Drei grundlegende Missverständnisse

Führung, so der Kern der meisten Definitionen, ist die zielbezogene Einflussnahme auf Menschen. Speziell in der US-amerikanischen Literatur wird sie primär als Aufbau von Gefolgschaft verstanden. Entsprechend dominieren politisch geprägte Führungsansätze wie die transformationale und die visionäre Führung. Dies ist nicht zielführend, denn Führung in Organisationen ist völlig anders gelagert: Ihre Intention ist die Erzeugung von Arbeitsleistungen; sie findet in eigens dafür geschaffenen Aufbau und Prozessstrukturen und im arbeitsrechtlichen Rahmen statt; eine übersteigerte Bindung an Führungspersonen ist gar nicht wünschenswert. Analoge Bedingungen finden sich lediglich in Teilbereichen, wie der hierarchieüber-spannenden Führung und der sog. Mikropolitik.

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Foto von Matt Hoffman

Organisationale Führung sollte sich daher nicht primär an politischer Führung orientieren. Der Versuch, betriebliche Führung zu organisieren, ist letztlich nichts anderes als innerbetriebliche Normsetzung. Es überrascht, wenn viele Modelle mit äußerst schwammigen Begriffen auf unterschiedlichsten logischen Ebenen arbeiten und Führungsaspekte fokussieren, die unmöglich arbeitsvertraglich geschuldet sein können. Vertrauen, Sympathie und Begeisterung zu wecken, Werte zu verkörpern, Wertschätzung zu vermitteln und Vorbild zu sein, ist zweifellos wichtig und wünschenswert, aber eben auch stark interpretationsbedürftig und schwer nachzuhalten.


Praxistipp

Führungsmodelle sollten an solchen Aspekten ansetzen, die sich sinnvoll und rechtssicher konkretisieren und durchsetzen lassen. Die Unterscheidung zwischen Mitarbeiterführung (als Aufgabe der Führungskräfte) und Personalmanagement (als Aufgabe der Personalabteilung) versperrt dabei unnötig den Lösungsraum. Sie sind ein und dasselbe. 


Führen ist eine Dienstleistung

Wo schlechte Führung thematisiert wird, richtet sich die Kritik oft gegen eine Haltung, die sich als selbstreferenzielle Führung beschreiben lässt: Der Vorgesetzte macht sich selbst zum Bezugspunkt des Handelns und nutzt seinen Status primär dazu, Ressourcen zu beanspruchen und seine Position zu verteidigen. Diametral entgegengesetzt ist dem eine andere Haltung, die in den letzten Jahren immer häufiger artikuliert wird: Führen heißt Dienen. Dieser auf dem theoretischen Ansatz des Servant Leadership (Greenleaf) beruhende Gedanke stellt selbstreferenzielle Führung vom Kopf auf die Füße. Er hat jedoch die entscheidenden Nachteile, dass er Führungskräfte tendenziell überfordert und als grenzenloses Bedienen missverstanden werden kann. Führung sollte daher als Dienstleistung gelten, wobei man klar definieren muss, welche konkreten Anforderungen an diese Dienstleistung gestellt werden. Sie hat dann zwei komplementäre Funktionen, und zwar eine Unterstützungs- und eine Ordnungsfunktion. Wie jeder andere Dienstleister – vom Kellner über den Lehrer bis hin zum Polizisten – erfüllen also auch Führende eine doppelte Funktion. Sie gewähren dem „Kunden“ Unterstützung und bewahren der Gesamtorganisation ihre Ordnung. Das Mischungsverhältnis ist dabei von Fall zu Fall unterschiedlich. 


Praxistipp

Im Betrieb sollten Arbeitgeber die Idee des Führens als Dienstleistung mit doppelter Stoßrichtung etablieren, es an den Anfang aller Führungsleitfäden stellen und bei allen sich bietenden Gelegenheiten kommunizieren. Einmal als Idee verankert, prägt es die gegenseitigen Erwartungen und entzieht selbstherrlicher Führung den Boden.


