Die Österreich Werbung in ihrer „VUCA-Welt“
 

group of people having a meeting
Foto von Mario Gogh

Viele Führungskräfte und Mitarbeiter beschreiben die heutige Arbeitswelt als VUCA (englische Abkürzung für volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig). Diese Rahmenbedingungen haben Auswirkungen auf das Lernen und die Entwicklung von und in Organisationen. In vielen Bereichen ist der Bedarf an Faktenwissen dem Bedarf an Methodenund Prozesswissen gewichen. Lernkonzepte müssen den Herausforderungen dieser „New World of Work“ begegnen. 

Auch die Österreich Werbung (gegründet 1955) muss sich heute mit dieser komplexen Arbeitsumgebung auseinandersetzen. Mit weltweit rund 200 Mitarbeitern, von denen etwa die Hälfte im Headoffice in Wien tätig ist, die andere Hälfte in den 20 internationalen Vertretungen, sind Themen wie Virtualisierung und Agilität an der Tagesordnung. Hinzu kommt, dass die Tourismusbranche wirtschaftlichen Schwankungen unterliegt. Für die Führungskräfte bedeutet dies, dass der Druck zunimmt und sich die Anforderungen an ihre Rolle ständig wandeln.

Um den veränderten Rahmenbedingungen proaktiv zu begegnen, haben die Geschäftsführung und das Human Resource Management der Österreich Werbung 2013 einen Lehrgang für das Top- und Middlemanagement geplant.

Neue Arbeitswelten erfordern neue Lernformate

Besonders wichtig war, dass sich die Führungskräfte mit unternehmensspezifischen, zukunfts- und erfolgsrelevanten Themen auseinandersetzen. Diese persönliche Betroffenheit ist eine Voraussetzung für praxisnahes Lernen. Konkret sollte der Lehrgang folgende Ziele erfüllen:

 Befähigung der heterogenen Führungsmannschaft, eine gemeinsame Führungs-und Lernkultur zu entwickeln

 Förderung von Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein

 Abbildung der Unternehmensrealität im Lernkonzept

 Erweiterung von Führungskompetenzen

 Annäherung an die Idee des systemischen Zugangs,
insbesondere an systemische 
Führungswerkzeuge

 Unterstützung des Strategieprozesses 2020

Mit diesen Anforderungen trat die Österreich Werbung an die Berater von hrdiamonds heran, die den Führungskräftelehrgang extern begleiteten.
Nach etlichen, eher klassischen, 
Konzeptversuchen war klar: Praxisnähe, Systemtheorie und Eigenverantwortung lassen sich kaum in gewöhnlichen Mehrtagestrainings im Seminarraum umsetzen. Wenn die Führungskräfte Außergewöhnliches lernen sollen, muss auch der Rahmen, in dem sie lernen, außergewöhnlich sein. Die Didaktik musste den Inhalt widerspiegeln. Diesem Anspruch wurde das Lernformat „LERNEn.0“ am besten gerecht.

Führungskräftelehrgang der Österreich Werbung

Für die Teilnehmer des Führungskräftelehrgangs folgte diese Form des Lernens zunächst einem gewohnten Programmablauf, der nicht mehr zeitlichen Aufwand benötigte als „klassische“ Präsenzeinheiten im Seminarraum. Allerdings erforderte das Lernformat eine andere innere Einstellung. Denn die Teilnehmer sollten die Lerninhalte selbst erarbeiten. Dabei wurden sie jedoch nicht alleine gelassen, sondern gezielt unterstützt. Ein weiterer wesentlicher Faktor war der zeitliche Aspekt. Um Aha-Erlebnisse, Inspiration und wahre Erkenntnisse zu ermöglichen, benötigen die Teilnehmer Zeit, sich mit Dingen auseinanderzusetzen. Die Herausforderung bestand darin, die ohnehin ausgelasteten Teilnehmer mit Zeit nicht zu überfordern. Das gelang durch einen straff definierten Prozess, in dem Denkräume zu genau festgelegten Terminen eingeplant waren. Der Lehrgang dauerte ein knappes Jahr und war in drei Phasen geteilt:
 

1. Kick-off-Workshop: Definition der Lernthemen

Wie wollen wir bei der Österreich Werbung in Zukunft führen? Mit welchen Inhalten zum Thema Führung wollen wir uns im nächsten Jahr beschäftigen? Das waren die Fragestellungen, mit denen sich die Führungskräfte in einem zweitägigen Workshop in Wien auseinandersetzten. In Kleingruppen erarbeiteten sie insgesamt zwölf Lernthemen. Inhaltlich spannte sich der Bogen von Themen wie Kommunikation oder Führen von Führungskräften bis zu brandaktuellen „Druckpunkten“ wie Strategieimplementierung oder Generationenmanagement. Einige Themenbereiche spiegelten das Bedürfnis nach Sinn und Bedeutsamkeit in der Führung wider, beispielsweise Werteorientierte Führung oder Vertrauen.

