„Neue Wege für den Bereich Bildung zu erkunden, ist wichtiger denn je“, bestätigte die Bürgermeisterin der Stadt Bonn, Gabriele Klingmüller, in ihrer Begrüßungsrede. Sie rief die Preisträger dazu auf: „Halten Sie Ihre Visionen für eine nachhaltige Zukunft für jeden auf unserem Planeten aufrecht und erhalten Sie sich die Leidenschaft für Ihre wertvolle Arbeit!“ Dem fügte Markku Markkula, Präsident des EU Committee of the Regions sowie finnischer Leonardo-Ambassador, hinzu: „Als städtische und regionale Entscheider ist es unsere Aufgabe, daran, was Europa benötigt und verdient, mitzuarbeiten. Wir können etwas erreichen, aber nicht alleine, sondern nur mit Hilfe von Wirtschaft, Universitäten und Forschungseinrichtungen.“ Am Leonardo dabei zu sein, biete eine einmalige Gelegenheit, mit Menschen zusammenzukommen, die tolle Ideen haben und einen entscheidenden Beitrag hierbei leisten können. „Wir möchten lernen, was wir konkret tun können, in unseren Organisationen, in unseren Städten, in unseren Unternehmen.“

man facing MacBook Pro
Foto von Miguelangel Miquelena

Die eigenen Grenzen überwinden – die Welt ko-kreieren

Der erste Preis des Abends ging an Dr. C. Otto Scharmer: Der MIT-Professor und Gründer des Presencing Instituts in Cambridge erhielt für seine „Theorie U“ den Leonardo in der Kategorie „Thought Leader“. Mit seiner „sozialen Technik der Freiheit“ beschreibt er, wie mithilfe von Anwesenheit (presence), Wahrnehmung (sensing) und Achtsamkeit (mindfulness) – also durch ein bewussteres Wahrnehmen des Selbst und der Umgebung – von „der Zukunft her“ geführt werden kann. „Es gibt gute und schlechte Ignoranz. Der Unterschied ist, ob ich mich wohl dabei fühle, in dieser „Ignoranzblase“ zu bleiben oder zu handeln – oder ob ich meine Ignoranz bewusst als Instrument nutze, die existierenden Grenzen zu überwinden“, führte er aus.

„Ich bin sehr dankbar, dass die Arbeit von Otto Scharmer auf diese Weise gewürdigt wird“, erklärte der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther in seiner Laudatio. „Wir müssen uns öffnen und Neues zulassen, und das nicht, indem wir unsere Köpfe mit immer neuen Informationen füttern und immer neue Daten anhäufen und auch nicht mit immer besser werdenden Trainingsprogrammen.“ Dies seien die Strategien aus dem letzten Jahrtausend. „Im 21. Jahrhundert lautet das Erfolgsgeheimnis: zusammen lernen, voneinander lernen, gemeinsam arbeiten und Probleme lösen, und vor allem: Co-Kreativität. Co-Kreativität ist das herausragende Merkmal unserer Spezies.“ Womit er Parallelen zu aktuellen Erkenntnissen der Neurobiologie und den Sozialwissenschaften zog.

Zukunftsaussichten bieten – Potenziale freisetzen

Die beiden Gründer der Kiron Open Higher Education, Markus Kreßler und Vincent Zimmer, erhielten den „Young Leonardo”. Kiron bietet Geflüchteten ein weiterführendes Bildungsangebot. Der „Young Leonardo Award“ wurde 2015 zum ersten Mal an vier junge Pioniere im Bereich Lernen vergeben; in diesem Jahr wurde daraus eine eigene Kategorie.

Kreßler und Zimmer, die sich stark in der Flüchtlingsarbeit engagierten, stellten schnell fest, wie frustrierend das ist. „Da gab es Leute, die haben zwei Jahre auf ihr Interview gewartet, was zum Beispiel auch bedeutet hat, dass sie zwei Jahre lang keinen Sprachkurs bekommen haben,“ beschrieb Kreßler und fügte hinzu: „Das, was sie wirklich brauchten, war eine echte Perspektive zur Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt.“ Und die kam dann in Form von Kiron: „Geflüchteten eine Hochschulbildung und im Nachgang Zugang zu den traditionellen Bildungsinstitutionen zu ermöglichen, zu denen ihnen vorher durch die Flucht die Papiere fehlten, ist für uns ein Game Changer: Wir setzen das Potential dieser Menschen frei, machen sie zu Botschaftern in den Aufnahmegemeinschaften und helfen ihnen dadurch, nach dem Krieg ihre Länder wieder aufzubauen“, erklärte Vincent Zimmer.

