1. Laura Gehlhaar

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Foto von Nastuh Abootalebi

Seit zwölf Jahren sitzt Laura Gehlhaar im Rollstuhl. Fröhlich, selbstbewusst und erfolgreich im Beruf als Coach. Darüber hinaus engagiert sie sich im Verein Sozialhelden e.V. – nicht nur für die Rechte, sondern auch für eine andere Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen. Auf dem ersten Arbeitsmarkt sieht man diese nämlich nur selten. „Was viele Arbeitgeber nicht wissen: Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, führt nicht unbedingt zu Zusatzkosten und Verdienstausfällen“,  sagt die 34-jährige Wahl-Berlinerin. „Im Gegenteil: Sie sind oft nicht nur leistungsfähig, sondern auch karrierebewusst.“

Der Arbeitsalltag behinderter Arbeitnehmer unterscheidet sich häufig in keiner Weise von dem ihrer Kollegen: Mobile Telekommunikation, Skype und mobiles Internet erleichtern den Kontakt und die Kommunikation zu jeder Zeit und von jedem Ort aus. „Jeder, der einen Internetzugang nutzen kann, kann teilhaben“, bestätigt Gehlhaar. Kurzum: Die Digitalisierung mit ihren technologischen Innovationen öffnet Türen für die Inklusion behinderter Menschen in die Arbeitswelt.

Digitalisierung schafft auch Sichtbarkeit. Mit ihren Blogs und Tweets, in denen sie über ihren Alltag im Rollstuhl aufklärt, arbeitet Gehlhaar  gegen die Barrieren, die „häufig nur allein in den Köpfen  bestehen“. Sie berichtet immer wieder gerne, wie sie sich auf einen Job beworben hatte, ihr potentieller Arbeitgeber jedoch bedauerte, man könne sie nicht einstellen, da es leider an für Rollstuhlfahrer geeigneten Sanitärräumen mangelte. „Darf ich mir die einmal ansehen?“, fragte sie.  Sie könne nämlich auch normale WCs benutzen.

Frau Gehlhaar bekam den Job „wo ein Wille ist, ist ein Weg“. Eine mobile Rampe, mit der Rollstuhlfahrer ein paar Stufen bewältigen können, ein wenig Verständnis und  Aufmerksamkeit – oft gehöre gar nicht so viel dazu, einen Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung möglich zu machen. 

2. Martin Neumann

Martin Neumann ist ein „Troubleshooter“. Wenn in einem Unternehmen eine Software nicht funktioniert, analysiert er sie, sucht nach Fehlern, beseitigt diese – oder entwickelt gleich eine neue. Er liebt es, akribisch zu arbeiten, sich ganz auf ein Thema zu fokussieren. Als Asperger-Autist verfügt Martin Neumann über diese ganz spezielle Begabung, die es ihm ermöglicht, hochkomplexe Probleme zu lösen.

Das Unternehmen auticon, bei dem Martin Neumann beschäftigt ist, weiß um die Fähigkeiten dieser Menschen und rekrutiert daher seine Berater ausschließlich aus diesem Spektrum. Ein Glück für Neumann und seine Kollegen. Denn nur fünf Prozent der Autisten in Deutschland arbeiten in einem festen Job. Unter den „Aspergern“, die unter einer milderen Form leiden, sind immerhin 20 Prozent erwerbstätig.

Mehr als 1.000 Regeln bestimmen den Umgang mit anderen Menschen – soziale Gepflogenheiten, das Lesen von Mimik und Gestik: für Martin Neumann eine Fremdsprache. „Andere zu verstehen ist Schwerstarbeit“, erklärt Martin Neumann, dessen Welt aus Mustern und Regelmäßigkeiten besteht. „Hier bei Auticon habe ich einen Arbeitsplatz gefunden, an dem ich mich nicht verstellen muss. Ich kann mich voll auf meine Aufgabe konzentrieren.“

