Kompetenzen sind Fähigkeiten, die dazu bei­tragen, dass Menschen in offenen, unüber­schaubaren, komplexen, dynamischen und zuweilen chaotischen Situationen kreativ und selbstorganisiert handeln (Erpenbeck, Grote, W. und S. Sauter, von Rosenstiel 2016). Es handelt sich nicht um persönliche Eigen­schaften, sondern um Fähigkeiten, die sich entwickeln lassen (Erpenbeck, Hasebrook 2011). Im Unterschied zum Wissen schlagen sich Kompetenzen immer in Handlungen nie­der. Kompetenzentwicklung setzt folglich vo­raus, dass die Lerner in realen Entscheidungs­situationen Widersprüche, Konflikte oder Verunsicherungen schöpferisch verarbeiten und so neue Emotionen und Motivationen entwickeln.

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Foto von Georgie Cobbs

Kompetenzen werden zu zentralen Zie­len von Lernprozessen, die im Prozess der Arbeit, in Projekten und im Netz stattfinden.

Dank ihrer Kompetenzen können Mitarbeiter selbst in schwierigen Situationen erfolgreich agieren. Der betriebliche Bildungsbereich steht daher vor der Aufgabe, Lernsysteme zu entwickeln und Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Mitarbeitern und Führungs­kräften ermöglichen, ihre individuellen Kom­petenzentwicklungsprozesse optimal selbst- organisiert zu gestalten. Dabei verändern sich die Rollen der Beteiligten – und damit auch der didaktisch-methodische Entwicklungs­prozess – grundlegend.

Von der Belehrungs-
zur Ermöglichungsdidaktik
 

Eine strenge Kausalität zwischen Lehren und Lernen lässt sich nicht aufrechterhalten (Schüßler 2007). Deshalb ergeben Seminare mit ihrer skandalös geringen Lerneffizienz keinen Sinn. Lernen funktioniert dann beson­ders gut, wenn es sich um einen selbstorga­nisierten, konstruktivistischen Aneignungs­prozess handelt – und nicht um belehrende, de facto nicht mögliche Wissensvermittlung (Arnold 2000).

Wie ein Lernarrangement auf einen Ler­nenden wirkt, wie er den Input aufnimmt und interpretiert, wie er verarbeitet, was er wahrgenommen hat, und wie viel davon spä­ter, wenn er sein Wissen anwenden möchte, überhaupt noch zur Verfügung steht, lässt sich nicht planen. Deshalb können wir Wissen und Kompetenzen nicht vermitteln. Wir kön­nen auch nicht den Anspruch erheben, Lern­prozesse direkt beeinflussen zu können (Wahl 2006). Deshalb benötigen wir einen Wandel von der bisherigen „Belehrungsdidaktik“ zur Ermöglichungsdidaktik.

Ermöglichungsdidaktik hat zum Ziel, den Ler­nenden alles an die Hand zu geben, damit sie ihre Lernprozesse problemorientiert und selbstorganisiert gestalten können.

Die Ermöglichungsdidaktik ist die pragma­tische Antwort auf die wirtschafts- und bil­dungspolitisch propagierte Forderung nach „Lebenslangem Lernen“. Sie geht davon aus, dass wir die Lernsituation nicht mehr vom Inhalt her, sondern mit Fokus auf den Ler­nenden als Lernrahmen gestalten (Arnold 2000). Die Lernplaner konzentrieren sich nicht mehr auf die detaillierte Gestaltung eines gemeinsamen Lehr-/Lernprozesses (Planungsfixierung), sondern darauf, den Er­werb von Wissen und Kompetenzen in indi­viduellen, selbstorganisierten Lernprozessen zu ermöglichen (Realisierungsfixierung). Der Trainer wird zum Lernbegleiter, der die Bedin­gungen für die Selbstorganisation der Ler­nenden schafft und damit Kompetenzaufbau ermöglicht. 

