Kompetenzen sind Fähigkeiten, die dazu beitragen, dass Menschen in offenen, unüberschaubaren, komplexen, dynamischen und zuweilen chaotischen Situationen kreativ und selbstorganisiert handeln (Erpenbeck, Grote, W. und S. Sauter, von Rosenstiel 2016). Es handelt sich nicht um persönliche Eigenschaften, sondern um Fähigkeiten, die sich entwickeln lassen (Erpenbeck, Hasebrook 2011). Im Unterschied zum Wissen schlagen sich Kompetenzen immer in Handlungen nieder. Kompetenzentwicklung setzt folglich voraus, dass die Lerner in realen Entscheidungssituationen Widersprüche, Konflikte oder Verunsicherungen schöpferisch verarbeiten und so neue Emotionen und Motivationen entwickeln.

Kompetenzen werden zu zentralen Zielen von Lernprozessen, die im Prozess der Arbeit, in Projekten und im Netz stattfinden.
Dank ihrer Kompetenzen können Mitarbeiter selbst in schwierigen Situationen erfolgreich agieren. Der betriebliche Bildungsbereich steht daher vor der Aufgabe, Lernsysteme zu entwickeln und Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Mitarbeitern und Führungskräften ermöglichen, ihre individuellen Kompetenzentwicklungsprozesse optimal selbst- organisiert zu gestalten. Dabei verändern sich die Rollen der Beteiligten – und damit auch der didaktisch-methodische Entwicklungsprozess – grundlegend.
Von der Belehrungs-
zur Ermöglichungsdidaktik
Eine strenge Kausalität zwischen Lehren und Lernen lässt sich nicht aufrechterhalten (Schüßler 2007). Deshalb ergeben Seminare mit ihrer skandalös geringen Lerneffizienz keinen Sinn. Lernen funktioniert dann besonders gut, wenn es sich um einen selbstorganisierten, konstruktivistischen Aneignungsprozess handelt – und nicht um belehrende, de facto nicht mögliche Wissensvermittlung (Arnold 2000).
Wie ein Lernarrangement auf einen Lernenden wirkt, wie er den Input aufnimmt und interpretiert, wie er verarbeitet, was er wahrgenommen hat, und wie viel davon später, wenn er sein Wissen anwenden möchte, überhaupt noch zur Verfügung steht, lässt sich nicht planen. Deshalb können wir Wissen und Kompetenzen nicht vermitteln. Wir können auch nicht den Anspruch erheben, Lernprozesse direkt beeinflussen zu können (Wahl 2006). Deshalb benötigen wir einen Wandel von der bisherigen „Belehrungsdidaktik“ zur Ermöglichungsdidaktik.
Ermöglichungsdidaktik hat zum Ziel, den Lernenden alles an die Hand zu geben, damit sie ihre Lernprozesse problemorientiert und selbstorganisiert gestalten können.
Die Ermöglichungsdidaktik ist die pragmatische Antwort auf die wirtschafts- und bildungspolitisch propagierte Forderung nach „Lebenslangem Lernen“. Sie geht davon aus, dass wir die Lernsituation nicht mehr vom Inhalt her, sondern mit Fokus auf den Lernenden als Lernrahmen gestalten (Arnold 2000). Die Lernplaner konzentrieren sich nicht mehr auf die detaillierte Gestaltung eines gemeinsamen Lehr-/Lernprozesses (Planungsfixierung), sondern darauf, den Erwerb von Wissen und Kompetenzen in individuellen, selbstorganisierten Lernprozessen zu ermöglichen (Realisierungsfixierung). Der Trainer wird zum Lernbegleiter, der die Bedingungen für die Selbstorganisation der Lernenden schafft und damit Kompetenzaufbau ermöglicht.
Prozess zum Social Workplace Learning
Da beinahe alle Mitarbeiter und Führungskräfte aus einer Lernkultur kommen, die primär fremdorganisiert geprägt ist, schlagen wir vor, den Weg zur systematischen Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit zweistufig anzugehen.
1. Social Blended Learning
Im Rahmen eines Blended-Learning-Arrangements, also der methodischen Verknüpfung von E-Learning mit Präsenzveranstaltungen, das den Mitarbeitern wie gewohnt eine klare Struktur und Orientierung gibt, bearbeitet jeder Lerner sein persönliches, herausforderndes Praxisprojekt. In diesem begrenzten Rahmen kann er seinen individuellen Kompetenzentwicklungsprozess selbstorganisiert planen und umsetzen. Dabei baut er seine Kompetenz zur Selbstorganisation und seine Methoden- und Medienkompetenz in einem gemeinsamen Prozess mit seinen Lernpartnern und -begleitern auf.
Social Blended Learning ist Blended Learning in Verbindung mit einem herausfordernden Praxisprojekt unter Einbindung von Social Software, welche informelles, selbstorganisiertes und vernetztes Lernen ermöglicht (Sauter/Sauter 2015).
