„Innovation ist nicht etwas für eine kleine Elite,
sondern für die breite Organisation. Wir brauchen alle.“

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Foto von Andrew Neel


Wie lautet Ihr zentraler Vorschlag zum Umgang mit Talenten?

Meiner Erfahrung nach brauchen wir Talente unterschiedlichster Art, um innovativ sein zu können: Sowohl Menschen, die kreativ nach Neuem suchen, als auch solche, die sich lieber um Details kümmern und im Status quo leben. Denn wenn ich nur Leute im Team habe, die alle hochkreativ sind, dann passiert eigentlich überhaupt nichts, weil sie so von all den Möglichkeiten, die sie hätten, begeistert sind, dass sie  nichts umsetzen. Da brauchen wir also diejenigen, die mit Blick für Details und Umsetzbarkeit Dinge voranbringen. Dies  ist ein Aspekt, der mir am Thema Innovation auch gefällt: Innovation ist nicht etwas für eine kleine Elite, sondern für die breite Organisation. Wir brauchen alle.

Sie machen damit ein großes Fass auf. Denn einige Unternehmen meinen in bestimmten Phasen ihres Lebenszyklus bestimmte Mitarbeiter zu brauchen und wollen sich dafür oft von anderen trennen. Sie, Frau von Stamm würden dieses Rad zurückdrehen.

Ja. Ich würde argumentieren, dass es kein Unternehmen gibt, das sich entweder auf innovative oder operative Exzellenz konzentrieren kann. Beides ist gleichermaßen wichtig; vielleicht zu verschiedenen Gewichtungen, aber beides ist notwendig.  Meiner Meinung nach ist Diversität zu jedem Zeitpunkt wichtig.  Ich spreche da nicht in erster Linie von ethnischen Gruppen oder Religionszugehörigkeiten. Vielmehr geht es um unterschiedliche Präferenzen in Punkto Risiko, Ungewissheit, Analyse, Detail.    Mit anderen Worten: Das Personalmanagement muss eine hohe Denkvielfalt fördern. Wenn wir niemanden haben, der aus einer anderen Richtung kommt, der anders denkt und andere Interessen hat als wir, fallen wir sehr schnell der Betriebsblindheit zum Opfer.  Wie hat der amerikanische Journalist Walter Lipman so schön gesagt, wenn wir alle gleich denken, dann denkt niemand besonders viel.

Die Praxis widerspricht dem doch teilweise. Da gibt es in einigen Unternehmen Kerngruppen, die gewollt und also akzeptiert sind. Wenn Kollegen sich an denen nicht ausrichten, laufen sie Gefahr, aus dem System zu fallen. Sie trauen sich dann gar nicht mehr, anders zu sein.

Richtig, genau darin sehe ich das Hauptproblem. Es gibt einen bestimmten Typ in Unternehmen, der voran kommt. Wenn ich Effizienz und Reibungslosigkeit möchte, dann ist das sicher ein guter Ansatz. Aber zum Hinterfragen und Nachdenken brauche ich Menschen, die auch mal vermeintlich dumme Fragen stellen. Da brauche ich Leute, die den Mut haben, irgendwelche verrückten Ideen auf den Tisch zu bringen. Denen das eben nicht peinlich ist  und die nicht ausgelacht werden. Darum meine ich ja, dass das Verständnis der menschlichen Natur so wichtig ist. Jeder von uns umgibt sich eigentlich  lieber mit Menschen, die so sind wie sie selbst. Weil es dabei weniger Reibung gibt. Aber ohne Reibung gibt es keine Innovation.

Das bedeutet, dass wir grundlegend am Thema Sympathie und Verständnis arbeiten müssten.
 
Genau das wäre nötig.

Wie tun wir das?

Indem wir uns die Möglichkeit geben, einander kennenzulernen und gemeinsame Interessen zu entdecken – oftmals über den beruflichen Rahmen hinaus. Dazu eine kleine Geschichte, die mir erzählt wurde: Zwei Geschäftspartner standen in Verhandlung miteinander, konnten sich aber auf keinen Weg einigen, weil sie aus zu unterschiedlichen Richtungen kamen. Keiner von beiden wollte nachgeben. So saßen sie also in ihrem Verhandlungsraum. Draußen ging jemand am offenen Fenster vorbei und sang in höchsten Tönen Passagen aus einer Arie. Unsere beiden Verhandlungspartner schauen sich an und sagen beide zugleich: Das ist doch Luciano Pavarotti. Und an der Stelle ist das Eis dann gebrochen. Leute müssen sich also auf einer Ebene finden, wo sie etwas verbindet, etwas, worauf sich ein Vertrauen bilden kann, auf dem sie dann aufbauen können für ihre Zusammenarbeit. Da gibt es unterschiedliche Mittel und Wege, um so etwas zu unterstützen. Es geht darum, die Menschen eben nicht als Nummer im System zu sehen. Jeder hat seine Rolle zu spielen. Das Problem ist nicht, wie die Leute sind, sondern wie man ihre Zusammenarbeit ermöglicht.

