Grenzen der Gleichbehandlung: Austauschkündigungen
Erklärter Zweck des AÜG ist der Schutz überlassener Arbeitskräfte (§ 2 Absatz 1 AÜG). § 2 AÜG regelt aber auch, dass der Einsatz überlassener Arbeitskräfte nicht die Arbeitsplätze der Stammbelegschaft gefährden darf. Die Gleichstellung von Leiharbeitskräften und der gleichzeitige Schutz der Stammbelegschaft können vor diesem Hintergrund zu einem Dilemma führen. Erst kürzlich hatte der Oberste Gerichtshof die Frage zu beantworten, ob im Fall von Rationalisierungen das Arbeitsverhältnis eines Stammmitarbeiters vorrangig zu schützen ist (8 ObA 31/13m).
Ein Arbeiter, der seit zwölf Jahren im Unternehmen beschäftigt war, wurde gekündigt. Seine Aufgaben erledigte daraufhin ein bereits seit einiger Zeit im Unternehmen eingesetzter Leiharbeiter. Der gekündigte Arbeiter empfand dies als ungerecht und klagte auf Nichtigkeit der Kündigung. Das Argument: Die Schutzbestimmung des § 2 Absatz 3 AÜG sei so zu verstehen, dass auch bei Wegfall eines Arbeitsplatzes aus Rationalisierungsgründen die Arbeitsverhältnisse der Stammarbeiter vorrangig zu schützen seien. Vor der Kündigung von Stammpersonal seien Leiharbeitnehmer ausgeübt werden könne.
Der Oberste Gerichtshof entschied, dass es grundsätzlich unzulässig ist, Stammpersonal aufgrund von Einsparungen zu kündigen und durch Leihpersonal zu ersetzen. Austauschkündigungen in dem Sinn, dass ein Stammarbeitnehmer gekündigt und durch einen Leiharbeitnehmer ersetzt wird, sind nichtig. Es kommt jedoch auf die Umstände des Einzelfalls an: Gibt es sachliche Gründe für die Kündigung eines Stammarbeitnehmers wie etwa eine geringe Qualifikation, ist die Kündigung bei gleichzeitiger Weiterbeschäftigung eines Leiharbeitnehmers zulässig.
Es gibt also kein generelles Verbot, Stammarbeitskräfte zu kündigen, solange Leiharbeitskräfte im Betrieb beschäftigt sind. „Austauschkündigungen“, so verlockend sie aus Kostengründen auch sein mögen, sind jedoch heikel, vor allem wenn Stammpersonal gekündigt und Zug um Zug durch eine neue Leiharbeitskraft ersetzt wird. Für die Kündigung eines Stammmitarbeiters, der (nach Umschulung und Einschulung) Arbeiten verrichten könnte, mit denen ein Leiharbeiter beschäftigt ist, braucht es einen sachlichen Grund.
Sind auch entgeltwerte Leistungen umfasst?
Das Gesetz lässt offen, ob Leiharbeitskräften auch entgeltwerte Leistungen wie Essensgutscheine, Dienstwagen oder ein Firmenparkplatz in einer externen Garage zustehen. Bislang herrschende, aber viel kritisierte Meinung ist, dass geldwerte Leistungen nicht von der Verpflichtung zur Gleichstellung umfasst sind. Für Entgeltleistungen ist vielmehr der Überlasser verantwortlich. Nicht von der Gewährungspflicht betroffen sind daher nach der bislang herrschenden Meinung freiwillige Leistungen wie:
- Gutscheine, die bei Dritten eingelöst werden können
- Firmendarlehen
- Geschenke
- Jahreskarten
- Mitgliedskarten in Fitnesscentern
- Aktienoptionen
- Zuschüsse zu Hochzeiten, Umzügen,
Museums-, Theater- oder Konzert-eintritten und
Prämien für Zusatz-krankenversicherungen
Gewährt der Beschäftiger direkte Entgeltleistungen an seine Leiharbeitskräfte, geht er ein Risiko ein. Die Zahlungen könnten ein Indiz für ein faktisches Dienstverhältnis zum Beschäftiger sein. Dies kann unangenehme Folgen haben – Sozialversicherung, Finanzbehörden und Arbeitnehmer können Forderungen gegen den Beschäftiger erheben. Unabhängig davon werden direkte Entgeltleistungen in der Regel auch für den Leiharbeitnehmer steuerpflichtig sein.