Die herausragende Leistung von Kreßler und Zimmer bestehe für die Leonardo Jury und das Advisory Board in der sozialen Innovation und humanitären Leistung des Projekts, so Peter Pawlowsky, einer der Leonardo Ambassadores für Deutschland, in seiner Rede an die beiden Preisträger. Erstaunlich fand er auch die wahnsinnige Geschwindigkeit, mit der die beiden Kiron aufbauten und dabei zwischen politischen und menschlichen Bedürfnissen sowie zwischen traditionellen Systemen Grenzen überschritten sowie Brücken gebaut hätten. „Sie sind wirklich außergewöhnlich“, bestätigte auch Dr. Shyamal Majumdar, Direktor von UNESCO UNEVOC, der für berufliches und technisches Lernen verantwortlichen UN Institution, bei der Preisvergabe und betonte sein Vertrauen in die Jugend: „Wir Älteren haben eine Welt kreiert, die nicht immer schön ist; das wissen wir. Aber Ihr seid unsere Hoffnung!“

Die Weltsicht in die richtige Perspektive rücken

In der Kategorie Crossing Borders nahm Anna Rosling Rönnlund den Preis entgegen, den sie zusammen mit ihrem Schwiegervater Dr. Hans Rosling, Professor für internationale Gesundheit am Karolinska Institutet in Stockholm, und ihrem Ehemann Ola Rosling verliehen bekam. Gemeinsam sind sie Gründer der Gapminder Foundation in Schweden. Seit 18 Jahren verarbeiten sie offizielle Daten zu Lebensumständen und Standards der Menschen weltweit und speisen sie in ein selbst entwickeltes Open-Source-Programm für visuell animierte Statistiken. Das Ergebnis: Sie entlarvten „verschobene Weltsichten und alte Gesellschafts- und Kulturvergleiche, die von Vorurteilen und falschen Bewertungen geprägt sind, und sorgen so für ein eindrucksvolles Plädoyer gegen Vorurteile und künstliche Katastrophenszenarien in aller Welt. „Wir versuchen die Welt verständlicher und gleichzeitig objektiver zu machen“, erklärte Rosling Rönnlund im Rahmen der Preisverleihung. „Was wir täglich in den Medien sehen, ist meistens das Außergewöhnliche, Extreme – und daraus kreieren wir unsere sehr negative Sicht auf die Welt.“ Daher seien objektive Fakten nötig. Denn sie zeigen beispielsweise, dass sich die Lebensbedingungen über die Jahrhunderte für alle Teile der Welt stetig verbessert haben. „Da die Menschen jedoch keine Statistiken mögen – haben wir haben einen Weg gefunden, auf anschauliche Weise die Menschen hinter den Zahlen sichtbar und die Zahlen objektiver vergleichbar zu machen.“

„Was Ihr geschafft habt, ist, Menschen zum Umdenken zu bewegen, ihnen zu helfen, ihre falschen vorgefertigten Sichtweisen aufzugeben”, erklärte Prof. Dr. Wim Veen, Leonardo Ambassador für die Niederlande in seiner Lobrede für das Gapminder-Projekt. Mit ihrer Arbeit hätten die Roslings Daten Bedeutung verliehen, erklärte er weiter. „Viele, viele Leute habt Ihr bewegt und ihnen klar gemacht, das ihre Vorstellung davon, in welcher Welt sie heute leben, nicht so ist, wie sie es in der Schule gelernt haben.“

Für verantwortungsvolles Handeln

„Vorurteile sind ein Gift, das sich in die Herzen und Köpfe der Menschen setzt, das Denken und Handeln von Verantwortung trennt, und auf diese Weise den Weg für Ungerechtigkeiten ebnet”, zitierte Leonardo-Sekretär Günther M. Szogs den früheren Außenminister Hans Dietrich Genscher aus der dem ersten Leonardo-Preisträger Jaques Delors gewidmeten Laudatio aus dem Jahr 2010. Offenheit gegenüber Andern und Wissen über sie seien das, was zählt, damit gegenseitiges Verstehen und ein Zusammenkommen möglich seien.

„Mit diesen Worten hätte Hans Dietrich Genscher auch heute an unseren Tischen sitzen können“, überlegte Szogs weiter. Die Herausforderung, dies zu überwinden, sei heute noch aktuell, das sei die schlechte Nachricht. „Aber die gute Nachricht ist: Wir haben uns ein bisschen vorwärts bewegt. Heute haben wir viel diskutiert, nicht nur über Ignoranz und Vorurteile, sondern auch über die Mechanismen von Vorurteilen und die Logik von Ignoranz, damit wir diese hinter uns lassen können, damit wir zu besseren Urteilen kommen können, um verantwortungsbewusster zu handeln.“

Think Tank der Wissens- und Bildungsexperten

Die Möglichkeit, sich intensiv mit den Preisträgern, ihren Visionen und Projekten auseinanderzusetzen, und sich über das Thema des Tages – die Ignoranz – auszutauschen, nahmen die Gäste bereits tagsüber im Leonardo Transfer Meeting vor der abendlichen Preisverleihung wahr. „Wir alle haben eine Leidenschaft für das Lernen – und heute feiern wir diese!“ so hatte Alexander R. Petsch, Geschäftsführer HRM Research Institute und Mitinitiator des Leonardo-Awards, die Teilnehmer des Transfer Meetings am Morgen begrüßt. Bereits zum zweiten Mal fand dieser Workshop direkt vor der Preisvergabe statt. Die Preisträger haben in diesem Rahmen ausreichend Gelegenheit, ihre Projekte nicht nur vorzustellen, sondern auch, sich mit Stakeholdern aus dem Bildungsbereich, der Wirtschaft und der Gesellschaft auszutauschen und mit ihnen aktiv Gestaltungsmöglichkeiten für eine sinnvolle „Zukunft des Lernens“ zu entwickeln.

Weitere Informationen zum Leonardo-Award, seinen bisherigen Preisträgern sowie den Mitgliedern des Beirates sind unter www.leonardo-award.eu verfügbar. Zusätzlich folgen im Vorfeld der Veranstaltung weitere Pressemitteilungen zu den einzelnen Preisträgern.