Arbeitsmarkt

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Foto von Oli Dale

Die naturwissenschaftliche Ausbildung ist in Russland traditionell sehr gut. Daher verfügt das Land über eine große Auswahl an Spezialisten wie Ingenieure, Elektrotechniker und IT-Fachkräfte. Nach verschiedenen Schätzungen leben in Russland eine Million technisch ausgebildete Arbeitskräfte. Das sind mehr als in den Vereinigten Staaten, China oder Japan. Das Verhältnis von Forschern zur gesamten Bevölkerung beträgt etwa drei Prozent. Bezogen auf die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure pro Einwohner steht Russland weltweit auf dem dritten Platz.

Außerhalb der großen Städte sind die Gehälter für gut ausgebildete Spezialisten vergleichsweise gering. Wenn ein Programmierer in Moskau 2.000 bis 2.300 Euro im Monat verdient, so bezieht er in den Provinzen ein Gehalt, das zwischen 600 und 1.200 Euro monatlich liegt. Daher rekrutieren viele Unternehmen Software- Spezialisten in Regionen wie zum Beispiel Omsk, Ekaterinburg und Nischni Nowgorod. Unternehmen müssen allerdings beachten, dass russische Mitarbeiter im Inland eine Arbeitserlaubnis für die einzelnen Städte benötigen. Ein kurzfristiger Jobwechsel von Sankt Petersburg nach Moskau ist somit nur dann möglich, wenn bereits eine entsprechende Arbeitserlaubnis vorliegt.

Im Bereich Forschung und Entwicklung bietet der russische Arbeitsmarkt eine Überzahl an qualifiziertem Personal, im Marketing und vor allem im Vertrieb dagegen besteht noch Schulungsbedarf. Doch auch hier setzt ein Wandel ein. Die „MBA-Generation“ der jüngeren Russen interessiert sich zunehmend für wirtschaftliche Studiengänge nach westlichem Muster. Mehr und mehr Berufseinsteiger und Young Professionals können gute Ausbildungen für Marketing und Vertrieb oder Finanzen und Controlling vorweisen. Die Sprachkenntnisse der Arbeitnehmer umfassen neben Russisch meist Englisch und manchmal auch Deutsch.

Recruiting

Internationale Unternehmen sind für russische Arbeitnehmer attraktiv, weil sie in der Regel interessante Karriereperspektiven bieten und gut zahlen. Führungskräfte und Manager werden in Russland üblicherweise per Direktansprache rekrutiert. Über Anzeigen, insbesondere in den Printmedien, suchen Unternehmen vornehmlich Kandidaten für niedrigere Positionen. Firmen, die in Russland aktiv werden, schalten häufig Personalberater oder Headhunter ein. Bei der Auswahl eines Recruiting-Spezialisten sollten sie allerdings darauf achten, dass dieser sowohl die russischen als auch die westeuropäischen Unternehmenskulturen kennt und seine Auswahlkriterien dementsprechend definiert. Die Referenzen eines Headhunters bieten gute Anhaltspunkte für seine Kompetenz.

Einstellungsgespräche

Russische Bewerber treten eher introvertiert auf und wirken aus westlicher Sicht oft passiv. Doch von diesem Eindruck sollten sich Personalverantwortliche nicht täuschen lassen. Zwar reden die Kandidaten meistens wenig, doch was sie sagen, ist substanziell. Eine angenehme Gesprächssituation kann dazu beitragen, das Interview aufzulockern.

Fluktuation

Offene Stellen können Unternehmen in Russland meistens relativ kurzfristig besetzen. Denn die Kündigungsfristen sind im Vergleich zu den österreichischen gering. Wenn der Arbeitnehmer selbst kündigt, beträgt seine Kündigungsfrist normalerweise zwei Wochen. Grundsätzlich wechseln russische Arbeitnehmer häufiger den Arbeitsplatz, als es in Österreich üblich ist. Um Fluktuation vorzubeugen, sollten Personalisten in Bewerbungsgesprächen daher nach den Gründen für frühere Arbeitsplatzwechsel fragen. Nicht immer spielt das Gehalt die entscheidende Rolle. Insbesondere in den Jahren nach der Finanzkrise vom Sommer 1998 waren viele Arbeitnehmer von Firmenschließungen betroffen. Informationen über den bisherigen Werdegang eines Bewerbers bietet das Arbeitsbuch, ein semiöffentliches Dokument, das der jeweilige Arbeitgeber aufbewahrt und das sämtliche Wechsel dokumentiert. Es hat bedeutend mehr Aussagekraft als Lebensläufe, die sich leicht manipulieren lassen. Auch Referenzen der Arbeitnehmer lassen sich im Recruiting heranziehen.