Die Lerner organisieren den Kompetenzentwicklungsprozess im Rahmen eines mit der Führungskraft vereinbarten Praxisprojektes selbst, von der Zieldefinition über die Lernplanung bis zur Erfolgskontrolle. Dabei werden sie von einem Lernbegleiter und der jeweiligen Führungskraft unterstützt. In Communities of Practice können die Teilnehmer selbstorganisiert ihre Erfahrungen aus den Projekten austauschen und gemeinsam weiterentwickeln.
Den „roten Faden“ der Lernprozesse bilden nicht mehr vorgegebene Curricula, die für alle Mitarbeiter gleich sind, sondern die individuellen Praxisprojekte der Beschäftigten.
Die Mitarbeiter lernen gemeinsam auf Augenhöhe mit selbst gewählten Lernpartnern, die sie meist wöchentlich zu einem Jour fixe treffen, eventuell unterstützt von Experten oder Mentoren. Da die Beziehungen zwischen den Lernpartnern überwiegend gleichberechtigt sind, sprechen wir auch von Co-Coaching (Dong 2011). Dieser Begriff beschreibt gegenseitige, für die effektive Kompetenzentwicklung der Coachingpartner förderliche Kollaborations- und Kommunikationsbeziehungen.
Der Lernbegleiter erweitert in diesem Szenario seine Rolle möglicherweise auch weiter zum E-Mentor. Beim E-Mentoring gibt ein erfahrener Lernbegleiter (Mentor) Erfahrungswissen und Eindrücke, meist online, an einen Lerner (Mentee) mit dem Ziel weiter, ihn in seiner persönlichen oder beruflichen Kompetenz innerhalb oder außerhalb des Unternehmens zu fördern. Bei besonders schwierigen Fragen oder bei der Entwicklung von Lösungen für Problemstellungen in der Praxis kann der Lerner eventuell auch auf Experten (E-Coaches) aus dem Netzwerk des E-Mentors zurückgreifen.
Das formelle Lernen in fremdorganisierter Form verliert in innovativen Lernsystemen zunehmend an Bedeutung, während Lernprozesse vermehrt durch reale Problemstellungen initiiert werden. Learning Communities wandeln sich daher häufig zu Communities of Practice (Wenger 1998). Die Mitarbeiter wählen dabei selbst Ziele, Inhalte, Strategien, Methoden und Kontrollmechanismen ihrer sozialen Lernprozesse. Die Lernkurse erweitern sich zu einem sozialen Netzwerk.
Dieses kompetenzorientierte Lernarrangement erfordert und fördert bei den Teilnehmern ein hohes Engagement und eine starke Teamorientierung. Die Verknüpfung des formellen Lernens in Workshops und E-Learning mit informellem Lernen über Transferaufgaben und Praxisprojekte im Netz hat sich als sehr motivierend und effizient erwiesen. Sie ist geeignet, die Lernkultur im Unternehmen grundlegend zu verändern.
2. Social Workplace Learning
Hat sich die Lernkultur der Selbstorganisation und des Social Learning im Unternehmen weitgehend durchgesetzt, lässt sich das Lernsystem in Richtung Social Workplace Learning entwickeln.
Social Workplace Learning findet selbstorganisiert bei der Arbeit und im Netz statt, wenn herausfordernde Problemstellungen zu bearbeiten sind.
Der Mitarbeiter nutzt dann die Möglichkeiten, an die er sich bereits in den Social-Blended-Learning-Arrangements gewöhnt hat. Er tauscht Erfahrungswissen in Communities aus und holt sich regelmäßig Feedback von Lernpartnern und -begleitern. Die Verantwortung für den persönlichen Lernprozess geht voll auf den Mitarbeiter über, der sich regelmäßig mit seiner Führungskraft und seinem Lernbegleiter abstimmt.
Es wird nicht mehr dann gelernt, wenn ein Seminar oder E-Learning angeboten wird, sondern dann, wenn Mitarbeiter im Arbeitsprozess Problemstellungen bewältigen müssen. Lernbegleiter und Führungskräfte unterstützen den Prozess als Entwicklungspartner. Workshops mit Lernbegleitern und Experten bieten die Möglichkeit, das Netzwerk zu pflegen, den Lernprozess zu reflektieren und aktuelle Fragestellungen mit Kollegen und Experten zu diskutieren. Für neue Mitarbeiter können Unternehmen regelmäßig Kick-offs anbieten.
Social Workplace Learning bedeutet konsequent umgesetzt einen Paradigmenwechsel. Nicht mehr die Personalentwickler oder die Trainer sind primär für die Lernprozesse der Lerner verantwortlich. Diese organisieren nunmehr ihre Kompetenzentwicklung selbst und in eigener Verantwortung. Formelle Lernprozesse zum Wissensaufbau, meist in E-Learning-Arrangements, und zur Qualifikation, überwiegend mit Blended-Learning-Angeboten, bilden dafür die notwendige Voraussetzung, sind aber nicht das Ziel.
Von der Personalentwicklung
zum Kompetenzmanagement
Die bisherige Personalentwicklung mit ihrer Konzentration auf formelles Lernen wandelt sich zum Kompetenzmanagement. Ihre wesentliche Aufgabe besteht darin, aus der Unternehmensstrategie und dem Werterahmen einen Ermöglichungsrahmen zu entwickeln, der individuelle Kompetenzentwicklungsprozesse im Prozess der Arbeit unterstützt.