2. Autonome Phase: Selbstorganisiertes
Lernen am Arbeitsplatz

Die autonome Lernphase dauerte ein halbes Jahr und lief aufgrund der räumlichen Trennung der Teilnehmer vorwiegend online über Lync, ein Tool für Videokonferenzen und Kollaboration, sowie über eine eigens geschaffene Lernplattform. Ziel dieser Phase war es, durch Reflexion und Austausch tiefere Auseinandersetzung mit einem Thema und Inspiration direkt am Arbeitsplatz zu ermöglichen. 

Zwölf Lerngruppen à fünf Personen bearbeiteten jeweils ein Thema. Dabei wirkte jeder Teilnehmer in zwei Kleingruppen mit. Wie oft sich die Kleingruppen zusammen-telefonierten und auf welche Aspekte sie sich genau konzentrieren wollten, war ihnen selbst überlassen. Die meisten Gruppen kamen durchschnittlich zweimal zusammen. Ein Lerncoach von hrdiamonds stand jeder Lerngruppe als Unterstützer zur Verfügung, gab bei Bedarf inhaltliche Impulse und half, den Prozess zu organisieren und zu moderieren.

Aufgabe des Coachs war es auch, dafür zu sorgen, dass das Thema nicht „zerfranst“. Folgende Hinweise halfen beispielsweise bei der Themenfokussierung: „Warum genau dieses Thema? Was interessiert euch daran und was ist die persönliche Betroffenheit? Wie machen es andere Firmen? Was können wir als einzelne Führungskräfte tun, damit das Thema gut gelebt und umgesetzt wird?“ Festgeschrieben im Prozess war lediglich ein Termin zur „Halbzeit“, das virtuelle „Maximum-Exchange-Treffen“. Bei diesem moderierten Onlinemeeting tauschten sich zwei Lerngruppen über ihre Erkenntnisse aus.

3. Abschlussworkshop: Ergebnispräsentation 
und Reflexion

Eine klare Anforderung an die Ergebnisse des Lernens war, dass diese möglichst praktikable und handlungsrelevante Erkenntnisse liefern sollten – in Form eines „Führungstoolkits“ für Anwender. Dieses existiert heute in Form einer virtuellen Bibliothek auf der internen Lernplattform. Dort findet sich beispielsweise eine „Effizienz-Fibel“, die Tipps für das Zeitmanagement gibt, eine Führungslandkarte, die das „Organigramm“ des Führungssystems als eine Art Soziogramm darstellt, sowie kurze Filme, die Themen humorvoll und metaphorisch zusammenfassen. Die Präsentationen fanden in einem Marktstand-Format statt und waren methodisch ähnlich kreativ gestaltet wie die Ergebnisse selbst. So entstand eine inspirierende Atmosphäre, die die zweitägigen Abschlussworkshops für die Führungskräfte zu „ihren“ werden ließ und sie ermutigte, Neues auszuprobieren. Das „Toolkit“ nutzen die Führungskräfte nach wie vor als Nachschlagewerk.

Von Design Thinking bis Hirnforschung

Diese Lerndidaktik ist wie das aktuell viel zitierte Design Thinking keine Neuerfindung. Das Innovative daran ist die Sammlung an Methoden und Ideen aus verschiedenen Disziplinen, die in einen klaren Rahmen und eine eng definierte Struktur gegossen ist. Im Sinne des Design Thinking gibt es zwar einen engen Prozessablauf und definierte Regeln, die Lerninhalte bleiben aber offen. Zudem sollen die Teilnehmer zum Beispiel die Ergebnispräsentation der Lerninhalte nach dem Motto „Show, don’t tell“ gestalten. So entstehen unter anderem Mindmaps, Systemlandkarten, Booklets und Poster, die der Führungskreis im Anschluss an den Lehrgang in Form eines „Führungstoolkits“ erhält. 

Weitere Impulse bekommt das Lernformat aus der Systemtheorie. Diese betrachtet Organisationen als soziale Systeme, die durch Kommunikation entstehen (Luhmann 1984 und 2001). Nur wenn alle Elemente (hier die Lerngruppen) miteinander kommunizieren, kann Wissen optimal fließen und das ganze Führungssystem davon profitieren. Diesen Gedanken setzt die Lehrgangsdidaktik um, indem jeder Teilnehmer parallel in zwei Lerngruppen arbeitet. Durch das gleichzeitige Lernen in zwei Kleingruppen mit maximal fünf Teilnehmern ist gewährleistet, dass bei jedem Treffen das Gedankengut von fünf Lerngruppenmitgliedern automatisch mit dabei ist, wodurch eine höchstmögliche Vernetzung der Themen entsteht.

Das grundlegende Lernverständnis stammt dagegen aus der Hirnforschung. Der Neurobiologe Gerald Hüther hat die Erfolgskriterien für nachhaltiges und freudvolles Lernen in vier Schlagworten auf den Punkt gebracht:

Erfolgskriterien für nachhaltiges Lernen
und deren Umsetzung im Lernkonzept

1. Bedeutsamkeit
Lernen fruchtet nur dann, wenn die Inhalte 
für die Lernenden Sinn machen und Bedeutung haben. Beim „LERNEn.0“ definieren die Teilnehmer selbst, was sie lernen wollen. Diese Themen werden immer von einer vorab definierten Fragestellung abgeleitet, die den unternehmensrelevanten Kontext setzt.

