Die Corona-Pandemie hat die Rahmenbedingungen für Recruiting, Bewerbermanagement und Onboarding gehörig durcheinandergewirbelt. Kontaktbeschränkungen und Homeoffice fordern digitale Lösungen, transparente Abläufe und intensivere Kommunikation. Wie gehen die Unternehmen mit dieser Situation um? Welche Tools und Techniken haben sich bewährt beim Finden und Einarbeiten neuer Teammitglieder? Und wie lässt sich der Prozess am besten bewältigen? Wie eine gut geplante Bergtour, bei der Unplanbares dazu gehört.

Bevor das gekrönte Virus weltweit die Regentschaft übernahm, war der Fachkräftemangel das den Arbeitsmarkt beherrschende Thema. Manch einer reibt sich nun verwundert die Augen: Wo ist der Mangel hin? Experten warnen, dass viele Engpässe nicht verschwunden sind, sich allenfalls Schwerpunkte und Aufmerksamkeiten verschoben haben. Während Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nicht mehr wissen, wie sie den Notstand bewältigen sollen, setzen viele Betriebe in Eventmanagement, Tourismus, Handel und Hotellerie mittlerweile Personal frei.
Die Folgen der Corona-Krise in Form von Entschleunigung, Kurzarbeit und Personalabbau nehmen zwar hier und da den Druck aus dem Recruiting-Kessel, erhöhen jedoch gleichzeitig die Anforderungen in Sachen Digitalisierung.
Ein Virus als Brandbeschleuniger?
Die wohl sinnvollste Konsequenz liegt auf der Hand: die durch die ausgebremste Jagd nach Fachkräften entstandene Zwangspause nutzen, um Werkzeuge und Waffen zu schärfen. Das bedeutet, Recruiting-Strategien überdenken, die Candidate Journey analysieren, die Arbeitgebermarke aufpolieren, Prozesse durchleuchten, Instrumente abstimmen, Beteiligte schulen. Also all das tun, was im hektischen Alltag oftmals auf der Strecke bleibt. Denn eines scheint gewiss: Der Bedarf an Fachkräften überrollt die Untätigen spätestens dann, wenn das Virus samt Infektionsgeschehen in welcher Form auch immer beherrschbar geworden ist.
Alle Wege führen nach Digitalien
Das Institute for Competitive Recruiting (ICR) unter der Leitung von Wolfgang Brickwedde hat im März eine laufende Umfrage zum Thema „Recruiting in Zeiten von Corona“ gestartet, an der sich mehr als 500 Arbeitgeber im deutschsprachigen Raum beteiligten. Anhand der Ergebnisse lässt sich eine Entwicklung vom ersten Schock bis zu Anzeichen der Erholung und Reaktivierung erkennen.
Mittlerweile glauben nur noch 44 Prozent der Teilnehmer, dass das Recruiting insgesamt zurückgefahren wird; Ende März waren es noch 56 Prozent. Allerdings erwarten auch nur 13 Prozent, dass Recruiting-Initiativen künftig ausgebaut werden. Parallel dazu suchen offenbar weniger Arbeitnehmer aktiv nach einer neuen beruflichen Herausforderung: 70 Prozent der teilnehmenden Active Sourcer berichten von einer gesunkenen Wechselwilligkeit bei den Kandidaten. Ob ein punktueller oder genereller Wandel vom Arbeitnehmer- zum Arbeitgebermarkt eingeläutet ist, wird sich zeigen.
Mehr als die Hälfte der Teilnehmer (55 Prozent) glaubt, dass sich die Digitalisierung im Recruiting durch- und festgesetzt hat. „Zwei Drittel der […] Unternehmen werden ihr Recruiting deutlich stärker digitalisieren“, heißt es in der Studie. Dies bezieht sich vor allem auf die Durchführung von Interviews (74 Prozent) und das Onboarding (49 Prozent). Die Umstellung auf zeitgleiche Video-Interviews bestätigten Ende August bereits 72 Prozent der Studienteilnehmer. Nach einem anfänglichen Rückgang laden auch wieder mehr Unternehmen ihre Top-Kandidaten zu persönlichen Vorstellungsgesprächen ein (55 Prozent). Zudem verfliegt die Unsicherheit in Sachen virtuelles Onboarding. Ende März waren 41 Prozent der Teilnehmer diesbezüglich eher ratlos, Ende August nur noch 5 Prozent. Analoge und digitale Onboarding-Aktivitäten gehen dabei Hand in Hand.
Transparenz wirkt
Und wie kommunizieren Arbeitgeber ihren Umgang mit den Folgen der Corona-Krise? Während einige (noch) nichts unternehmen, nutzen insgesamt zwei Drittel ihre Karriereseiten, Stellenanzeigen oder den Moment der Direktansprache für Informationen und Hinweise. Transparenz wirkt: Die Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu fragt mit dem „Covid Employer Transparency Ticker“ seit Anfang April auch diesen Aspekt ab.
Das Karrierenetzwerk e-fellows.net fand ferner im Rahmen einer Studie Ende März heraus: Mit Blick auf die Zukunft gaben 44 Prozent der Teilnehmer an, dass die Veränderungen im eigenen Recruiting-Prozess langfristig Bestand haben werden, während 28 Prozent von einem „back to normal“ ausgingen.
