So entlegen das Headquater und so langweilig das Handelsprodukt sein mag, so einmalig ist die Organisation von Würth. Die Unternehmensphilosophie ist stark an dem Vorbild von Reinhold Würth ausgerichtet, der die Schraubengroßhandlung seines Vaters zu dem weltweit agierenden Handelsunternehmen von heute gemacht hat. Bekannt ist der ‚Übervater’ des Unternehmens vor allem für sein kulturelles Engagement, das in den 60er Jahren mit dem Kauf eines Aquarells von Emil Nolde begann. Inzwischen hat er eine bedeutende Kunstsammlung von rund 10.000 Werken zusammengetragen, die seine Museen beispielsweise in Künzelsau oder in Schwäbisch Hall wechselnd zeigen. In seiner beruflichen Laufbahn hat sich Reinhold Würth außerdem intensiv mit psychologischen Themen wie Mitarbeitermotivation, Führungskultur und Fragen der Berufsethik beschäftigt.

people around table in cafeteria
Foto von AllGo – An App For Plus Size People

„Für ihre Aufgabe müssen die Mitarbeiter eine hohe Verbundenheit entwickeln und stolz sein, für Würth zu arbeiten“, betont Bernhard Nebl, Leiter Personalentwicklung Vertrieb bei Würth. Neben einem Grundgehalt können sich die Außendienstmitarbeiter durch ein differenziertes Prämiensystem Zulagen hinzuverdienen. Die Konzernfirmen und ausländischen Verkaufsgesellschaften sind weitgehend autonom in ihren Zielsetzungen, solange sie den Weg dorthin transparent machen. Das Vertrauen in die Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter kommt auch in der frühen Einführung der Gleitzeit ohne Zeiterfassungsgeräte zum Ausdruck. Das Prinzip dahinter lautet: Ein hohes Maß an Freiheit für die Mitarbeiter hat ein entsprechend positives Unternehmensergebnis zur Folge.

In diese Linie reiht sich auch die Mitarbeiterbefragung (MAB) ein. Eine wesentliche Besonderheit des MAB-Systems von Würth besteht darin, dass die Zentrale keine der Einzelgesellschaften zur Teilnahme nötigt. „Jemand zur Teilnahme an der Befragung zu zwingen wäre in unserer Unternehmenskultur undenkbar gewesen. Vielmehr muss das Angebot überzeugen“, kommentiert Nebl. Der Hauptverantwortliche für die Mitarbeiterbefragung sah in der Pilotphase des Verfahrens, ob der komplexen Organisationsstruktur von Würth eine Sisyphus-Arbeit vor sich: Die rund 360 Einzelgesellschaften sind äußerst heterogen und machen eine Prozessorganisation unmöglich, die lediglich von der Zentrale ausgeht. Entsprechend bestand die Lösung des Problems MAB im Gegenteil: Das dezentrale Prinzip des Unternehmens hat das MAB-Team auf die Befragung seiner Mitarbeiter übertragen. Jeder Gesellschaft steht ein Katalog von 100 Fragen zur Verfügung. „Sind die Entscheidungen Ihres direkten Vorgesetzten für Sie nachvollziehbar?“, „Erhalten Sie die Informationen, die Sie benötigen, rechtzeitig?“ oder „Sind Sie von den Produkten und Dienstleistungen Ihres Unternehmens überzeugt?“ – das sind Fragen, die in dem Standard-Katalog auftauchen. Diesen Fragebogen können die Führungskräfte vor Ort mit passenden Umfeldthemen ergänzen.

Die angebotenen Modelle der Befragung sind passend auf verschiedene Gesellschaftsstrukturen zugeschnitten. Das reicht von einem Basis-Modell, das nur eine Berichtsebene vorsieht und sich für kleinere Gesellschaften eignet, über ein erweitertes Basis-Modell bis hin zu einem Full Service Dienst, bei dem jede Führungskraft einer größeren Gesellschaft einen eigenen Report bekommt.