Bevor er mit seiner Arbeit beginnt, leisten seine Kollegen die Vorarbeit: Ein auticon-Projektmanager übernimmt die Kommunikation mit dem Kunden, ein Jobcoach schafft das Umfeld dafür, dass sich Martin Neumann voll auf seine Aufgaben konzentrieren kann. „Meine Kollegen sind wie die Wischer beim Eisstockschießen, die dafür sorgen, dass der Puck auf dem Eis besser gleitet.“

3. Ralf Kliesch

Ein Vertriebler, wie er im Buche steht: Ralf Kliesch ist aufgeschlossen, freundlich, kommunikativ. Allerdings ist er so gut wie blind. Vor Jahren – da war Kliesch Anfang 20 – erkrankte er an Lebersche Optikusatrophie (LHON). Quasi von heute auf morgen war er arbeitslos, denn an seine Arbeit als Kfz-Mechaniker war nicht mehr zu denken.  Heute befindet sich sein Arbeitsplatz  in einer engen, dunklen Nische. Ohne Tageslicht. Ideale Bedingungen für Kliesch, denn „je heller die Umgebung, desto weniger Kontraste und somit schlechter kann ich sehen.“

„Am Anfang habe ich mit Handlupe und Lupenprismabrille gearbeitet“, sagt er. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Einer seiner beiden Monitore ist mit einem Lesegerät verbunden. Mit Hilfe einer eingebauten Kamera werden Dokumente so stark vergrößert, dass selbst Kliesch den Text lesen kann. Die Art der Darstellung – gelbe oder hellgrüne Schrift auf schwarzem Grund – macht das Erkennen zusätzlich einfacher. „Ganze Bücher auf diese Weise zu lesen, wäre allerdings zu anstrengend“, räumt er ein. Hierbei hilft eine spezielle Software, die einen zuvor eingescannten Text vorliest. Auch Texte aus dem Internet und E-Mails kann das Gerät vorlesen.

Kommunikation auf Augenhöhe – so lautet die Devise bei der Teekampagne. Mit dem Tool SQAT – das steht für Signing Question Answer Tool – sorgt Ralf Kliesch dafür, dass er auch mit gehörlosen Kunden kommunizieren kann. Gehörlose können ihre Anfrage in das Tool hineingebärden, die SQAT-Servicestelle überträgt das Ganze in Schriftsprache kommt in Schriftform bei Ralf Kliesch an. Seine Antwort wird wiederum zurückübersetzt in Gebärdensprache. „Die Digitalisierung hat Hör- und Sehgeschädigten ein Tor geöffnet“, sagt der Vertriebsmitarbeiter, „heute muss niemand mehr ausgegrenzt werden.“

„Es ist egal, ob jemand behindert ist oder nicht“, sagt der Geschäftsführer der Teekampagne, Thomas Räuchle. Wichtig sei ausschließlich, dass er seine Arbeit gut macht und ins Team passt. Um seinem Mitarbeiter die tägliche, beschwerliche Anfahrt ins Büro zu ersparen, genehmigt er ihm einen Heimarbeitsplatz. Seit zehn Jahren arbeitet Ralf Kliesch überwiegend von zu Hause aus. Doch jeden Montag kommt er zu den Kollegen in die Geschäftsräume und bleibt so auch sozial ins Team eingebunden.

Hierzulande verzichten 39.000 Unternehmen darauf, Arbeitnehmer  mit Behinderung zu beschäftigen, teilt  das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit. Für eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben werden auf politischer Ebene Hürden gesenkt und Möglichkeiten für Inklusion geschaffen. Doch gerade  die noch zurückhaltende Wirtschaft ist gefragt, sich zu öffnen und die Chancen zu nutzen, fordert Thomas Schneberger. Ein Interview.

Digitalisierung trifft Inklusion = Erfolgsgeschichte?