Aufgaben der Personalführung

Die beiden Dienstleistungsfunktionen sorgen für die konstruktive Ausrichtung organisationaler Führung, sind aber naturgemäß weiter zu konkretisieren, was über die Führungsaufgaben geschieht. In der Tat beschreiten viele etablierte Führungstheorien – u. a. von Barnard, Drucker, Mintzberg, Malik oder Ulrich – den Weg, Führung über die zu erledigenden Aufgaben zu definieren. Der Aufgabenkatalog (vgl. Checkliste auf S. 460) steht in dieser Tradition. Die acht komplementären Aufgabenkategorien ergeben zusammen die Gesamtaufgabe der Personalführung, womit freilich noch nichts darüber gesagt ist, wem diese Aufgaben obliegen. Auch handelt es sich um eher allgemeine Aufgabenstellungen, die noch in konkrete Tätigkeiten umzusetzen sind. Übrigens: Planen, Entscheiden, Kommunizieren usw. sind keine Führungsaufgaben, sondern Elementarvorgänge, die fast überall im Leben eine Rolle spielen. Sie sind damit auch Teil des Führens, konstituieren es aber nicht.

Geteilte Führung

Personalführung liegt nicht in der alleinigen Verantwortung des Vorgesetzten. Zum einen wäre dies angesichts des oben vorgeschlagenen umfassenden Aufgabenkatalogs schon theoretisch gar nicht umsetzbar, zum anderen entspricht es auch nicht der gelebten Praxis. Vielmehr sind am Führungprozess immer mehrere Akteure beteiligt. Theoretische Grundlage hierfür ist der Ansatz des Shared Leadership, der freilich fast ausschließlich die Verlagerung von Einflussprozessen auf die kollegiale Ebene sowie teilweise auch die Selbstführung des Mitarbeiters thematisiert.

Beteiligt sind jedoch regelmäßig auch die obere Führungskraft sowie der Personalmanager. Diese komplementären Akteure übernehmen jeweils unterschiedliche Teile der einzelnen Führungsaufgaben. Grafik 1 vereinfacht den Sachverhalt, indem sie die Verteilung in Bezug auf Kategorien und nicht in Bezug auf einzelne Aufgaben darstellt. Die Verteilung der Führungsaufgaben auf die komplementären Akteure kann durchaus statisch erfolgen. So werden Qualifizierungsmaßnahmen in manchen Organisationen immer nur durch die Personalabteilung organisiert, nur durch die Führungskraft genehmigt und nur durch den Mitarbeiter angestoßen. Der Regelfall ist jedoch ein dynamisches Zusammenwirken der Akteure. Es wird den situativen Anforderungen des Alltags und den vielen Facetten der einzelnen Aufgaben eher gerecht.

Im Vordergrund steht dabei das Primat der Selbstführung: Idealerweise führt ein Mitarbeiter sich eigenständig, d. h. er übernimmt alle Führungsaufgaben selbst. Nicht alle Menschen aber sind hierzu in der Lage, und selbst diejenigen, die es sind, sind es nicht ausnahmslos immer und nicht in Bezug auf sämtliche Aufgaben. Aus eben diesem Grunde gibt es Führungskräfte! Sie haben dann – und nur dann – wenn der Beschäftigte eine Aufgabe nicht selbst wahrnimmt, kompensatorisch einzugreifen und die Angelegenheit zu übernehmen. Da nun aber auch Führungskräfte nicht immer ihrer Verantwortung nachkommen (können oder wollen), greifen sie und der Personalmanager nach dem gleichen kompensatorischen Prinzip ein. Auch Kollegen des Mitarbeiters können Führungsaufgaben wahrnehmen, z. B. wenn erfahrene Teammitglieder Neulingen Arbeit zuweisen oder für Qualifizierung am Arbeitsplatz sorgen.


Beispiel


Mitarbeiter Müller kennt seinen Arbeitsbereich, legt eigenständig fest, was gerade zu erledigen ist und hat keine Schwierigkeiten, sich selbst zu motivieren. Er ist jedoch unsicher, ob seine Leistungen wirklich den Erwartungen entsprechen und er kann einen Dauerstreit mit einem Kollegen nicht beilegen. In den beiden letzteren Punkten ist daher die Führungskraft gefordert, die sich jedoch nur des Konflikts annimmt. Die obere Führungskraft und/oder der Personalmanager erkennen dies und stellen sicher, dass Müller ein Feedback zu seiner Arbeitsleistung erhält. 

