Prof. Wheeler, Sie beschäftigen sich seit nunmehr 35 Jahren mit Lerntechnologien. Hält die Weiterentwicklung auf diesem Gebiet immer noch Überraschungen für Sie bereit?
Aber ja, ich bin immer wieder über sie erstaunt. Jeden Tag stoße ich auf neue Technologien oder entdecke eine neue Software. Für mich war es schon immer wichtig zu erkennen, was als nächstes kommt, um entsprechend vorbereitet zu sein. Nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um anderen mitzuteilen, was uns „an der nächsten Ecke“ erwartet und welchen Nutzen wir daraus ziehen können.
Was war für Sie die größte Überraschung in den letzten Jahren?
Social Media. Denn diese Entwicklung hat in die Welt der Lerntechnologien eingeschlagen wie keine andere in den letzten zehn Jahren. Sie ermöglicht jedem, sich mit anderen überall auf der Welt kurzzuschließen. Wir können sozusagen jeder Wissensgemeinschaft beitreten, die uns interessiert, und Menschen mit hoher Intelligenz und großer Befähigung ausfindig machen, die unsere Fragen nahezu im Handumdrehen beantworten.
Betrachten Sie diese Veränderung als eine Art Revolution für das Lernen?
Veranstaltungstipp
Keynote-Vortrag von Steve Wheeler: „Lifelong Learning in a Digital Age: A look into the future?” Messe Zukunft Personal, Koelnmesse Donnerstag, 22. September 2011, 14.00 – 15.00 Uhr, im Anschluss Public Interview Weitere Informationen: |
Ich teile eher die Ansicht, dass es grundsätzlich einen evolutionären Vorgang darstellt. Jede Neuentwicklung baut auf früheren Erkenntnissen auf wie es das Bild „Wir stehen auf den Schultern von Riesen“ ausdrückt.
Als unsere erste Errungenschaft, auf der alles weitere basiert, betrachte ich die Entwicklung der Sprache. Seitdem wir gelernt haben, uns auf diese Weise miteinander zu verständigen, erweitern wir kontinuierlich unsere Kommunikationsmöglichkeiten durch technische Weiterentwicklungen. Erst kam der Telegraf, dann das Telefon, es folgten Rundfunk und Fernsehen, Mobiltelefone und schließlich das Internet – all dies sind immer nur neue Versionen sprachlichen Austauschs und verschiedene Wege, unsere Erkenntnisse und Ideen mit anderen zu teilen.
Sie sagen in Ihrem Blog voraus, dass Lernen abgesehen davon, sozial und mobil zu sein, insbesondere ein offenes Angebot an alle darstellen wird. Können Sie das näher erläutern?
Freier Zugang zum Lernen und zur Wissenschaft ist für mich sehr wichtig, denn Offenheit bedeutet aufrichtig zu sein. Es gibt immer noch viel zu viele Leute, die ihre Meinung und ihr Wissen verstecken, die Dinge verlautbaren, die sie gar nicht meinen oder nicht beweisen können. Für mich ist Wissen wie Liebe: Du kannst so viel davon weitergeben wie du möchtest ohne selbst etwas davon zu verlieren. Warum sollten wir Menschen Informationen in Rechnung stellen, die sie zum Überleben benötigen? Brian Lamb, ein mit mir befreundeter Akademiker aus Kanada, sagte kürzlich: „Angesichts der Wirtschaftskrise, in der wir gerade stecken, und angesichts der globalen Herausforderungen, die wir erwarten, wäre es falsch und pervers, Wissen zu horten und nur an Menschen weiterzugeben, die dafür zahlen können.“
Informationen auf jede erdenkliche Art und Weise zugänglich zu machen, ist folglich der richtige Schritt in die Zukunft. Die Öffnung von Lehrangeboten gibt zudem Menschen, die in der Schule gescheitert sind, eine zweite Chance, sich zu qualifizieren. Das ist übrigens ein Teil meiner Geschichte: Ich habe die Schule ohne Zeugnis verlassen und besuchte erst im Alter von gut dreißig Jahren die Open University, an der ich meinen ersten Abschluss erhielt.