Schneberger: Geschichten wie die von Herrn Neumann, Frau Gehlhaar und Herrn Kliesch lassen diese Gleichung tatsächlich zu. Der digitale Wandel bringt gerade für die Inklusion behinderter Menschen enorme Chancen. Sei es durch direkte Unterstützung von fehlenden oder nicht vollständig intakten Sinneswahrnehmungen, z. B. bei Sehbehinderten durch  Text-to-speech-Programme, „Datenbrillen“ oder Lesehilfen, wie im Falle von Ralf Kliesch.
Oder mittels elektronisch-mechanischer Hilfen die körperliche Beanspruchungen wie Tragen, Heben und Bewegen unterstützen. Das reicht bis hin zum „Exoskelett“, das selbst ansonsten auf den Rollstuhl angewiesenen Personen helfen kann, sich zu erheben und zu gehen.

Menschen mit Behinderungen sind, in welcher Form auch immer, bei der Ausübung bestimmter Tätigkeiten beeinträchtigt. Wenn es mithilfe digitaler Technologien gelingt, diese Beeinträchtigung auszugleichen und die vorhandenen Stärken zu nutzen, ist das ein Gewinn für alle Beteiligten.
„Es geht um wirtschaftliche Ziele. Und die erreichen Unternehmen mit leistungsfähigen Mitarbeitern, ob mit oder ohne Handicap.“

Durch die Digitalisierung spielt die räumliche Verortung des Leistungserbringers bei vielen Tätigkeiten zudem keine Rolle mehr. Die Möglichkeit, überall und zu jeder Zeit zu arbeiten, erlaubt Beschäftigten (ob mit oder ohne Behinderung) die Chance, in der für sie optimalen Art und Weise zu arbeiten. Beschwerliche Wege zur Arbeitsstätte können mitunter entfallen.

Was raten Sie Unternehmen, die zu den genannten 39.000 gehören?

Schneberger: Umdenken! Arbeitsplätze verändern sich. In der Vergangenheit wurden die Menschen im Umgang mit mechanischen Werkzeugen ausgebildet. Da waren körperliche Fähigkeiten besonders wichtig. Durch den digitalen Wandel sind künftig im selben Berufsfeld eher analytische Fähigkeiten gefragt. Das schafft enorme Chancen für die  Inklusion behinderter Menschen.

Viele Unternehmen sind allerdings noch im Dornröschenschlaf und haben das Potenzial –auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel und den demografischen Wandel – noch nicht erkannt. Es geht  nicht darum, eine „gute Tat“ zu vollbringen. Es geht um wirtschaftliche Ziele. Und die erreichen Unternehmen mit leistungsfähigen Mitarbeitern, ob mit oder ohne Handicap.

Sie beraten Unternehmen auch zum Thema Inklusion, was geben Sie ihnen an die Hand?

Schneberger: Wichtig für Unternehmen beim Thema Digitalisierung sind selbstverständlich  arbeitsrechtliche und datenschutzrechtliche Regelungen. Als essentiell haben sich außerdem 8 Faktoren herauskristallisiert, ohne die Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Unternehmen generell nicht möglich sind: Führung, Orientierung, Kompetenzen, Organisation, Kommunikation, Kultur, Gratifikation, Gesundheit. Diese  gilt es  im Unternehmen zu  überprüfen und zu unterfüttern.

Was Unternehmen zusätzlich brauchen ist die Entschlossenheit, auch einmal Wege zu gehen, die noch nicht so ausgetreten sind. Und: Ein bisschen Vertrauen in die Leistung und Kompetenz der Menschen – denn um die geht es hier im Kern – kann sicher nicht schaden. Mitarbeiter, die das spüren, arbeiten nachweislich motivierter und leisten mehr. Da brauchen wir keinen Unterschied zu machen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Die Digitalisierung kann im Wortsinn, wie auch im übertragenen Sinn „Augenhöhe“ schaffen. Denn der digitale Raum ist per se barrierefrei.

Zusatzinfos:
Thomas Schneberger zu den 8 Faktoren für Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Unternehmenwww.ias-gruppe.de/special-arbeitswelt-40
•Thomas Schneberger, Geschäftsführer der ias Unternehmensberatung, thomas.schneberger@ias-gruppe.de

Alle Bilder zur Verfügung gestellt von der ias Gruppe – mit freundlicher Genehmigung, Bildrechte der Bilder von Frau Gehlhaar, Herrn Kliesch und Herrn Neumann: @ Gerd Metzner