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Dieser Mechanismus gewährleistet zum einen, dass alle Führungsaufgaben tatsächlich wahrgenommen werden. Zum anderen ist er geeignet, dem Missbrauch von Macht vorzubeugen (i. S. d. berühmten „Checks and Balances“). Zu beachten ist: Wenn Vorgesetzte große Teile der Führungsaufgaben kompensatorisch übernehmen, bindet dies enorme Teile ihrer Arbeitszeit und festigt auf die Dauer die Unselbstständigkeit des Arbeitnehmers. Es lohnt sich daher, das kompensatorische Eingreifen nur als vorübergehende Maßnahme zu verstehen und die Selbstführungsfähigkeiten des Mitarbeiters nach und nach auszubauen. Wie man es auch dreht und wendet: Wenn Personalführung flächendeckend funktionieren soll, sind alle Akteure gefordert.

Praktische Umsetzung

Die drei beschriebenen Elemente – Funktionen, Aufgaben, und Akteure – bilden den Kern der komplementären Führungstheorie. Für die praktische Anwendung ist freilich mehr erforderlich, und zwar die Umsetzung in konkrete Führungstätigkeiten, wie Gespräche und Sitzungen. Diese lassen sich treffend als Führungsroutinen bezeichnen, denn sie sind zumindest potenziell wiederkehrend, bezeichnen ein vorgesehenes Handeln und sollten erprobt bzw. eingeübt sein.

Sie dienen der Umsetzung der Führungsaufgaben und unterscheiden sich von Akteur zu Akteur. Zu nennen sind: ›› Jahres-/Mehrjahresroutinen (wie Personalbudgetplanung, Beurteilungs- oder Zielvereinbarungsgespräch, jährliche Teamveranstaltung), ›› Dauerroutinen im Wochen- oder Monatsrhythmus (Mitarbeitergespräch, Teamsitzung, Kurzbesuch am Arbeitsplatz etc.), ›› Bedarfsroutinen (z. B. Disziplinar- oder Konfliktgespräch, Rekrutierungsprojekt, Wiedereingliederung kranker Mitarbeiter). Bei der Wahrnehmung der Führungsroutinen wendet der Vorgesetzte die im Unternehmen vorhandenen Führungsinstrumente an. Der letzte Begriff ist in der Literatur weit verbreitet, wird jedoch i. d. R. überdehnt und schließt dann auch die Routinen ein. Hier soll er den formalisierten Hilfsmitteln vorbehalten bleiben, die die Mitarbeiterführung unterstützen (u. a. Regelwerke, Systeme, Programme und Formulare). Diese konzeptionelle Differenzierung hat es in sich: Führung wird nicht durch das Instrument, sondern durch seine Anwendung ausgeübt – eine Frage der Führungsqualität, aber auch eine Frage der innerbetrieblichen Rollenverteilung.


6 Was hat die Führungskraft zu tun?

Führungskräfte beschäftigen sich typischerweise mit drei Tätigkeitsfeldern: Der Sachgeschäftsführung („Business Management“), der Personalführung („People Management“) und der Selbstführung („Self Management“). Sachentscheidungen und -tätigkeiten, die eine Führungskraft nicht delegiert, sondern sich vorbehält bzw. an sich zieht, liegen in der Schnittmenge von Sachgeschäftsführung und Personalführung. Welche Tätigkeiten im konkreten Fall wahrzunehmen sind, ist letztlich eine aufbauorganisatorische Frage. Klar ist: Wer sich überwiegend mit Sachgeschäftsfragen (z. B. wichtigen Kunden) und Selbstmanagement (z. B. Reiseplanung) auseinandersetzen muss, dem bleibt wenig Zeit für Mitarbeiterführung.


