1 | Der betäubte Wille

In dem berühmten Märchenzyklus „1001 Nacht“ heißt es: "Die Menschen schlafen solange sie leben, erst in der Todesstunde erwachen sie." Der Schock nach der Diagnose einer schweren Krankheit hat etwas von diesem „Erwachen“ an sich, das in diesen Gedichtzeilen ausgedrückt wird. Plötzlich sind Kranke konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit. Scheinbar aus der Wirklichkeit gestürzt, kann nichts mehr so weitergehen wie bisher, und fast nichts im eigenen Leben wird noch als normal empfunden. Der Körper nicht, die Zukunftsaussichten nicht, das Zusammenleben oder Alleinsein nicht und auch die ungelösten Konflikte und das verborgene Unglück nicht.

Eine schwerere Krankheit lehrt, dass die eigene Angst vor dem Tod sehr wesentlich die Angst davor ist, endgültig akzeptieren zu müssen, nicht der Mensch geworden zu sein, als den man sich gedacht und angelegt hatte – und dies auch nicht mehr nachholen zu können.

Kranksein wirft Fragen auf. Der innere Dialog mit der eigenen Krankheit sagt:

> Was willst Du von mir?
> Bist Du Strafe, die Summe meiner Fehler?
> Willst Du bei mir bleiben?
> Willst Du mich belehren, anhalten, verändern?
> Hast Du eine Ursache?
> Hätte ich Dich verhindern können?
> Wirst Du mich je in Ruhe lassen?

Und die Krankheit antwortet. Sie fragt zurück:

> Was bin ich für Dich: Zufall? Panne? Quittung für Deine Fehler? Rache? Chance?
> Willst Du mit deinem Leben so weiter machen?
> Was kannst Du ändern?
> Was möchtest Du ändern?

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Foto von Mimi Thian

2 | Krankheit als Reiserfahrung

Die Erfahrung einer schweren Erkrankung ist gut vergleichbar mit einer Reiseerfahrung. Wie zwangsweise Verschleppte sitzen Kranke in einem unbekannten Land der Krankheit und träumen von einer Rückkehr in das vertraute Land ihrer harmonischen Gesundheit. Sie haben plötzlich zwei Staatsbürgerschaften. Und den zweiten Pass wollten sie gar nicht haben. Vor ihrem inneren Auge sehen sie manchmal mehrere scheinbar unüberwindliche Bergketten hinter einander oder sie gehen in einer endlosen Ebene, einer Wüste, einer leeren Landschaft.


           „Gesund werden ist wie die Rückkehr
                   von einer Bildungsreise, die auch den Blick
               auf das alte Heimatland verändert“.



Kranke müssen lernen,

… sich in diesem unübersichtlichen fremden Terrain zurechtzufinden,
… sollten es neugierig und offen erforschen,
… es systematisch kartografieren, um sich nicht zu verirren,
.. sollten bereit sein, über die Sehenswürdigkeiten zu staunen.

Gutes Betroffene-Coaching bedeutet also - im Interesse des Betroffenen an seinen Reiseerfahrungen - einfühlsame Kommunikation. Wie alle Reisenden möchten Kranke und frisch Gesundete erzählen von ihren Expeditionseindrücken und Reiseerfahrungen, und alle „Daheimgebliebenen“ sollten geduldig zuhören und offen sein für die Eindrücke aus einem zum Teil merkwürdigen und bedrohlichen Land namens Krankheit. 

3 | Die gesunde Art, krank zu sein

Für alle noch im Krankheitsstadium Befangenen gilt: Sie müssen lernen auf gesunde Art krank zu sein. Das geschieht, wenn sie sich dessen, was sie erfahren – auch als positiv erfahren – nicht vergessen. Sie leben dann ein neues Leben im alten Land. Es gilt, den in Blockierung verharrenden Körper  nicht dem Chaos der Krankheit zu überlassen. Daher muss Heilung auch die „Rück-Beseelung“ des Körperlichen anstreben.


