EuGH, Urteil vom 28. Juli 2016 – C-423/15

turned off MacBook Pro beside white ceramic mug filled with coffee
Foto von Lauren Mancke

Problempunkt

Der 1973 geborene Herr Kratzer hatte sich auf eine Anfang 2009 ausgeschriebene Trainee-Stelle bei einer Versicherung beworben. Als Anforde- rungskriterien nannte die Ausschreibung einen sehr guten, nicht länger als ein Jahr zurückliegenden oder unmittelbar bevorstehenden Hochschul- abschluss, u. a. in der Fachrichtung Jura. Darüber hinaus  wurde berufsorientierte Praxiserfahrung, z.B. durch Ausbildung, Praktika oder Werkstu- dententätigkeit verlangt. Die Stelle war also auf sehr gute Berufsanfänger ausgerichtet.

Diesem Profil entsprach Herr Kratzer offensichtlich nicht. Er hatte 1999 die erste juristische Staats- prüfung mit „befriedigend“ bestanden, die zweite im Jahr 2001 mit „ausreichend“. Seit August 2002 war er überwiegend als selbstständiger Rechtsanwalt tätig. Er hatte sich für die Trainee- Stelle mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine umfangreiche berufliche Erfahrung beworben.

Die Versicherung lehnte seine Bewerbung mit der Begründung ab, es sei keine Einsatzmöglichkeit für ihn vorhanden. Herr Kratzer erhob den Vorwurf der Altersdiskriminierung und forderte eine Entschädigung i. H. v. 14.000 Euro. Die Ver- sicherung erklärte daraufhin, es habe sich um eine automatisch generierte Absage gehandelt und lud Herrn Kratzer zum Gespräch ein. Diese Einladung schlug dieser mit dem Hinweis aus, er wolle zuerst die Entschädigung. Anschließend erhob er Klage vor dem Arbeitsgericht.

Nachdem er erfuhr, dass alle vier Trainee-Stellen im Bereich Jura mit Frauen besetzt wurden, erweiterte er die Klage um 3.500 Euro und machte zusätzlich eine Geschlechterdiskriminierung geltend.

Das BAG sah mangels Ernsthaftigkeit der Bewerbung das Tatbestandsmerkmal des „Bewerbers“ aus § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG als nicht erfüllt und damit den Anwendungsbereich des AGG als nicht eröffnet an. Da die Gleichbehandlungsrichtlinien 78/2000/EG und 54/2006/EG das  Tatbestandsmerkmal „Bewerber“ allerdings nicht voraussetzen, sondern nur den „Zugang zur Beschäftigungoder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit“ schützen, legte das BAG dem EuGH folgende Fragen vor:

  1. Sucht auch derjenige „Zugang zur Beschäftigung“ i. S. d. Richtlinien, aus dessen Bewerbung hervorgeht, dass er gar  icht das Ziel der Einstellung verfolgt, sondern nur den Status als Bewerber erreichen möchte, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können?
    Falls ja:
  2. Handelt es sich dabei um einen Rechtsmissbrauch nach Unionsrecht? (Formulierung des Bearbeiters)

 
Entscheidung

Der EuGH beantwortete die erste Frage dahin- gehend, dass ein Verhalten wie das des Herrn Kratzer nicht in den Geltungsbereich der Richtlinien 2000/78 und 2006/54 fällt. Aus Wortlaut, Sinn und Zweck der Richtlinien ergibt sich danach, dass nur Personen von deren Geltungsbereich umfasst sind, die tatsächlich eine Beschäftigung suchen. Dies ist nicht der Fall, wenn eine Person die Stelle, um die sie sich bewirbt, offensichtlich gar nicht haben will. Darüber hinaus erfüllt eine solche Person weder das  Tatbestandsmerkmal „Opfer“ noch „Person, der ein Schaden entstan- den ist“ nach den Gleichbehandlungsrichtlinien.

Wenn allerdings die erforderlichen objektiven Tatbestandsmerkmale vorliegen und der Schutz- bereich der Richtlinien somit grundsätzlich eröffnet ist, kann ein Verhalten wie das von Herrn Kratzer nach den Luxemburger Richtern im Einzelfall als Rechtsmissbrauch i. S. d. Unionsrechts bewertet werden. Dafür muss sich zum einen aus der Gesamtwürdigung der Umstände ergeben, dass durch die formale Anerkennung des Schein- bewerbers als Bewerber das Ziel der Richtlinie verfehlt wird. Zum anderen muss anhand objektiver Anhaltspunkte erkennbar sein, dass Ziel des Bewerbers das Erlangen eines ungerechtfertigten Vorteils – hier der Entschädigungsanspruch – ist.

Konsequenzen

Wichtigste Konsequenz ist gewonnene Rechtssicherheit durch die klare Positionierung des EuGH im Umgang mit Scheinbewerben und „AGG-Hoppern“. Diese werden von den Richt- linien nicht geschützt. Das ist nicht selbstverständ- lich, denn der EuGH hätte auch zu dem Ergebnis kommen können, dass die zur Bekämpfung von Diskriminierungen erforderliche abschreckende Wirkung so weit gehen muss, dass auch abge-ehnte Scheinbewerber auf eine diskriminierende Stellenanzeige entschädigt werden müssen.

Ungeklärt ist weiterhin die eher rechtsdogmati- sche Frage, ob ein Scheinbewerber schon formal nicht unter das Tatbestandsmerkmal „Bewerber“ fällt, oder ob ein Entschädigungsanspruch wegen Rechtsmissbrauchs ausscheidet. Sowohl aus dem Vorlagebeschluss des BAG als auch aus dem Urteil des EuGH geht hervor, dass die Gerichte beide Lösungsmöglichkeiten für vertretbar halten.

Praxistipp

Allzu große Auswirkungen auf die Praxis dürfte das Urteil nicht haben. Denn es steht im Einklang mit der jahrelangen nationalen Rechtsprechung des BAG und des BVerwG. Leider enthält die Entscheidung keinerlei Maßstäbe zur Feststellung einer Scheinbewerbung. Dies liegt in der Natur der Sache, da der EuGH nur die vorgelegten Rechtsfragen beantwortet. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Bewerber um einen professionellen „AGG-Hopper“ handelte, so dass sich hier keine Probleme ergaben.

Der EuGH gibt lediglich den kleinen Hinweis, dass ein „rein künstlicher Charakter“ der Bewerbung ein objektiver Anhaltspunkt für die rechtsmissbräuchliche Absicht sein kann, den Entschädigungsanspruch zu erlangen. Es bleibt also dabei, dass die größte Schwierigkeit für den darlegungs- und beweisbelasteten Arbeitgeber die Feststellung der rechtsmissbräuchlichen Absichten von Bewerbern ist. Indiz hierfür kann im Einzelfall z. B. das kontraproduktive Verhalten im Bewerbungserfahren (wie hier das Ausschlagen eines Bewerbungsgesprächs) oder eine extreme Unter- bzw. Überqualifikation sein. Auch das massenhafte Bewerben auf diskriminierende Stellenanzeigen und das damit einhergehende Betreiben von Entschädigungsklagen kann ein solches Indiz darstellen.

RA Kevin Keßler, LL.M.,Arvantage – Kanzlei für Arbeitsrecht, Berlin

Mit freundlicher Genehmigung von RA Volker Hassel, Arbeit und Arbeitsrecht, AuA 2/17, 116-117