Wichtig 


Die tatsächliche Verteilung der Arbeitszeit im Führungsalltag ist zu analysieren. 
Bleibt überhaupt genug Zeit für gute Personalführung? Die Führung der direkt unterstellten Mitarbeiter – nur um diese geht es hier – ist also ein wichtiger Teil der beruflichen Tätigkeit der Vorgesetzten. Ihre Rolle ist es, festzustellen, welche Führungsaufgaben der Beschäftigte selbst erfüllt und (nur) dort, wo Defizite bestehen, einzugreifen. Dies geschieht im Rahmen der oben angesprochenen Führungsroutinen.

 

Praxistipp


Arbeitgeber sollten definieren, welche Führungsroutinen eine Führungskraft im Betrieb in welcher zeitlichen Frequenz wahrzunehmen hat und nachhalten, ob dies auch geschieht. Hierzu sind unternehmensspezifische Empfehlungen zur Umsetzung der Routinen und entsprechende Trainings erforderlich. Zwar besteht ein gewisser Spielraum bei der Definition, letztlich wird sich jedoch in fast allen Organisationen und Führungsumfeldern ein ähnliches Bündel von Routinen als sinnvoll und erforderlich erweisen. Im Mittelpunkt steht dabei das regelmäßige Mitarbeitergespräch, das der Umsetzung fast aller Führungsaufgaben – von der Aufgabendefinition über das Leistungsfeedback bis hin zur Unterstützung in Veränderungsprozessen – dient.


Beispiel


Viele Unternehmen verfügen über formalisierte Bonussysteme, die als 
Anreizinstrumente zwar wirken, in der Praxis aber häufig massive Fehlsteuerungen auslösen (z. B. einseitige Vertriebszielerfüllung unter Vernachlässigung von Risiko, Sozialverhalten und Innovation). Im Rahmen der Führungsroutinen muss der Verantwortliche das Instrument zwar anwenden, hat jedoch zugleich die Aufgabe, das Anreizfeld abzurunden, 
indem er bspw. zusätzliche Sozialanreize setzt (vgl. Kaehler, a. a. O.).

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Obere Führungskräfte tragen übrigens – neben dem Führen der direkt unterstellten Managementebene – auch Verantwortung für die hierachieüberspannende Führung (bspw. über Ansprachen an alle Arbeitnehmer) sowie die Gestaltung von Führungsstrukturen und -instrumenten. Diese erfordern gesonderte Routinen.

7 Was Personalmanager beitragen: HR-Co-Management

Führung und Personalmanagement – oben war bereits die Rede davon – sind ein und dasselbe. Die Personalfunktion ist dabei in unterschiedlicher Weise an der Personalführung beteiligt, was sich naturgemäß in ihren Aufbaustrukturen und eigenen Führungsroutinen niederschlägt. Zum einen – ein ganz wesentlicher Aspekt – bringt sie die HR-Sicht in geschäftsstrategische Fragen ein. Dies gehört indes nicht zur Personalführung im engeren Sinne, sondern lässt sich eher als Schnittmenge zur Sachgeschäftsführung verstehen. Zum zweiten steht sie, gemeinsam mit den oberen Führungskräften, in der Pflicht, hierarchieüberspannende Führung und die Entwicklung und Umsetzung wirksamer HR-Instrumente zu gewähleisten. Drittens übernehmen Personalmanager bestimmte Personalführungsaufgaben in alleiniger Verantwortung. So wirken zwar an der Personalstrategie, -auswahl oder -administration durchaus auch andere Führungsakteure mit; die Durchführung komplexer und sensibler Vorgänge bleibt jedoch in aller Regel HR vorbehalten. Viertens spielen Personalmanager als quasi letztinstanzliche Führungsakteure eine wesentliche Rolle in der oben geschilderten kompensatorisch-situativen Führungsdynamik. Ohne dieses wichtige Regulativ, dass sich als HR-Co-Management bezeichnen lässt, ist gute Führung nicht flächendeckend zu realisieren.


Fazit

Der vorgestellte Ansatz – näher beschrieben im Buch „Komplementäre Führung“ – bietet eine neue theoretische Grundlage für organisationale Führungsmodelle. Solchermaßen eignet er sich zur praktischen Gestaltung von Führungsstrukturen und kann als konzeptioneller Ausgangspunkt für die Managementdiagnostik und Führungskräfteentwicklung dienen.


Quelle: Arbeit und Arbeitsrecht 8/14