nur zu. Die Spielregeln werden nie mehr die alten sein.
Sieben Schlüsselaufgaben sind dabei in Angriff zu nehmen:
► Schwarmintelligenz integrieren
► Kollaborative Strukturen implementieren
► Gefühlte Hierarchien reduzieren
► Regelwerke dezimieren
► Silodenken demontieren
► Sich digital transformieren
► Den Kundenfokus forcieren
Mit den ersten Aufgaben wollen wir uns in diesem Beitrag befassen. Was es mit den übrigen auf sich hat und wie der vierstufige Prozess des internen Touchpoint Management ganz genau funktioniert, steht in meinem Buch.
2. Die Aufgaben
2.1. Aufgabe 1: Schwarmintelligenz integrieren
Die Digital Natives und deren Startup-Gründer sind in einer digital vernetzten Lebenswelt groß geworden. Sie bewegen sich ständig in Schwärmen, die in den Weiten des Webs ihre Heimat haben. Damit sind sie etablierten Unternehmen um Meilen voraus. Wollen Letztere nicht den Anschluss verlieren, müssen sie baldigst verstehen lernen, wie soziale Netzwerke effektiv funktionieren und wie sich Schwarmintelligenz erfolgswirksam nutzen lässt. Unter Schwarmintelligenz versteht man die „Weisheit der Vielen“, eine sich mehr oder weniger selbst organisierende kollektive Intelligenz, die jenseits von Administration und Bürokratie eine Vielfalt von innovativen Ideen hervorbringen kann.
Um Durchbruch-Innovationen zu erzielen, ist ohne Frage auch die Expertise von Spezialisten vonnöten. Und bisweilen braucht es die strategische Hand eines energischen Chefs. Doch einsame Entscheidungen können leicht in den Abgrund führen. Tödlich für die Innovationskraft einer Organisation ist es indes, wenn alles wie erstarrt auf das Brüllen des Silberrückens harrt. Klar, auch in Netzwerken gibt es Autoritäten, denen man folgt. Doch den blinden Gehorsam, der in geschlossenen Organisationen immer noch ausgeprägt ist, den gibt es hier nicht. Leadership-Kunst wird zukünftig heißen, positive Leittier-Effekte und Mitarbeiter-Schwarmintelligenz zielführend zu kombinieren – und ein Miteinander zu finden, das auch die Kunden in alle Stufen der Wertschöpfungskette aktiv integriert.
Bereits vor Jahren hat der Soziologe James Surowiecki in seinem Weltbestseller ‚The Wisdom of the Crowds‘ anhand vieler Beispiele gezeigt, dass eine Gruppe in aller Regel „klüger ist als ihr gescheitestes Mitglied“. Allerdings nur dann, wenn ihre Zusammensetzung inhomogen ist. Denn homogene Gruppen, also solche mit gleichartigen Mitgliedern, neigen zur Konformität, zum Konsens, zum Griff nach Routinen – und nur selten zum Erkunden von Neuem. Der Zugewinn einer inhomogenen Gruppe ergibt sich aus den unterschiedlichen Denkweisen ihrer Mitglieder und einer damit verbundenen Experimentierfreudigkeit. Kluge Entscheidungen kann die Gruppe aber immer nur dann treffen, wenn sie in ihrer Meinungsbildung unabhängig ist, wenn jeder Teilnehmer Zugang zu allem entscheidungsrelevanten Wissen hat, und wenn er seine Meinung frei äußern kann. Ferner muss sich die Gruppe auch treffen können – virtuell und real.
2.2. Aufgabe 2: Digitalisierung begünstigt das Schwärmen
Skype, Wikis, Blogs, Apps, Activity-Streams und Dokumenten-Sharing: Diese und viele weitere Webtools haben die Zusammenarbeit von realen Orten entkoppelt und ein virtuelles Ausschwärmen möglich gemacht. Allerdings wird zunehmend erkannt, dass Menschen am allerbesten zusammenwirken, wenn sie sich sehen können. Warum das so ist? Die wahre Gesinnung zeigt sich in Gestik und Mimik. Die meisten von uns haben ein gutes Intuitionsradar für richtig und falsch. Entsprechende Signale können aber nur dann entschlüsselt werden, wenn man sich physisch nahe ist. Doch auch dafür stehen digitale Lösungen parat. Videokonferenzen gibt es seit langem. Membrane Wände, die wie Touchscreens funktionieren und per Fingerwisch den Weg ins Internet bahnen, sind im Kommen. Und schon bald werden wir unseren Schwarmmitgliedern als 3D Telepräsenz oder als Hologramm in Lebensgröße erscheinen können.
Darauf warten müssen wir allerdings nicht. Führungskräfte können schon jetzt eine Reihe von Voraussetzungen schaffen, damit sich Schwarmintelligenz zügig entfalten kann. Es sind – in Anlehnung an Jochen May – diese drei:
■ Informationsfluss: Kompetenzvernetzung erfordert, dass jedes Schwarmmitglied jederzeit über alle notwendigen Informationen verfügt. Zugleich muss sichergestellt sein, dass man seine Zeit nicht mit unnützem Informationsmüll vergeudet.