Worum geht es bei der Zusammenarbeit?

Jedenfalls nicht darum, ein nötiges Minimum abzuarbeiten. Sondern es sollten verschiedenen Expertisen ausgetauscht werden; um so eben zu einem Ergebnis zu kommen, welches dem Einzelnen unmöglich gewesen wäre. Ich habe in verschiedenen Situationen erlebt, wie das aussieht. Dazu noch eine kleine Geschichte: Hier in England hat das Design Council – also der Rat für Formgebung – mit dem Shell Technology Enterprise Network zusammengearbeitet. Dabei haben sie Business-Studenten und Design-Studenten an Problemen mittelständischer Betriebe zusammenarbeiten lassen. Als ich das erste Mal in der Jury saß, dachte ich: Wie kann man entscheiden, was besser oder weniger gut ist? Es gab zehn Präsentationen. Bei den meisten präsentieren Designer  und Businessstudent separat, jeder aus seinem eigenen Erfahrungs- und Wissensbereich. Dann aber waren da zwei Präsentationen, bei denen sich die Studenten zusammengerauft hatten, ihre Wissensbereiche verquickt hatten, und gemeinsam präsentierten. Es war umwerfend, wie anders das war, was aus der Zusammenarbeit herausgekommen war. Man konnte deutlich spüren, dass zwischen diesen Studenten eine tiefe Vertrauens- und Respektebene entstanden war, die die Unterschiede nicht nur respektiert sondern deren Vorteil und Beitrag zu schätzen weiß.      

Was Sie damit wahrscheinlich nicht sagen möchten, ist, dass Fachleute aus ihren Fachgebieten und Rollen völlig heraussteigen sollen. Wenn wir alle anfangen, alles Mögliche sein zu wollen, dann können wir ja nichts mehr liefern.

Ganz genau! Da sehe ich nun allerdings auch schon wieder ein Problem. Wir sprechen derzeit viel über Zusammenarbeit im Allgemeinen und der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit im Besonderen.  Da kommt dann der Ruf, dass alle mit einmal alles können sollten. Ich habe den Bereich Ausbildung immer mit im Blick und schaue mir an, was da gerade in der Ausbildung von Managern und Designern passiert. Und da sehe ich die Tendenz, dass alle von den Extremen zur Mitte hin tendieren. Sicher,  wir brauchen eine bestimmte Anzahl von Leuten, die in der Mitte sitzen und vermitteln  und “übersetzen” können. Aber es soll nicht jeder alles machen. Wir brauchen nach wie vor Experten und Spezialisten – aber alle benötigen Respekt, und Verständnis, für andere, und den essentiellen Beitrag, den jeder zu leisten hat, um als Ganzes erfolgreich sein zu können .Eine Zeitlang war es ein Bestreben in der Managementausbildung, diese Allrounder zu kreieren. Jeder sollte alles machen und können. Dadurch wurden sie auch auf Sachverhalte angesetzt, in denen sie Schwächen hatten. So lange es darum geht, dass jeder alles verstehen kann, passt der Allround-Ansatz. Anders macht er keinen Sinn.

Zumal das zur Frustration beim Einzelnen führt.

Naja logisch. Wenn die Aufgaben nicht dort liegen, wo das Herzblut fließt, dann macht sich das unweigerlich in einem Abfall der  Leistung spürbar, zumindest wenn ein Einsatz über einen längeren Zeitraum erwartet wird. Es geht also nicht darum, alle gleich zu machen, sondern vielmehr ein Klima zu schaffen, wo Unterschiede verstanden und geschätzt werden. Wichtig ist Offenheit, und eine Bereitschaft, sich mit neuem und anderem auseinanderzusetzen. Innovation entsteht an den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen.

Kommt denn nicht auf politischer Ebene ein gewisser Druck in die Gegenrichtung? Auf europäischer Ebene, in Konzernen und verschiedenen Initiativen wird darüber nachgedacht, wie Strukturen auf Linie gebracht werden können. Man sucht nach einem einigenden Gemeinsamen. Das kommt auch im Alltag vieler Mitarbeiter an. Und nun sprechen wir davon, dass Innovation Eigenes voraussetzt. Wie lässt sich dieses Bild aufhängen?

Ich habe den Eindruck, dass je stärker wir auf das große Europa zugehen, desto stärker wird die Bewegung zur Regionalität. Auch hier hilft uns das Verständnis menschlicher Natur. Wir können uns mit bestimmten Dingen identifizieren, wenn diese aber zu groß werden, dann suchen wir uns wieder etwas Kleineres. Ich sage immer, das Zeitalter des „Entweder oder“ ist vorbei. Nun haben wir das Zeitalter des „und“. Genauso wie im Unternehmen nicht nur operative Exzellenz, sondern auch innovative Exzellenz nötig ist.  Wir brauchen immer beides – was  natürlich anstrengend ist   und unser gegenwärtigen Präferenz, alles auf Bulletpoints zu reduzieren, entgegen steht. Prägnanz okey, aber das darf es nicht allein sein.    