Arbeiten und Lernen wachsen wieder zusammen.
Für klein- und mittelständische Unternehmen, die dieses innovative Lernsystem nicht selbst aufbauen können, werden überbetriebliche Bildungsanbieter diese Rolle übernehmen. Damit eröffnet sich für sie ein neues, attraktives Geschäftsfeld, das grundlegend veränderte Kompetenzen erfordert:
► Wissensaufbau über E-Learning-Arrangements
► Qualifikation in Blended-Learning-Arrangements
► Ermöglichung der selbstorganisierten Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit und im Netz durch einen bedarfsgerechten Ermöglichungsrahmen sowie Begleitung der Lernprozesse.
Die Umsetzung dieses Ansatzes erfordert Zeit. Denn eine grundlegende Veränderung der Konzeptionen, der Lernkulturen sowie der Rollen aller Beteiligten funktioniert nicht von heute auf morgen. Deshalb ist es notwendig, jetzt damit zu beginnen, die Strategie der inner- und überbetrieblichen Bildungsanbieter grundlegend zu verändern und zukunftsorientierte Geschäftsmodelle umzusetzen.
Webtipps
www.hoou.de
(Hamburg Open Online University)
www.open-educational-resources.de
(Website der Transferstelle OER, einem Think-tank zum Thema Open Educational Resources, gibt einen Überblick über offene, deutschsprachige Lernangebote)
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Quelle: personal manager - Zeitschrift für Human Resources | Ausgabe 3 Mai/ Juni 2016
Es reicht für bedarfsgerechte Lernarrangements nicht aus, teilnehmerorientierte, kooperative Lernphasen in den Unterricht zu integrieren. Die Lerner müssen vielmehr die Freiheit erhalten, ihre individuellen Lernprozesse ausgerichtet auf ihre Herausforderungen in der Praxis selbst zu gestalten. Soziale Lernplattformen können diesen Prozess unterstützen. Welche Elemente dabei wichtig sind, zeigt Abbildung 1 auf Seite 14.
Vier Elemente sind für das soziale Lernen am Arbeitsplatz entscheidend:
► Lernorganisation: Die gesamte Planung und Administration der individuellen Lernprozesse liegt in der Verantwortung der Lerner. Sie sind gefragt, ihre Lernprozesse während der Arbeit (Workplace Learning), unabhängig von Ort und Zeit (Mobile Learning) und nach dem individuellen Bedarf on demand (Micro-Learning) zu gestalten und zu steuern.
► Kommunikation: Soziale Lernplattformen können Mitarbeitern über E-Portfolios persönliche Zugänge zum sozialen Netzwerk des Unternehmens bieten und die gemeinsame Arbeit an Problemstellungen ermöglichen, zum Beispiel über Foren, Chats, Blogs, Wikis, Reflexions-Tools oder Instant Messenger. Sogenannte Workpads erlauben es den Lernenden, Dokumente gemeinsam zu bearbeiten, zu archivieren, zu verwalten und zu taggen, also zu indizieren oder zu verschlagworten. In Virtual Classrooms oder Webinaren können sie sich mit Lernpartnern und Experten unabhängig von ihrem Aufenthaltsort austauschen. Zu einzelnen Themenbereichen oder Kompetenzprofilen können Unternehmen zudem spezifische soziale Netzwerke anbieten.
► Lerninhalte und Dokumentation: Webbasierte Lernsysteme bieten eine breite Palette an formellen, aber insbesondere auch informellen Lerninhalten, welche die Mitarbeiter selbst entwi-ckeln. So erarbeiten sie beispielsweise in Praxisprojekten Lösungsskizzen, Fallstudien oder Checklisten, die über ihre Projekttagebücher in der Community of Practice analysiert, bewertet und optimiert werden. Hinzu kommen aktuelle Informationen, aber auch Links zu Open Educational Resources wie beispielsweise die Hamburg Open Online University (siehe Webtipps) sowie „Rapid E-Learning“-Tools zur Aufbereitung von Erfahrungswissen. Diese Wortschöpfung aus Rapid Prototyping und E-Learning bezeichnet einfache, schnelle und kostengünstige Entwicklungsmethoden für webbased Trainings durch klare, vorgegebene Strukturen für das Layout, die Gestaltung der Inhalte, für mögliche Darstellungen und Interaktionen sowie für den Erstellungsprozesses selbst.
► Laufende Rückmeldung: Die Mitarbeiter können in digitalen Lernsystemen ihre Lerndaten interpretieren, um Fortschritte zu messen, zukünftige Leistungen vorauszuberechnen und Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung aufzudecken. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für zielorientierte Führungsgespräche, in denen der Vorgesetzte dem Mitarbeiter Rückmeldung gibt und Vereinbarungen für die folgenden Lernprozesse trifft. Auf Basis eines Kompetenzmodells, das sich an der Unternehmensstrategie und dem Werterahmen ausrichtet, und der daraus abgeleiteten Kompetenzprofile kann der Lerner für seinen jeweiligen Aufgabenbereich seine persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich der Kompetenzen ermitteln.