Dabei steht es den einzelnen Standorten nicht nur frei an der Befragung teilzunehmen. Indem die Gesellschaften für eine Beteiligung bezahlen müssen, weckt die MAB hohe Erwartungen, die sie – wie auf dem freien Markt – auch erfüllen muss. „Das hat den Vorteil, dass die Mitarbeiterbefragung ernster genommen wird“, erklärt Herr Nebl. „Außerdem steigen die Anforderungen der Teilnehmer an die Qualität der Befragung, was wiederum positiv für den Gesamtprozess ist.“

Vor der Einführung der Befragung stand eine Phase des internen Marketings: Auf internationalen Konferenzen stellte das Projektteam das Konzept im Top-Down-Verfahren vor. Ein weiteres Marketinginstrument bestand darin, die MAB in einen bereits bestehenden Personalentwicklungsprozess zu integrieren. Im Gepäck des Führungkräfte-Entwicklungsprozesses TALent gelang es, zusätzlich Teilnehmer für die Befragung zu gewinnen, die ursprünglich nur an dem Training interessiert waren. Schon nach einer ersten Pilotphase beteiligte sich ein Fünftel des Konzerns. Der Wettbewerb wird bei Würth groß geschrieben und folglich auch das Benchmarking zwischen den einzelnen Gesellschaften. „Es ist durchaus üblich, bei Führungskräften, die in der Befragung positiv abschneiden, nachzufragen, wie sie das machen“, erläutert Nebl die Situation. „Die meisten sind sich des Vorteils bewusst, dass sie voneinander lernen können.“ Das positive Feedback ermutigte zum Weitermachen und inzwischen nimmt fast die Hälfte des Konzerns an der Mitarbeiterbefragung teil.

Eine Mitarbeiterbefragung ist ein wichtiges strategisches Instrument, um ein positives Mitarbeiter-Management-Verhältnis zu etablieren und die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu steigern. Eine ungeschickte oder ausbleibende Reaktion auf die Ergebnisse kann aber positive Effekte auch zunichte machen. Experten warnen vor dem Kardinalsfehler, eine eigene Organisation für den Follow-up-Prozess zu implementieren. Das schafft Akzeptanzprobleme und erschwert den Kommunikationsprozess, bei dem die Mitarbeiter Veränderungen mit der Befragung in Verbindung bringen sollen. Diesen Fehler begeht Würth jedoch nicht. Der Folgeprozess der Mitarbeiterbefragung, in dem es um die Entwicklung von Plänen zur Verbesserung der Ergebnisse und die konkrete Umsetzung geht, bleibt komplett in den Linien. Damit der Prozess nicht im Arbeitsalltag untergeht, ist ein regelmäßiges Feedback an das Durchführungsteam der MAB vorgesehen. Alle drei Monate generiert diese Kontrollinstanz wiederum einen Prozess-Bericht. „Da wird schon nachgehakt, wenn beispielsweise der Maßnahmenplan fehlt“, sagt Nebl, „aber das verstehen alle als positiven Druck.“

Der Arbeitsaufwand für das Befragungsteam ist enorm: häufige Feedbackrunden, Controlling, Aktionspläne und dezentrale Verwaltung. Außerdem erfordert die dezentrale Struktur, dass die MAB in zwei Befragungsläufen pro Jahr erfolgt. Doch das ist der Preis für ein maßgeschneidertes Befragungsprogramm, dessen Erfolg der Strategie Recht gibt: Die Mitarbeiterbefragung hat die Verbundenheit der Mitarbeiter nochmals bekräftigt. Das Team hat sich vorgenommen, die Gesellschaften dahin zu entwickeln, dass sie alle zwei Jahre an der Befragung teilnehmen. Außerdem hoffen die Beteilten bald eine so breite Datenbasis und so viel Erfahrung mit der Auswertung der Ergebnisse zu haben, dass sie Items identifizieren können, die als Indikatoren für Fluktuation dienen. Fluktuation frühzeitig erkennen und reduzieren – das ist für den langfristigen Erfolg einer Vertriebsorganisation überlebenswichtig. Und wenn das gelingt, wäre die verkaufte Ware zwar immer noch „unsexy“, aber der Handelskonzern seiner Konkurrenz einen entscheidenden Schritt voraus.

Bild: Adolf Würth GmbH & Co. KG