Unternehmen können Fluktuation in Russland nicht vollständig ausschließen. Doch sie können ihr vorbeugen, indem sie

  • angemessene Löhne und Gehälter mit einem attraktiven, variablen Anteil zahlen,
  • Identifikationsmöglichkeiten mit dem Unternehmen schaffen, insbesondere auch im Hinblick auf weitere Karrieremöglichkeiten.
  • eine gute und profunde Einarbeitung durch Schulungen im Hauptquartier bieten und
  • kommunizieren, dass Ausbildungen eine Investition in den Mitarbeiter und das Unternehmen sind.

Vergütung

Die Vergütungsstruktur in Russland ist sehr heterogen. In der Megapolis Moskau müssen die Unternehmen andere Gehälter zahlen als in Regionen wie Samara und Nischni Nowgorod. Sankt Petersburg als zweitgrößte Stadt nähert sich Moskau bezogen auf den Gehaltslevel allmählich an. Folgende Parameter sind für die Vergütung in Russland wichtig:

  • In russischen Firmen sind die Gehälter geringer als in internationalen Unternehmen. Von dieser Regel ausgenommen sind Spezialisten, zum Beispiel für Mergers & Acquisitions. Sie beziehen in russischen Unternehmen ähnliche Gehälter wie in internationalen.
  • Der variable Anteil der Gehälter ist in der Regel höher als in Deutschland und beläuft sich je nach Position auf 30 bis 40 Prozent. Dies gilt aber nur für Führungskräfte.
  • Gehaltsverhandlungen beziehen sich in Russland immer auf das Nettogehalt. Auf das Grundgehalt kommen noch einmal 13 Prozent Lohnsteuer und circa 28 Prozent Lohnnebenkosten. Weihnachts- und Urlaubsgeld sind (noch) relativ unbekannt.
  • Das Gehaltsniveau in Moskau, aber auch in Sankt Petersburg ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Diese Dynamik hat sich in den Regionen noch nicht so vollzogen, doch einige Gebiete ziehen aufgrund von hohen Investitionsnachfragen aus dem Westen bereits nach.

Wie stark das Gehaltsniveau innerhalb Russlands variiert, zeigt folgendes Beispiel: das Monatsgehalt eines Generaldirektors (Geschäftsführers) in einem mittelständischen Unternehmen (ohne Bonus):

  • Moskau/kleines bis mittelständisches Unternehmen: 2000-4500 Euro netto
  • Moskau/westeuropäisches mittelständisches Unternehmen: 4000-7000 Euro netto
  • Sankt Petersburg: 80 Prozent des Moskauer Niveaus
  • Regionen: 20-50 Prozent des Moskauer Niveaus

Arbeiten in Russland

Das Leben und Arbeiten in Russland, mit russischen Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten ist nicht unbedingt mit dem Leben in Österreich zu vergleichen, denn die Mentalitätsunterschiede sind spürbar. Viele Russen, vor allem älterer Herkunft, sind im Gegensatz zu westlichen Unternehmenskulturen ein sehr starkes Hierarchieprinzip gewohnt, nach dem der „Natchalnik”, der Vorgesetzte, allein das Sagen hat.

Die Entscheidungskompetenzen der Mitarbeiter sind eng gefasst. Verantwortung zu delegieren, ist unüblich. In Russland besteht ein stark ausgeprägtes Obrigkeitsdenken sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Ein Generaldirektor gibt seine Entscheidungsbefugnisse nicht unbedingt an Mitarbeiter ab. Wenn er nicht da ist, werden Entscheidungen nicht getroffen. Daran müssen sich Unternehmen, die in Russland aktiv werden wollen, gewöhnen.

Zusammenfassend ist insbesondere Folgendes zu beachten:

  • Hierarchieprinzip im Gegensatz zum westlichen Matrix-Denken
  • Kommunikation und Entscheidungsfindung verlaufen im Wesentlichen Topdown
  • Augenhöhe und andere Verhaltensregeln sind unbedingt einzuhalten, da zum Beispiel ein Generaldirektor nur jemanden als Gesprächspartner akzeptieren wird, der ein ähnliches Standing hat

In der Tat unterscheidet sich die Personalarbeit im Land des Bären von der in anderen Ländern. In Russland müssen Personalisten gute Leute schnell ausfindig machen, sie mit einem Paket aus Gehalt und Perspektiven verpflichten und ihnen mittelfristig das Gefühl geben, innerhalb einer „Familie“ zu arbeiten. Sie sollen den Arbeitnehmern vermitteln, dass das Unternehmen in ihre Karriere investiert, und über eine enge Kommunikation mit dem Hauptquartier sicherstellen, dass sich die russischen Beschäftigten nicht isoliert fühlen. Sind all diese Bedingungen erfüllt, kann das Unternehmen aber sicher sein, gutes und zum großen Teil auch loyales Personal in einem attraktiven Wachstumsmarkt zu beschäftigen und dementsprechend erfolgreich zu wachsen.

Quelle: personal manager 4/2006