■ Innovationsdruck: Hierzu müssen Instrumente verfügbar sein, mit deren Hilfe die nutzwertigen Ideen einzelner Schwarmmitglieder aufgegriffen, gesichert und bei Bedarf zügig eingesetzt werden können.
■ Verhaltensabstimmung: Die schwarmimmanente Meinungsvielfalt ist so zu kanalisieren, dass man sich autoritätsfrei auf ein einheitliches Vorgehen einigen kann. Denn in aller Regel stört Hierarchie den Schwarm, anstatt ihm zu dienen.
Allerdings muss die Basis für Schwarmintelligenz-Fähigkeit in vielen Fällen überhaupt erst gelegt werden. Institutionalisierte Informationskaskaden und sorgsam gepflegte Entscheidungsmonopole, die vor allem dem Machterhalt dienen, sind dabei nur hinderlich. Und natürlich müssen die Mitarbeiter zu einem schwarmintelligenten Verhalten befähigt werden, denn die damit verbundene Ergebnisverantwortung kann Ängste schüren. Es braucht also Mut, etwas Zeit und Geduld. Auf Knopfdruck funktioniert so etwas nicht. Um gut voranzukommen sind umfangreiche Freiheitsgrade, kurze Entscheidungswege, ein Höchstmaß an Flexibilität und eine kollaborative Vernetzung vonnöten. Lineare Strukturen sind dazu wenig geeignet. Weil diese nämlich nur in eine Richtung zeigen, verbauen sie den Blick auf andere, womöglich bessere Wege zum Ziel. Wenn, so wie jetzt, die Komplexität zunehmend steigt, sind sich selbst organisierende Strukturen viel tauglicher. Bestes Beispiel dafür ist das erfolgreichste Businessmodell aller Zeiten, die Mutter der Digitalisierung: das Internet.
2.3. Aufgabe 3: Internet hat keinen Boss
Im Internet vernetzen sich die Menschen zu Schwärmen, die mal in die eine und mal in die andere Richtung ziehen, immer auf der Suche nach Neuem, Anderem, Besserem. Dabei geht es nicht nur um eine Vernetzung von Daten, sondern auch um die Vernetzung von Wissen. Wie das funktioniert? Im Social Web ist dies ein sich selbst steuernder Prozess, der sich über Plattformen, Portale und soziale Netzwerke organisiert. Viele sollen etwas davon haben, nicht wenige alles. Das Crowdfunding, manchmal auch Schwarmfinanzierung genannt, ist ein interessantes Beispiel dafür. Hierunter versteht man die Finanzierung förderungswürdiger Projekte durch eine große Zahl von Kapitalgebern mit kleinen Mitteln über Plattformen wie Startnext, Kickstarter & Co. Solche Formen des Teilens werden durch webbasierte Technologien erleichtert beziehungsweise überhaupt erst möglich gemacht.
Auch das menschliche Gehirn funktioniert ohne Boss. Dessen zerebrale Verschaltungen laufen über Knotenpunkte, etwa 20 an der Zahl. So kann es auf mehr als einem Weg zu guten Ergebnissen kommen – und die Kapazität, zu lernen und qualitativen Output zu liefern, ist nahezu unerschöpflich. Doch was nicht benutzt wird, verwildert. „Use it or lose it“, heißt das Prinzip. Beim Wissen ist es genauso. Es multipliziert sich bekanntlich, wenn man es teilt. Und es verflüchtigt sich, wenn man es hortet. Wenn sich Wissen aber vernetzt, kann dies an die erstaunlichsten Zielpunkte führen. So steigt zum Beispiel die Innovationskraft mit der Anzahl gleichberechtigt involvierter Personen. Und damit wiederum steigt auch die Chance auf den sogenannten Serendipitätseffekt: das Stolpern über glückliche Zufälle, das durch eine Beteiligung Vieler begünstigt wird.
Deshalb brauchen Unternehmen im Touchpoint Management auch keine solchen Consultants, die ihre „exklusiven“ Weisheiten über monolithische Führungsspitzen einschleusen, um sie dann herunter schwappen zu lassen. Vielmehr brauchen sie Knotenpunkte, die als Weichensteller für optimale Verschaltungen sorgen. Und sie brauchen Input-Bringer, die als Katalysatoren fungieren, um die kollektive Intelligenz der besten Ratgeber zu wecken, die es da draußen gibt: die eigenen Mitarbeiter und die sozial vernetzten Kunden. Überall im Unternehmen müssen „Möglichkeitsräume mit Innovationspflicht“ geschaffen werden, in denen eigeninitiatives, selbstverantwortliches Handeln den Vorzug vor Direktiven erhält.
// Buchtipp //
Das Buch zum Thema
Anne M. Schüller:
„Das Touchpoint-Unternehmen-
Mitarbeiterführung in unserer neuen Businesswelt“
Gabal, März 2014,
368 S., 29,90 Euro
ISBN: 978-3-86936-550-3