Es gibt noch andere Aspekte wie die Veröffentlichung von Wissen, die immer mehr Magazine kostenlos betreiben, und es gibt den offenen Austausch mit Gelehrten. Als Wissenschaftler beteilige ich mich gerne daran, stelle mein Wissen und meine Konzepte anderen kostenlos zur Verfügung. Alle meine Blogeinträge sind frei zugänglich, das Gleiche gilt für meine Dias, Bilder, Fotos und Videos.
Bekommen Sie von den Leuten, die Ihre freigegebenen Inhalte nutzen, ein Feedback?
Durchaus. Und ich kann andersherum auch von ihnen lernen. Open Scholarship bedeutet, dass ich mich als Akademiker der Kritik öffne. Andere können mich darauf hinweisen, dass ich etwas übersehen oder möglicherweise Fehler gemacht habe. Open learning, in welcher Form auch immer, hat stets einen reziproken Charakter: Es ist ein beidseitiges Geben und Nehmen – ohne etwas dafür zu berechnen.
Benötigen Studenten neue Fähigkeiten, um die modernen Technologien zu nutzen?
„Fähigkeiten“ ist wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck. Ich bevorzuge das Wort „literacies“. Das sind zwar auch gewisse Kompetenzen, aber es meint noch mehr: Es bedeutet, mit seiner Kultur umgehen und sie verstehen zu können. Studenten – und ebenso Lehrer – werden eine Menge dazulernen müssen, wenn diese Technologien die Gesellschaft weiter durchdringen. Zum Beispiel „transliteracy“ – die Fähigkeit, sich und seine Ideen auf verschiedensten Plattformen zu präsentieren und zwischen diesen schnell hin- und herzuspringen, ohne inhaltliche Qualität einzubüßen. Ebenfalls dazu gehört die Erkenntnis, dass nicht jeder Inhalt im Internet richtig, umfassend oder aktuell ist.
Was bedeutet diese Entwicklung für Trainer und wie stellen sich diese auf die erwarteten Veränderungen ein?
Einige Trainer empfinden es als sehr schwer, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Sie denken, sie verläuft zu schnell und ist zu kompliziert, um sie zu verstehen. Aber grundsätzlich sollte jeder Lehrer und Trainer die Stärke und das Potenzial dieser Technologien nutzen. Viele Angebote sind frei und einfach zu handhaben. Und es gibt eine wohldefinierte pädagogische Unterstützung bei ihrer Nutzung. Sie müssen sich nur darüber im Klaren sein, dass sie berufliche und persönliche Aspekte beachten müssen sowie Fragen der Sicherheit und des Content Managements. Ich empfehle jedem Trainer und Lehrer dringend, diese Technologien zunächst in einer geschützten Umgebung auszuprobieren, um zu erkennen, wie sie funktionieren und wie sie ihren Studenten nutzen können.
Inwiefern nutzen Unternehmen diese Technologien?
Vor kurzem habe ich einen Vortrag auf einer Konferenz in London gehalten, zu der sich 450 Teilnehmer aus Großkonzernen verschiedener Branchen, aus Banken, der verarbeitenden Industrie, von der Polizei, dem Militär und aus Regierungsabteilungen versammelten. All diese 450 Menschen hatten etwas Neues mit Technologie zu tun und wollten alles über die jüngsten digitalen Errungenschaften hören. Es liegt zunehmend im Trend, dass Unternehmen die Stärke dieser neuen Medientechnologien für sich entdecken.
Unterstützen Unternehmen denn ihre Mitarbeiter dabei, diese Technologien anzuwenden?