Sonderregelung bei Aus- und Weiterbildung
Das AÜG sieht bezogen auf Aus- und Weiterbildungen in § 12 Absatz 5 eine Sonderregelung vor: Überlasser und Beschäftiger sind verpflichtet, in geeigneter Weise den Zugang von überlassenen Arbeitskräften zu solchen Maßnahmen zu fördern. Was genau diese Förderungspflicht bedeutet, beantwortet bislang weder die Judikatur noch die Literatur. Eine Gleichbehandlungspflicht wie bei Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen besteht nach dem Gesetzeswortlaut nicht. Die Leiharbeitnehmer können den Zugang zu Aus- und Weiterbildungen beim Beschäftiger also nicht verlangen. Um die mangelnde Gleichstellungspflicht in diesem Bereich abzufedern, wurde mit 01.01.2013 der Sozial- und Weiterbildungsfonds geschaffen. Dieser Beitrag, kurz „SO“, muss der Überlasser gemeinsam mit den Sozialversicherungsbeiträgen abführen, und zwar derzeit nur für Arbeiter. Für Angestellte ist ab 2017 SO zu bezahlen. Der Fonds dient der Förderung von Weiterbildungen und der Auszahlung von finanziellen Zuschüssen während Stehzeiten. Ob und inwieweit dieser Beitrag im Rahmen eines erhöhten Stundensatzes auf den Beschäftiger „übergewälzt“ wird, ist Verhandlungssache zwischen Überlasser und Beschäftiger.
Verpflichtende Einbeziehung in Betriebspensionen
Ab 1. Jänner 2104 gilt, dass Leiharbeitskräfte ab einer Überlassungsdauer von mehr als vier Jahren für die weitere Dauer der Überlassung in Betriebspensionen nach dem Betriebspensionsgesetz einbezogen werden müssen (§ 10 Absatz 1a AÜG neu). Das bedeutet, dass der Beschäftiger für seine Leiharbeitnehmer Beiträge an die Pensionskasse zu leisten hat. Einschränkungen, die für die Stammbelegschaft gelten, wie etwa Wartezeiten, sind auch für Leiharbeiter gültig. Altersvorsorgevorhaben außerhalb des Betriebspensionsgesetzes fallen jedoch nicht unter die Einbeziehungsverpflichtung nach dem AÜG. Besteht eine gleichwertige Betriebspension beim Überlasser, entfällt die Verpflichtung des Beschäftigers.
Sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung
Wie weit geht die Verpflichtung zur Gleichstellung und wann kann eine ungleiche Behandlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitskräften aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein? § 10 Absatz 6 AÜG lässt eine unterschiedliche Behandlung von Leiharbeitskräften und Stammbelegschaft in Bezug auf Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen aus sachlichen Gründen zu. Ob ein sachlicher Grund vorliegt, ist und bleibt jedoch eine Einzelfallentscheidung.
Eine kurze Einsatzdauer der Leiharbeitskraft oder zusätzliche Kosten, die bei dem Beschäftiger anfallen, sind für sich allein keine sachlichen Gründe. Ist aber der Organisations- und Administrationsaufwand im Verhältnis zur Einsatzdauer der Leiharbeitskraft unverhältnismäßig, könnte dies einen sachlichen Grund darstellen.
Gelten für die Stammbelegschaft Zugangsbeschränkungen zu Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen, sind diese auch von Leiharbeitskräften zu respektieren. Haben etwa nur Mitarbeiter in bestimmten Positionen Anspruch auf Dienstkleidung und Wäscheservice, haben auch nur Leiharbeitskräfte, die auf solchen Positionen eingesetzt sind, diesen Anspruch. Wird ein Sommerfest für Mitarbeiter mit Kindern unter sechs Jahren organisiert, können an diesem auch nur Leiharbeitskräfte mit kleinen Kindern in diesem Alter teilnehmen. Erhalten Mitarbeiter einen Parkplatz am Firmengelände erst nach einer einjährigen Dienstzugehörigkeit, haben unter dieser Frist eingesetzte Leiharbeitskräfte keinen Anspruch darauf.