 

Prozess zum Social Workplace Learning

Da beinahe alle Mitarbeiter und Führungs­kräfte aus einer Lernkultur kommen, die pri­mär fremdorganisiert geprägt ist, schlagen wir vor, den Weg zur systematischen Kompe­tenzentwicklung im Prozess der Arbeit zwei­stufig anzugehen.

1. Social Blended Learning

Im Rahmen eines Blended-Learning-Arran­gements, also der methodischen Verknüp­fung von E-Learning mit Präsenzveranstal­tungen, das den Mitarbeitern wie gewohnt eine klare Struktur und Orientierung gibt, bearbeitet jeder Lerner sein persönliches, herausforderndes Praxisprojekt. In diesem begrenzten Rahmen kann er seinen individu­ellen Kompetenzentwicklungsprozess selbst­organisiert planen und umsetzen. Dabei baut er seine Kompetenz zur Selbstorganisation und seine Methoden- und Medienkompetenz in einem gemeinsamen Prozess mit seinen Lernpartnern und -begleitern auf.

Social Blended Learning ist Blended Learning in Verbindung mit einem herausfordernden Praxisprojekt unter Einbindung von Social Software, welche informelles, selbstorga­nisiertes und vernetztes Lernen ermöglicht (Sauter/Sauter 2015).

Die Lerner organisieren den Kompetenz­entwicklungsprozess im Rahmen eines mit der Führungskraft vereinbarten Praxispro­jektes selbst, von der Zieldefinition über die Lernplanung bis zur Erfolgskontrolle. Dabei werden sie von einem Lernbegleiter und der jeweiligen Führungskraft unterstützt. In Communities of Practice können die Teilneh­mer selbstorganisiert ihre Erfahrungen aus den Projekten austauschen und gemeinsam weiterentwickeln.

Den „roten Faden“ der Lernprozesse bilden nicht mehr vorgegebene Curricula, die für alle Mitarbeiter gleich sind, sondern die individu­ellen Praxisprojekte der Beschäftigten.

Die Mitarbeiter lernen gemeinsam auf Au­genhöhe mit selbst gewählten Lernpartnern, die sie meist wöchentlich zu einem Jour fixe treffen, eventuell unterstützt von Experten oder Mentoren. Da die Beziehungen zwischen den Lernpartnern überwiegend gleichberech­tigt sind, sprechen wir auch von Co-Coa­ching (Dong 2011). Dieser Begriff beschreibt gegenseitige, für die effektive Kompetenz­entwicklung der Coachingpartner förderliche Kollaborations- und Kommunikationsbezie­hungen.

Der Lernbegleiter erweitert in diesem Szena­rio seine Rolle möglicherweise auch weiter zum E-Mentor. Beim E-Mentoring gibt ein erfahrener Lernbegleiter (Mentor) Erfah­rungswissen und Eindrücke, meist online, an einen Lerner (Mentee) mit dem Ziel weiter, ihn in seiner persönlichen oder beruflichen Kompetenz innerhalb oder außerhalb des Unternehmens zu fördern. Bei besonders schwierigen Fragen oder bei der Entwicklung von Lösungen für Problemstellungen in der Praxis kann der Lerner eventuell auch auf Experten (E-Coaches) aus dem Netzwerk des E-Mentors zurückgreifen.

Das formelle Lernen in fremdorganisier­ter Form verliert in innovativen Lernsyste­men zunehmend an Bedeutung, während Lernprozesse vermehrt durch reale Pro­blemstellungen initiiert werden. Learning Communities wandeln sich daher häufig zu Communities of Practice (Wenger 1998). Die Mitarbeiter wählen dabei selbst Ziele, In­halte, Strategien, Methoden und Kontrollme­chanismen ihrer sozialen Lernprozesse. Die Lernkurse erweitern sich zu einem sozialen Netzwerk.

Dieses kompetenzorientierte Lernarrange­ment erfordert und fördert bei den Teilneh­mern ein hohes Engagement und eine starke Teamorientierung. Die Verknüpfung des for­mellen Lernens in Workshops und E-Learning mit informellem Lernen über Transferaufga­ben und Praxisprojekte im Netz hat sich als sehr motivierend und effizient erwiesen. Sie ist geeignet, die Lernkultur im Unternehmen grundlegend zu verändern.

