photo of three person sitting and talking
Foto von Helena Lopes

Dumm, falsch und unsinnig

Wenn nun Anbieter im HR-Markt die Ergebnisse der Hirnforschung einsetzen, um die Sinnhaftigkeit von Methoden zu argumentieren, ist das klug. Dumm ist es allerdings, in dieselbe Falle zu tappen, wie die Gnomforschung, indem riesige Versprechungen zur pauschalen Optimierbarkeit des Menschen gemacht werden. Und schlichtweg falsch sind Aussagen wie „die Hirnforschung ist heute, was die Philosophie neulich war“. Als würde die Biologieforschung Tausende Jahre Kulturgeschichte in einem einstündigen Aufwasch ablösen können. Wahr ist aber: Kulturgeschichte trifft heutzutage auf Hirnforschung und zusammen eröffnen sie dem Menschen einen ganz neuen Spielraum.

Zudem haben Hirnforscher wie Manfred Spitzer und Gerald Hüther herausgearbeitet, dass hirntechnisch gesehen erst erlebtes Wissen auch im Menschen gebildetes Wissen darstellt. Was nicht erlebt wurde, wird vom Menschen nicht voll angenommen. Dass dies passiert, ist aber Aufgabe der Kultur. Von wegen, Philosophie war gestern … Kleine kulturgeschichtliche Anmerkung: Schon der Koran vermerkt, dass allein der Mensch für das, was er mit anderen Menschen anstellt, verantwortlich ist. Und bei Jesus klang es eigentlich auch nicht wirklich anders. Es geht doch wohl um eines: Der Wahrheit ins Auge zu sehen, statt sich mit Illusionen um sie herum zu mauscheln. Und das wäre dann auch in einer Finanzdebatte um Bildungsbudgets – natürlich netter und eloquenter – zu formulieren.   

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Fotocredit:
Rainer Sturm | www.pixelio.de



Wer in Leitdisziplinen forscht, kann sich über so manches Finanzzuckerl aus Politik und Wirtschaft freuen. Es wird gefördert, mit Hoffnung auf Gewinn. Da bläst der ein oder andere Wissenschaftler ins große Horn, was er am Mikroskop seiner Wissenschaft noch klein sieht. Das ist menschlich und wurde bekanntermaßen zuletzt unter anderem in der Genomforschung gesehen. Diese Disziplin war in den 1980er und Folgejahren groß in der Presse vertreten. Man versuchte, am menschlichen Gnom Gene zu entschlüsseln, von denen man annahm, dass jedes von ihnen für eine humane Funktionalität zuständig sei. Wissenschaftler mutmaßten, dass sie es mit Hunderttausenden Genen zu tun haben müssten und versuchten diese zu sequenzieren. So, dachten sie, könnten Gene korrigierend manipuliert werden.

Hirnforschung sichert ab

Die aktuelle gesellschaftliche Leitdisziplin der Hirnforschung hat das Potential, Menschen auf ihrem Weg in die Selbstverantwortung Schützenhilfe zu leisten. Vorausgesetzt, sie wird als das wahrgenommen, was sie tatsächlich ist: Sie kann lediglich den Bauplan des Menschen erklären, sie erklärt Funktionsweisen. Sie kann abseits von Ideologiedebatten Fakten liefern, die diskussionsentscheidend sind. Will sie aber konkrete Empfehlungen für Handlungen und Konzepte abgeben, muss sie sich mit den Sozialwissenschaften auseinandersetzen.  

Bedacht werden muss auch, dass jeder Mensch seinen ureigenen Bauplan besitzt, daher kann Hirnforschung nicht eine Wissenschaft sein, in der pauschal die Sache Tausender Menschen verhandelt wird. Ulrich Schnabel, Wissenschaftsjournalist bei der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ schrieb in 2013 über die Entzauberung der Neurodidaktik: Diese scheitere schon allein daran, dass jedes Gehirn einzigartig sei:  „Gene, Umwelt und Erziehung formen es so unverwechselbar wie den Fingerabdruck. Der eine entwickelt ein Talent für Sprachen, der andere einen Sinn für Mathematik (mancher auch beides oder nichts davon). Alles, was die Neuroforschung vermag ist, allgemeine Aussagen zu machen.“  

Ulrich Schnabel hat weitere Irrtümer im Umgang mit der Hirnforschung ausgemacht:

– Neurodidaktische Befunde stammen zum Teil aus Tierexperimenten.
  Die Übertragbarkeit auf Menschen ist teilweise fragwürdig.
– Neurodidaktische Rezepte für Praktiker stammen aus dem Toolkasten der Entwicklungspsychologie
– Bildungsrelevante Forschung gibt es in der Hirnforschung zu wenig. Dieser bedürfte es aber.


Patente angemeldet, Millionenschaden

In dieser Hochstimmung meldeten Forscher und Firmen Patente an. Doch nach vielen Jahren Forschung stellte sich heraus, dass das Gnom lediglich 30.000 Gene umfasst und damit nicht mehr zu bieten hat als so mancher Regenwurm. Diese Nachricht wiederum hängte niemand so recht an die große Glocke. Der Imageschaden der Gnomforschung ist schlichtweg eine Sache der Dramaturgie gewesen: Erst die Trommel rühren, um Spielraum zu bekommen und dann leise abräumen müssen, wenn die Melodie dürftig bleibt.

Wir sind zum Schluss, was unsere
Rahmenbedingungen zulassen


Diese Niederlage hat für die Gesellschaft eine fundamentale Bedeutung, wie der Hirnforscher Gerald Hüther in einem Vortrag berichtete, den er in 2006 in St. Gallen hielt. Nachdem die Menschheit Jahrtausende lang eine höchste Instanz in der Persona Gottes für gesellschaftliche Rahmenbedingungen verantwortlich machte und nun erkennen musste, dass auch die kleinste Instanz – die Gene – nicht verantwortlich gemacht werden können, kommt sie notwendig bei sich selbst an. Sie selbst schafft die Bedingungen dafür, dass es Leid, Glück, Massenelend, Chancen und Zukunft gibt. Und dies – so Gerald Hüther – ist die ganz große Wende in der Geschichte der Menschheit.

              ZITAT
          Erkenntnis aus der Biologie und Hirnforschung:
                   Es sind die Rahmenbedingungen, die entscheiden,
            ob ein Potential überhaupt entfaltet werden kann.
                   Gerald Hüther | St. Gallen | 2006