Ein Grund für eine gerechtfertigte Zugangsbeschränkung könnte beispielsweise der Umstand sein, dass es beim Überlasser vergleichbare Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen gibt, etwa eigene Sporteinrichtungen oder ein Sommerfest im Überlasserbetrieb. Oft haben aber Beschäftiger und Überlasser wechselseitig keine Kenntnis von jeweiligen betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen. Das ist jedoch riskant. Denn auch wenn die Verpflichtung zur Zugangsgewährung beim Beschäftiger liegt, muss der Überlasser die Gleichstellung überprüfen und für Abhilfe sorgen, wenn er weiß oder wissen muss, dass der Beschäftiger seine Verpflichtungen nicht einhält. Wie diese Abhilfe auszusehen hat, sagt das Gesetz nicht. Es ist davon auszugehen, dass der Überlasser den Beschäftiger zunächst auffordern muss, für Gleichstellung zu sorgen. Kommt der Beschäftiger seinen Pflichten nicht nach, könnte dies bedeuten, dass die Arbeitskraft beim Beschäftiger nicht eingesetzt werden darf. Der Überlasser kann sich in der Folge beim Beschäftiger für dadurch entstandene Aufwendungen regressieren. Dabei lässt das Gesetz jedoch wiederum offen, welche Aufwendungen davon umfasst sein sollen. Es ist daher für beide Seiten wichtig, über das Thema Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen zu sprechen und detaillierte vertragliche Regelungen zu treffen.
Die Novelle des AÜG mit 01.01. 2013 führte zahlreiche Änderungen ein, um Leiharbeitskräfte mit der Stammbelegschaft gleichzustellen. Als einen der wichtigsten Schritte zur Gleichstellung sieht das AÜG seitdem vor, dass Beschäftigerbetriebe Leiharbeitskräften den Zugang zu Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen gewähren müssen (§ 10 Absatz 6 AÜG). Diese Verpflichtung bedeutet für Beschäftiger überlassener Arbeitskräfte oft einen hohen administrativen Aufwand und Mehrkosten, denn die Maßnahmen gelten grundsätzlich ab dem ersten Tag der Beschäftigung und ohne zeitliche Mindesteinsatzdauer. Damit gelten sie auch dann, wenn die Leiharbeitskräfte nur wenige Tage im Betrieb tätig sind. Darüber hinaus stellt die Gleichstellungverpflichtung die Beschäftiger vor eine Reihe von Fragen. Diese im Einzelfall zu beantworten, ist häufig problematisch, denn höchstgerichtliche Rechtsprechung gibt es bislang kaum, Literaturstimmen einige. Es gibt nach wie vor zahlreiche offene Fragen und Graubereiche:
Was sind Wohlfahrtseinrichtungen und Wohlfahrtsmaßnahmen?
Das definiert das Gesetz nämlich nicht. Es verweist auch diesbezüglich auf kein anderes Gesetz, sondern gibt lediglich einige Beispiele: Danach sind unter Wohlfahrtseinrichtungen und -maßnahmen Kinderbetreuungseinrichtungen, Gemeinschaftsverpflegung oder Beförderungsmittel zu verstehen. Aber selbst diese Beispiele lassen Raum für Interpretation und sind weit gefasst.
Zu den Wohlfahrtseinrichtungen wird man
gemeinhin etwa Folgendes zählen:
- Werksküchen
- Werkskantinen
- Sporteinrichtungen
- Erholungsheime
- Pausenräume
- Werkswohnungen
- Pendlerbusse
- Betriebsarzt
- Parkplätze am Firmengelände
- Gratisgetränke oder Snacks im Betrieb
Dagegen sind Wohlfahrtsmaßnahmen etwa:
- Dienstkleidung
- Wäscheservice im Betrieb
- Impfaktionen
- Gesundheitstrainings
- Massagen
Eine wichtige Frage ist, ob der Beschäftiger verpflichtet ist, bestehende Wohlfahrtseinrichtungen zu vergrößern oder zu erweitern, wenn diese nur für die Stammbelegschaft dimensioniert wurden. Die herrschende Meinung sagt: Nein, eine Erweiterungs- oder Vergrößerungsverpflichtung könne aus dem Gesetz nicht abgeleitet werden.
Gleichstellung bei Betriebsvereinbarungen
Das AÜG sieht noch zahlreiche andere Regelungen vor, um die Gleichstellung von Stammbelegschaft und Leiharbeitskräften zu erreichen. So sind etwa neben den für vergleichbare Stammmitarbeiter geltenden gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen auch die im Beschäftigerbetrieb geltenden sonstigen verbindlichen Bestimmungen allgemeiner Art, die sich auf Arbeitszeit und Urlaub beziehen, zu beachten. „Sonstige Bestimmungen allgemeiner Art“ sind vor allem Betriebsvereinbarungen, die Betriebsurlaub, zusätzlichen Urlaubsanspruch, arbeitsfreie Zeit oder eine bezahlte Mittagspause betreffen. Auch hier ergeben sich knifflige Fragen für die Praxis, etwa ob Leiharbeitskräften zusätzlicher Urlaub aliquot zu gewähren ist. Da der Gesetzgeber keine Besserstellung von Leiharbeitskräften vorsieht, wird hier eine Aliquotierung zulässig sein.