 

2. Social Workplace Learning

Hat sich die Lernkultur der Selbstorganisati­on und des Social Learning im Unternehmen weitgehend durchgesetzt, lässt sich das Lern­system in Richtung Social Workplace Lear­ning entwickeln.

Social Workplace Learning findet selbstorga­nisiert bei der Arbeit und im Netz statt, wenn herausfordernde Problemstellungen zu bear­beiten sind.

Der Mitarbeiter nutzt dann die Möglichkeiten, an die er sich bereits in den Social-Blen­ded-Learning-Arrangements gewöhnt hat. Er tauscht Erfahrungswissen in Communities aus und holt sich regelmäßig Feedback von Lernpartnern und -begleitern. Die Verantwor­tung für den persönlichen Lernprozess geht voll auf den Mitarbeiter über, der sich regel­mäßig mit seiner Führungskraft und seinem Lernbegleiter abstimmt.

Es wird nicht mehr dann gelernt, wenn ein Seminar oder E-Learning angeboten wird, sondern dann, wenn Mitarbeiter im Arbeits­prozess Problemstellungen bewältigen müs­sen. Lernbegleiter und Führungskräfte unter­stützen den Prozess als Entwicklungspartner. Workshops mit Lernbegleitern und Experten bieten die Möglichkeit, das Netzwerk zu pflegen, den Lernprozess zu reflektieren und aktuelle Fragestellungen mit Kollegen und Experten zu diskutieren. Für neue Mitarbeiter können Unternehmen regelmäßig Kick-offs anbieten.

Social Workplace Learning bedeutet konse­quent umgesetzt einen Paradigmenwechsel. Nicht mehr die Personalentwickler oder die Trainer sind primär für die Lernprozesse der Lerner verantwortlich. Diese organisieren nunmehr ihre Kompetenzentwicklung selbst und in eigener Verantwortung. Formelle Lernprozesse zum Wissensaufbau, meist in E-Learning-Arrangements, und zur Qualifikati­on, überwiegend mit Blended-Learning-An­geboten, bilden dafür die notwendige Vo­raussetzung, sind aber nicht das Ziel.

 

Von der Personalentwicklung 
zum Kompetenzmanagement

Die bisherige Personalentwicklung mit ihrer Konzentration auf formelles Lernen wandelt sich zum Kompetenzmanagement. Ihre we­sentliche Aufgabe besteht darin, aus der Un­ternehmensstrategie und dem Werterahmen einen Ermöglichungsrahmen zu entwickeln, der individuelle Kompetenzentwicklungspro­zesse im Prozess der Arbeit unterstützt.

Arbeiten und Lernen wachsen wieder zusam­men.

Für klein- und mittelständische Unterneh­men, die dieses innovative Lernsystem nicht selbst aufbauen können, werden überbetrieb­liche Bildungsanbieter diese Rolle überneh­men. Damit eröffnet sich für sie ein neues, attraktives Geschäftsfeld, das grundlegend veränderte Kompetenzen erfordert:

Wissensaufbau über E-Learning-Arrangements

Qualifikation in Blended-Learning-Arrangements

Ermöglichung der selbstorganisierten Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit und im Netz durch einen bedarfs­gerechten Ermöglichungsrahmen sowie Begleitung der Lernprozesse.

Die Umsetzung dieses Ansatzes erfordert Zeit. Denn eine grundlegende Veränderung der Konzeptionen, der Lernkulturen sowie der Rollen aller Beteiligten funktioniert nicht von heute auf morgen. Deshalb ist es notwendig, jetzt damit zu beginnen, die Strategie der in­ner- und überbetrieblichen Bildungsanbieter grundlegend zu verändern und zukunftsori­entierte Geschäftsmodelle umzusetzen.