Eva Zils, Gründerin des HR-Hackathons, bringt es auf den Punkt: „Corona hat uns in eine Ausnahmesituation katapultiert. Dadurch ist ein immenser Veränderungsdruck entstanden.“ Das vielzitierte „new normal“ sei ihrer Ansicht nach eher ein „next working normal“. Sie bezweifelt jedoch die nachhaltige Wirkung so mancher Aktivitäten. „Viele Unternehmen und Mitarbeiter wollen sich gar nicht auf eine andere Art zu arbeiten einlassen.“
Die Zeichen stehen auf Aufbruch
Allen Widersprüchen und Unsicherheiten zum Trotz: Einigeln im Basislager und warten, bis die Wolken vorübergezogen sind, ist keine Option. Die Zeichen stehen auf Aufbruch, und dazu gehört die Bewältigung von Steilhängen, Sturm und Stolpersteinen.
Michael Witt, Berater für Recruiting Strategie und Umsetzung, stellt fest: „Es wird versucht, Bewerbungsmöglichkeiten […] voll digital zu gestalten, Vorstellungsgespräche per Video abzuhalten und die Einstellungsprozesse bis hin zu Probetagen und Onboarding auch im virtuellen Raum abzubilden.“ Dazu gehöre der Einsatz digitaler Skill-Tests und Assessment Center. Aber: „Der Umstieg […] ist nicht allen Unternehmen leichtgefallen“, so Stefan Scheller, Betreiber des HR-Portals Persoblogger.de. „Überall dort, wo Prozesse noch stark papiergestützt sind, entstanden Probleme.“
Gewinner der Krise sind nach Ansicht der beiden Berater v.a. die Anbieter von Bewerbermanagement-Systemen. Carolyn Engels (StepStone) fasst die Vorteile der Digitalisierung im Recruiting zusammen: die Beschleunigung und Verschlankung der Auswahlprozesse, die Überwindung räumlicher Distanzen und Erweiterung des Bewerberkreises (landesweit und international), Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit sowie der positive Einfluss auf das Image als moderner Arbeitgeber.
Diese Vorteile gehen jedoch verloren, wenn die wertschätzende Grundhaltung im Bewerbermanagement fehlt. So wurden interessierte Kandidaten schon vor der Pandemie von vielen Unternehmen auf Distanz gehalten: kein Ansprechpartner, keine Antwort auf Fragen zum Recruiting-Prozess, keine formale Absage.
Social Distancing als Recruiting-Philosophie?
Dies ist ebenso zu hinterfragen wie die Stimmigkeit von Auftreten und Wirken im weiteren Verlauf. Sylvia P. bewarb sich mitten in der Krise um eine Position als Projektleiterin und berichtet: „Das Video-Interview mit HR lief super.“ Vor Ort dann der Schock: „Ein unterkühltes Umfeld und Desinteresse im Fachbereich. Von Willkommenskultur keine Spur. Am Ende des Gesprächs zog ich meine Bewerbung zurück.“
Um beiden Seiten die Chance zu geben, ein Gespür für eine gute Passung zu entwickeln, darf die persönliche Begegnung offenbar nicht fehlen. Für Stefan Scheller ist „das Wichtigste […], trotz aller Virtualität und Digitalisierung den menschlichen Kontakt in den Vordergrund zu stellen und sogar zu intensivieren“.
Michael Witt meint, es sei abzuwarten, ob die Qualität rein virtueller Einstellungsprozesse mit Bezug auf die Frühfluktuation stimmt. „Wenn ja, hätten wir einen Mythos im Recruiting beseitigt: Man muss Kandidaten persönlich kennenlernen, um eine bessere Auswahl treffen zu können.“ Er bemängelt „die grundlegende abwehrende Haltung gegen den Einsatz von digitalen Tools in HR und […] im Besonderen im Recruiting“. Durch Corona werde der Graben zwischen Bewahrern und Erneuerern gezwungenermaßen ein Stück weit überwunden. Eva Zils fügt hinzu: „In vielen Tech-Firmen, die rein virtuell aufgebaut sind, funktioniert es doch auch.“
Wahr- und Weisheit liegen wie so oft in der Mitte: Die Vorgehensweise hängt von der Vakanz und Funktion, der Einsatzdauer und -intensität, dem Entscheidungs- und Einstellungsrisiko und der Höhe der Kosten einer Fehlbesetzung ab. In vielen Fällen mag ein rein virtueller Prozess für beide Seiten die perfekte Lösung sein. In anderen kann die Begegnung im World-Wide-Web den persönlichen Eindruck Face-to-Face allenfalls ergänzen, jedoch nicht ersetzen.
Auch wenn die Wirtschaftswelt ausgebremst wurde: Tempo und Transparenz bleiben die Zauberworte im Recruiting. „Wenn sich ein Kandidat in dieser Zeit entschließt zu wechseln, muss es einfach schnell und professionell ablaufen“, mahnt Michael Witt. Das bedeutet: zügige Aktionen, Antworten und Reaktionen. Kontinuierliche und konsistente Kommunikation und Kontaktpflege statt monatelangem Hinhalten. So wie Distanz und Präsenz im „Normalalltag“ keine Gegensätze sind, kann Nähe auch trotz Abstand entstehen.
Bleibt alles anders
Hat sich beim Aufbruch im Tal noch alles auf die Frage konzentriert, ob Bewerbungsgespräche nur noch online durchgeführt werden sollten oder nicht, so wird spätestens bei der Ankunft am Gipfelkreuz klar, dass es um mehr geht. So weitet sich der Blick auf all die Themen, die durch die Corona-Pandemie ungeahnten Auftrieb bekommen haben. Das geht bis zum Horizont künftiger Arbeitsmodelle: Werden aufgrund der zunehmenden Flexibilisierung und Digitalisierung in Zukunft Projekt- und Patchwork mit den unterschiedlichsten Typen von Mitarbeitern und Kooperationspartnern selbstverständlich sein?
Quelle: Dieser Artikel ist der Ausgabe 2/2020 des blog.TALENTpro Magazins entnommen. www.talentpro.de/magazin