Schlagen wir den Bogen nochmal zum Talent Management. Wie verträgt sich ein äußerst strukturiertes Talent Management mit Innovation?

Wenn Menschen als Masse und Nummern behandelt werden, sehr schlecht. Talent Managern könnte  es an dieser Stelle helfen, sich mit der Komplexitätstheorie auseinander zu setzen. Wir denken nach wie vor überwiegend in linearen Systemen, wo alles plan- und vorhersehbar ist und wir  selbst wenn eine Linie sich teilt, annehmen können, dass das Ergebnis  A, B, oder C sein wird. Es mag sein, dass  diese Strategien funktionierten, als wir einen Job für das ganze Leben hatten und eine Karriere in einem bestimmten Wissensbereich verfolgten. Dies ist lange vorbei. Besonders junge Menschen erwarten nicht mehr eine Linearität in ihrem beruflichen Werdegang.  Sie reagieren spontan auf neue Eindrücke und neue Möglichkeiten. Wenn ich als Talentmanager nicht bereit bin, darauf einzugehen, und in einer komplexen Welt lineares Verhalten erwarte, werde ich meine besten Mitarbeiter verlieren.  Flexibilität ist essentiell für eine erfolgreiche Zukunft, ob auf individueller oder organisatorischer Ebene.

Frau von Stamm, herzlichen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Stefanie Heine.


ZUR AUTORIN: Sie wollen Bettina von Stamm persönlich erleben und zum Thema mitdiskutieren? Auf der Personal Swiss (Messe Zürich – 9./10.April 2013) ist sie mit einem Keynote-Vortrag vertreten: http://www.personal-swiss.ch/content/programm/keynote_speaker/index_ger.html

Frau von Stamm, Sie loten Schnittstellen zwischen Innovation an sich und Talent Management aus, ist das richtig?

Vielleicht erstmal ein wenig Hintergrundinformation für Sie: Mein Schwerpunktthema ist Verstehen und Ermöglichen von Konditionen, die der Innovation zuträglich sind. In den 20 Jahren, in denen ich mich mit diesem Thema beschäftigt habe, wird meine Arbeit von drei Kerneinsichten geleitet. Erstens: Um Innovation zu unterstützen, ist ein Verständnis menschlichen Verhaltens  und der menschlicher Natur  essentiell.  Zweitens: Innovation braucht einen ganzheitlichen Ansatz, der sicherstellt, dass Strategie, Führungsverhalten, Prozesses, Kultur und das Arbeitsumfeld aufeinander abgestimmt sind. Drittens hängt der Ansatz zur Verbesserung von Innovationsklimas sehr stark vom jeweiligen Umfeld, also von Kontexten ab. Ich betrachte Innovation daher nicht speziell aus der Perspektive der Personalarbeit; obwohl meines Erachtens Personalwesen und Talent Management eine kritische Rolle in der Verbesserung eines Innovationsklimas haben.

Was verstehen Sie in Ihrer Arbeit unter Talent Management?

Ich verstehe darunter im engsten Sinne ein Management von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen. Und zwar unter einem besonderen Schwerpunkt, nämlich wie Unternehmen mit Talenten umgehen müssten, um innovativer sein zu können. Meiner Erfahrung nach hängt die Schaffung eines positiven Innovationsklimas entscheidend davon ab, wie bereit die Führung eines Unternehmens ist, sich mit der menschlichen Natur auseinanderzusetzen und auf individuelles, persönliches Verhalten einzugehen. Ich denke, dass Unternehmen dies als  Ausgangspunkt zur Verbesserung des Innovationsklimas wählen sollten, statt den üblichen Weg – Einführung von neuen  Prozessen – zu wählen. Selbstverständlich ist der ganzheitliche Ansatz nach wie wichtig. Und er ist eben dann ganzheitlich, wenn er die Persönlichkeiten der Mitarbeiter berücksichtigt.

Voraussetzungen:
– Ein größerer, freier Raum
– Eine Gruppe bis zu 20 Teilnehmer

Ablauf:
Alle Teilnehmer stellen sich an beliebiger Stelle im Raum auf. Jeder Teilnehmer wählt sich gedanklich zwei andere Gruppenmitglieder aus. Mit diesen soll er – ohne darüber zu sprechen – ein gleichschenkliges Dreieck bilden. Hat jeder Teilnehmer seine Partner für sich bestimmt, bewegen sich alle so lange durch den Raum, bis alle Dreiecke vollständig sind.

Essentielle Regeln:
1.) Everybody keep moving. Alle bleiben  bis zur Erfüllung der Aufgabe in Bewegung.
2.) Everybody move slowly. Jeder geht und bewegt sich langsam durch den Raum

Hält sich jeder an diese Regeln, dann finden sich die Dreiecke in erstaunlich kurzer Zeit.

 

 

Fotocredit:
M.E. (1) / www.pixelio.de
Andreas Morlok (2) /www.pixelio.de