„Wer ist Ihr anstrengendster Mitarbeiter?“ Diese Frage stelle ich oft im Coaching oder im Führungsseminar, wenn es darum geht, Herausforderungen in der Führung am konkreten Fall zu bearbeiten. Die Antwort ist immer wieder sehr spontan und klingt dann beispielsweise so: „Das ist Herr M., der ist überhaupt nicht führbar, hat nur sein eigenes Projekt im Kopf, ist gut befreundet mit meinem Chef und kennt auch sonst ziemlich viele wichtige Leute im Konzern“. Oder auch so: „Das ist Herr K., der will immer alles ganz genau wissen, bevor er loslegt und sichert sich dann immer hundert mal ab, bevor er eine Entscheidung trifft und weil er alles perfekt machen will, dauert es ewig, bis er mal ein Ergebnis bringt“.

Nach kurzer Ursachenanalyse, woran es denn liegt, dass gerade dieser Mensch so schwierig ist, stellt sich schnell heraus, dass es gar nicht so sehr am betreffenden Mitarbeiter liegt, sondern an der schlechten „biochemischen Passung“ zu seiner Führungskraft.

Mein Gesprächspartner erkennt, dass ihn und seinen Mitarbeiter ganze Werte-Welten trennen: Ist ihm selbst Effizienz und Ergebnisorientierung wichtig, ärgert er sich beim „anstrengenden“ Mitarbeiter besonders über undefinierbare Bauchgefühle und viele umständliche Gespräche ohne klares Ziel und erkennbare Struktur. Ist ihm Vertrauen und Wertschätzung wichtig, regt er sich über Alleingänge und politische Schachzüge auf. Ist ihm Kreativität und unternehmerisches Handeln wichtig, nerven ihn Erbsenzählermentalität und Sicherheitsbedenken und ist ihm fundierte Qualitätssicherung wichtig, sind ihm geistige Schnellschüsse und Luftnummern ein Gräuel.

Dann ist auch schnell klar, die Verantwortung liegt zunächst bei der Führungskraft, das „Problem“ liegt hinter dem Zeigefinger. Und die Chance bei dieser Erkenntnis liegt auf der Hand: Gelingt es der Führungskraft, die Werte des Mitarbeiters als wertvoll zu bewerten und sich aktiv darauf einzustellen, dann ist nicht nur ein Problem gelöst, sondern der Beginn einer fruchtbaren Arbeitsbeziehung gemacht.

Diesen Vorgang nennen wir „werteorientierte Führung“ oder neudeutsch „Value Based Leadership“. Die Idee ist, dass die Führungskraft möglichst nah an den Werten und Antrieben der Mitarbeiter ansetzt, um eine motivierende Zusammenarbeit zu erzeugen. Diese führt zu einer engagierteren Leistung des Mitarbeiters und einer stärkeren emotionalen Bindung an die Führungskraft und das Unternehmen. Beides ist echter Mehrwert. Und die Führungskraft hat einen anstrengenden Mitarbeiter weniger. Weniger ist auch hier mehr.

Dass die Mitarbeiterbindung einen echten Mehrwert für das Unternehmen bedeutet, ist längst nicht mehr nur ein frommer Glaubenssatz der Gutmenschen aus der Personalentwicklung. Studien wie die von Gallup (Gallup GmbH 2010) zeigen klar auf, wie die Lage ist: Dem Anteil emotional gebundener Mitarbeiter in deutschen Unternehmen von nur 11% stehen 66% mit einer „Dienst nach Vorschrift- Mentalität“ und sogar weitere 23% gegenüber, die bereits innerlich gekündigt haben. Der Schaden für entgangene Produktivität wird insgesamt auf über 100 Milliarden Euro geschätzt.

Emotional gebundene Mitarbeiter strengen sich laut Erkenntnissen des Corporate Leadership Council (2004) zu 57% mehr an und steigern die Leistung damit um 20%. 87% dieser Personen weisen eine geringere Neigung auf, das Unternehmen zu verlassen, was beim demnächst wieder zu erwarteten Fach- und Führungskräftemangel ein „geldwerter Vorteil“ für die Firma ist.

Wie ein Team um Sears Roebuck schon 2002 im Harvard Business Review vorrechnete, entspricht eine Verbesserung des Engagement Index in der Mitarbeiterbefragung um 5 Punkte einer Verbesserung von ca. 1,3 Punkte in der Kundenwahrnehmung. Und das entspricht dann einem Zuwachs im Unternehmensertrag um 0,5 %.

Wie helfen wir nun der Führungskraft, die Werte und Motive ihrer Mitarbeiter schätzen zu lernen, um die emotionale Bindung wirksam zu erhöhen? Dazu nutzen wir die Erkenntnisse der Motivationspsychologie.
Im ersten Schritt analysieren wir mit Hilfe der W.E.R.T.-Typologie die individuelle Wertewelt der betreffenden Führungskraft, ihre wichtigsten Motive, die sie in der Arbeitswelt antreiben. Daraus leiten wir ab, welchen „natürlichen“, positiven Zugang sie zu Werten und Motiven anderer hat und gegenüber welchen Werten und Motiven sie sich erst einmal schwer tut.

Im zweiten Schritt lernt die Führungskraft, wie sie die Werte und Motive ihrer Mitarbeiter im Gespräch oder durch Beobachtung erkennen kann. Dabei ist entscheidend, mit dem Mitarbeiter so offen wie möglich über das zu sprechen, was ihm für seine Arbeit wichtig ist. Denn wenn er erkennt, dass sich seine Führungskraft wirklich für ihn interessiert, ist das bereits ein wichtiger Effekt in Richtung Verbesserung der Arbeitsbeziehung. Mitarbeiter honorieren echtes Interesse in der Regel direkt.

Im dritten Schritt werden Tendenzen der Führungskraft zum „Werte-Terror“ analysiert und abgebaut. Damit ist die Einstellung gemeint, dass andere Menschen „natürlich“ genau die selben Werte haben sollten, wie man selbst. Werte-Toleranz wird aufgebaut, wenn die Führungskraft erkennt, dass alle Werte nützlich und zielführend sind, wenn man sie leistungsfördern einsetzt.

Im vierten Schritt werden schließlich die Führungsinstrumente und das eigene Führungsverhalten auf die Wertewelt des jeweiligen Mitarbeiters abgestimmt. Das hört sich komplexer an als es ist. Die dafür notwendigen Fähigkeiten haben die meisten Führungskräfte oft schon durch entsprechende Seminare erlernt. Das Wollen macht den Unterschied.

Wenn ich dann nach einiger Zeit wieder einmal frage „wer ist Ihr anstrengendster Mitarbeiter“, dann höre ich meistens „mein Chef“. Aber das bekommen wir auch noch hin.



(Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich auf eine ausschließlich geschlechtsneutrale Formulierung verzichtet. Es sind jedoch immer beide Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung angesprochen.)


Weitere Informationen zur W.E.R.T.-Typologie finden Sie hier: www.wert-profil.de/

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