 

Webtipps

www.hoou.de
(Hamburg Open Online University)

www.open-educational-resources.de
(Website der Transferstelle OER, einem Think-tank zum Thema Open Educational Re­sources, gibt einen Überblick über offene, deutschsprachige Lernangebote)

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Quelle: personal manager - Zeitschrift für Human Resources | Ausgabe 3 Mai/ Juni 2016

 

Es reicht für bedarfsgerechte Lernarrange­ments nicht aus, teilnehmerorientierte, ko­operative Lernphasen in den Unterricht zu integrieren. Die Lerner müssen vielmehr die Freiheit erhalten, ihre individuellen Lernpro­zesse ausgerichtet auf ihre Herausforde­rungen in der Praxis selbst zu gestalten. So­ziale Lernplattformen können diesen Prozess unterstützen. Welche Elemente dabei wichtig sind, zeigt Abbildung 1 auf Seite 14.

Vier Elemente sind für das soziale Lernen am Arbeitsplatz entscheidend:

Lernorganisation: Die gesamte Planung und Administration der individuellen Lernprozesse liegt in der Verantwortung der Lerner. Sie sind gefragt, ihre Lernprozesse während der Arbeit (Workplace Learning), unabhängig von Ort und Zeit (Mobile Learning) und nach dem individuellen Bedarf on demand (Micro-Learning) zu gestalten und zu steuern. 

Kommunikation: Soziale Lernplattformen können Mitarbeitern über E-Portfolios per­sönliche Zugänge zum sozialen Netzwerk des Unternehmens bieten und die gemeinsame Arbeit an Problemstellungen ermöglichen, zum Beispiel über Foren, Chats, Blogs, Wikis, Reflexions-Tools oder Instant Messenger. Sogenannte Workpads erlauben es den Lernenden, Dokumente gemeinsam zu bearbeiten, zu archivieren, zu verwalten und zu taggen, also zu indi­zieren oder zu verschlagworten. In Virtual Classrooms oder Webinaren können sie sich mit Lernpartnern und Experten unab­hängig von ihrem Aufenthaltsort aus­tauschen. Zu einzelnen Themenbereichen oder Kompetenzprofilen können Unternehmen zudem spezifische soziale Netzwerke anbieten.

Lerninhalte und Dokumentation: Webbasierte Lernsysteme bieten eine breite Palette an formellen, aber insbe­sondere auch informellen Lerninhalten, welche die Mitarbeiter selbst entwi-ckeln. So erarbeiten sie beispielswei­se in Praxisprojekten Lösungsskizzen, Fallstudien oder Checklisten, die über ihre Projekttagebücher in der Community of Practice analysiert, bewertet und opti­miert werden. Hinzu kommen aktuel­le Informationen, aber auch Links zu Open Educational Resources wie bei­spielsweise die Hamburg Open Online University (siehe Webtipps) sowie „Rapid E-Learning“-Tools zur Aufbereitung von Erfahrungswissen. Diese Wortschöpfung aus Rapid Prototyping und E-Learning bezeichnet einfache, schnelle und kosten­günstige Entwicklungsmethoden für webbased Trainings durch klare, vor­gegebene Strukturen für das Layout, die Gestaltung der Inhalte, für mögli­che Darstellungen und Interaktionen sowie für den Erstellungsprozesses selbst.

Laufende Rückmeldung: Die Mitarbeiter können in digitalen Lernsystemen ihre Lerndaten interpretieren, um Fortschritte zu messen, zukünftige Leistungen vor­auszuberechnen und Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung aufzudecken. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für zielorientierte Führungsgespräche, in denen der Vorgesetzte dem Mitarbeiter Rückmeldung gibt und Vereinbarungen für die folgenden Lernprozesse trifft. Auf Basis eines Kompetenzmodells, das sich an der Unternehmensstrategie und dem Werterahmen ausrichtet, und der daraus abgeleiteten Kompetenzprofile kann der Lerner für seinen jeweiligen Aufgabenbereich seine persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich der Kompetenzen ermitteln.