Tatsächlich gibt es unternehmerische Barrieren, die sich problematisch auswirken können – zum Beispiel, wenn die Geschäftsführung die Nutzung von Facebook untersagt, weil das angeblich gegen die Unternehmenspolitik verstößt. Doch wenn sie Facebook verbannen, vergeuden sie eine der größten Möglichkeiten, soziale Glaubwürdigkeit und soziale Bedeutung zu erlangen. Die Stärke der Social Media besteht ja darin, Menschen miteinander zu verbinden – auf professioneller ebenso wie auf persönlicher Ebene. Die Fähigkeit, sich ein professionelles Netzwerk zunutze zu machen, ist insofern eine der wertvollsten, die ein Angestellter mitbringen kann. Unternehmen sollten keinesfalls Social Media vom Arbeitsplatz fernhalten. Sie sollten kein Verbot aussprechen, sondern den Zugang zu Social Media eher noch erleichtern, damit sie den Mitarbeitern und gleichermaßen ihnen selbst zugutekommen.
Sie sagten einmal, Lernen habe die Wände des Klassenzimmers durchbrochen. Sehen Sie ein Problem darin, wenn Experten, beispielsweise Spezialisten für ein bestimmtes Fachgebiet, sich mit Spezialisten aus anderen Unternehmen zusammentun?
Unternehmen wollen ganz offensichtlich ihre Geheimnisse schützen. Sie müssen es auch in einem gewissen Ausmaß – denn tun sie es nicht, geben sie der Konkurrenz Gelegenheit, ihre Ideen zu stehlen und diese selbst zu vermarkten. Es gibt trotzdem unbedenkliche Arten, Informationen miteinander zu teilen. Unternehmen können Botschaften über Social Media viral verbreiten, um die eigene Geschäftsidee optimal zu vermarkten.
Alle Inhalte, die ich im Internet verfügbar mache, habe ich unter Creative Commons (CC) lizensiert. Das bedeutet, dass sie je nach CC-Lizenz, die ich ihnen gegeben habe, weitergegeben und genutzt werden können. Manchmal übersetzen Menschen meine Blogs in andere Sprachen. Auf diese Weise verschaffen Sie mir eine so riesige Leserschaft wie ich sie ansonsten niemals erreicht hätte. Das sollten auch Unternehmen einsehen: Sie mögen sich wünschen, manche Dinge für sich zu behalten, aber gleichzeitig ist es für sie erstrebenswert, ihre Ideen mit anderen zu teilen, um mehr Glaubwürdigkeit und Ansehen zu erlangen und ihre Ideen und Produkte effizienter zu promoten.
Benötigen Mitarbeiter Regeln für den Gebrauch von Social Media?
Ich glaube nicht, dass Einschränkungen in diesem Bereich funktionieren. Einige Regierungen haben versucht, Regeln aufzustellen, Es gab etwa Versuche, Wikileaks zu blockieren, was ja bekanntlich gescheitert ist – das Internet ist viel zu groß, um von einer Regierung oder von einer Organisation kontrolliert zu werden. In vielen Unternehmen gibt es Regeln, aber wenn sie merken, dass diese Einschränkungen ihnen schaden, werden sei sie überarbeiten und ihren Mitarbeitern mehr Spielraum an die Hand geben müssen.
Inwieweit sind all diese Veränderungen, über die wir gesprochen haben, internationale Phänomene?
Es bestehen große Unterschiede in der Art, wie Menschen diese Technologien nutzen, um zu lernen, um sich mit anderen zusammenzutun, um zu kommunizieren, um Kommerz oder ein Geschäft zu betreiben. Die Bevölkerung in Singapur etwa ist extrem technikaffin, weil ihr Land eines der höchst verkabelten beziehungsweise mit kabelloser Technik eingerichteten Länder der Welt ist. Völlig anders ist die Lage im westafrikanischen Gambia, einem Kleinstaat, der nicht einmal flächendeckend über Elektrizität verfügt. Doch eigentlich sitzen alle Menschen im gleichen Boot: Alle teilen den Wunsch nach Bildung und nach einem guten Leben. Die Nöte, Sehnsüchte und Hoffnungen sind also überall gleich, aber die Möglichkeiten und Zukunftsaussichten in den verschiedenen Ländern unterscheiden sich voneinander. Das heißt, die Zukunft ist noch nicht angekommen.
Interview: Bettina Wallbrecht und Stefanie Hornung