2. Autonomie
Autonomes Lernen bedeutet, als Teilnehmer 
keine vorgefertigten Inhalte zu bekommen, sondern selbst zu entscheiden, was hilfreich ist und wie gelernt wird. Diese Offenheit erfordert Mut von Auftraggebern und Trainern. Bei den Teilnehmern kann die Freiheit im ersten Moment auch Überforderung oder Unwillen auslösen, weil es anstrengender ist, selbstständig zu lernen, als nur Konsument von Inhalten zu sein.

3. Möglichkeit
Lernen braucht Raum, um Dinge auszuprobieren. Auch in eine Sackgasse zu geraten, ist eine Erfahrung und somit ein realistisches Ergebnis. Dieses Erfahrungslernen findet in Kleingruppen von maximal fünf Personen statt, moderiert durch einen Trainer. Aufgabe des Trainers ist es, Impulsgeber zu sein, Angebote zu machen, den Prozess zu moderieren, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und bei Bedarf Input zu geben.

4. Verbundenheit
Als soziale Wesen lernen Menschen am besten in einer Gruppe, in der Gemeinschaft und soziale Verbundenheit spürbar sind. Diese Verbindung gelingt im Kleinen durch eine enge Zusammenarbeit in den Lerngruppen und im Großen durch maximale Vernetzung („Maximum-Exchange-Treffen“ zum Austausch in der Großgruppe und das Arbeiten in zwei unterschiedlichen Lerngruppen).

Voraussetzungen für den Erfolg des
Lernformates: Vertrauen und Mut

Vertrauen ist ein wesentlicher Grundwert, den Unternehmen benötigen, um dieses Lernformat erfolgreich durchzuführen. Es braucht Vertrauen von allen Beteiligten – einerseits von der Geschäftsführung in die Führungskräfte, dass diese an den „richtigen“ Inhalten arbeiten, andererseits von den Führungskräften in die Geschäftsführung, dass sie ihre Lernergebnisse offen und wertschätzend aufnehmen wird. Dazu kommt, dass auch Personalverantwortliche und Trainer Vertrauen in den Prozess benötigen. Sich auf die Offenheit der Inhalte einzulassen, erfordert Mut.

Bei aller Lern- und Ergebnisoffenheit muss jedoch gewährleistet sein, dass die Lerngruppen inhaltlich, methodisch und in der Zusammenarbeit gut begleitet werden. Lernen in der Kleingruppe bedeutet nicht Laissez-faire-Chaos. Vielmehr gibt die externe Unterstützung wichtigen Input und hilft den Teilnehmern, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

 

Fazit: Autonomie und Selbstverantwortung
sind wirkungsvoll

Diese Form des Lernens hat nicht alle Führungsfragen der Österreich Werbung gelöst. Einige konnten die Führungskräfte sehr tief reflektieren, andere lediglich oberflächlich behandeln. Eine Evaluierung ein halbes Jahr nach dem Lehrgang zeigte jedoch: Die gefühlte aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Führung ist nach dem Lernformat bei allen Führungskräften von durchschnittlich knapp 60 Prozent auf knapp 80 Prozent gestiegen. Auch die eigene Rolle als Führungskraft rückte dadurch stärker in das Bewusstsein der Teilnehmer. Sie nehmen heute das Führungssystem als solches stärker wahr und spüren sein Potenzial. Die gemeinschaftlich erarbeitete Führungstoolbox dient als Nachschlagewerk im Alltag. 

Eine zentrale Erkenntnis aus dem Lehrgang: Es lohnt sich, den Mut aufzubringen, autonom und eigenverantwortlich zu lernen. Das Vertrauen, das den Führungskräften durch ein offenes Lernformat auf Augenhöhe entgegengebracht wird, fruchtet in erhöhter gegenseitiger Wertschätzung, Motivation und Engagement. 

Viele Ideen und Vorgehensweisen von „LERNEn.0“ sind nicht neu. Dennoch bleiben sie im Seminaralltag oft noch immer unbeachtet. Beim selbstorganisierten und praxisnahen Lernen setzen die Teilnehmer die Idee der Eigenverantwortung konsequent um. Das bedeutet auch, dass sich Personalisten und externe Trainer davon verabschieden müssen, zu wissen, was andere „wissen müssen“. Vielmehr gilt es, die Kompetenzen und Ressourcen jedes einzelnen anzuerkennen und ihn zu ermutigen, sich etwas zuzutrauen. Frei nach dem Motto: „Denn sie wissen genau, was sie tun.“

Literaturtipps

Durch die Decke gehen. Design Thinking in der Praxis.
Von Jürgen Erbeldinger und Thomas Ramge.
Readline Verlag 2013, 3. Aufl. 2015.

 

Begeisterung ist Doping für Geist und Hirn.
Von Gerald Hüther.
www.geraldhuether.de/populaer/veroeffentlichungen-von-gerald-huether/texte/begeisterunggerald-huether (8.3.2016).