            „Sinnloses Grübeln macht Sinn –
      es ist seelische Arbeit, die Not tut.
            Man sollte das nicht für depressiv halten.“


Damit ich meine Seele in meinem Körper halte, muss ich ihr zugestehen,

… zu rebellieren,
… immer wieder alles durchzuarbeiten,
… schwierige Gefühle zu durchleiden –

und mein Verstand muss sich mit vielen ernsten Themen beschäftigen – vielleicht zum ersten Mal wirklich. Immer wieder. Hierin liegt der Sinn des zu Unrecht so bezeichneten „sinnlosen Grübelns“. Wenn ein Kranker dabei ernst und traurig schaut und sich dafür zurückzieht – man sollte ihn nicht für depressiv halten.

Es gibt also diese gute und gesunde Art krank zu sein.

Es gibt nicht nur eine Lebensqualität – es gibt auch eine Krankheitsqualität und diese Qualität der Krankheit hängt auch zusammen mit der Qualität unserer Gedanken. Lebensqualität und Gedankenqualität – will heißen: wir müssen uns auch die richtigen, qualitativ hochstehenden Sorgen machen, denn nur dann haben wir eine gute Krankheitsqualität, die in der Zeit der Krankheit ja weitgehend unsere Lebensqualität ausmacht. Dazu müssen wir unsere Talente im Bewältigen trainieren, damit es Fähigkeiten werden und wir brauchen vielleicht einen Trainer und einen Trainingsplan. 

4 | Krankheit als Geschenk

Die Botschaften einer Krankheit handeln von

> Demut,
> Erdulden,
> Loslassen,
> Fühlen,
> Selbstheilung,
> Spiritualität,
> Liebe zu sich selbst.

Krankheit ist keine Strafe. Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Wer Verantwortung für seine Krankheit übernimmt, kann auch Verantwortung für seine Behandlung übernehmen. Und es ist sehr wichtig, hinter der Therapie zu stehen. Was bekommt man von einer Krankheit geschenkt? Ruhe, Stille, Zeit, Entschleunigung. Diese positive Entschleunigung hat etwas von Melancholie und Traurigkeit, kaum aber etwas von Depressivität. Man kann eine neue Identität ausprobieren, kann alte Erwartungen und Verpflichtungen abstreifen. So gesehen macht Krankheit frei. Und gleich. Betroffene untereinander haben Ähnlichkeiten. Krankheit ist ein großer Gleichmacher.

Ein weiteres wesentliches Merkmal schwerer Erkrankung ist das Nachlassen von Wünschen; was zu einer gewissen Trägheit führen kann. Dieser Gemütszustand zieht auch eine gelassene Distanz zu sich selbst nach sich; mit der die Chance zur Verfeinerung seiner Achtsamkeit sich selbst gegenüber, zur Entdeckung der eigenen heilsamen inneren Stimme – zur versöhnlichen Wiederentdeckung des Ichs. 

5 | Begleitung

Eine schwere Krankheit durchzustehen ist wie die Besteigung der Eiger-Nordwand ohne alpine Erfahrung oder die Durchquerung einer Wüste ohne Kompass und mit bescheidenem Proviant. Wenn man es schafft, ist es wunderbar und erfüllt einen mit Glück und Stolz. Aussichtsreicher wird eine solche Expedition mit einem kundigen Bergführer oder erfahrenen Wüstenläufer. Kein Bergführer zieht einen unerfahrenen Berggänger einfach den Hang hinauf. Er zeigt ihm die Tritte und Griffe und lehrt ihn, die Kräfte einzuteilen. Sie üben gemeinsam, sich trittfest und schwindelfrei zu bewegen und lernen, die Zeichen drohenden Unwetters frühzeitig zu erkennen und richtig zu deuten.


                 „Viele Begleiter sind geneigt, in eine
          Kontroverse einzusteigen
                    oder rechthaberisch zu argumentieren.“


Das macht sicherer und hilft, ein neues Selbstbewusstsein und neue Selbstsicherheit zu lernen. Auf dieser Basis kann er dann „in die Wand einsteigen“ und selbstständiger klettern oder sich auf die nächste Expedition vorbereiten. In meiner Beratungspraxis spielt die Vorbereitung von Patienten auf wichtige Etappen ihrer Krankheitsbezwingung eine große Rolle. In einem Musiklexikon fand ich eine sehr schöne Definition von „Begleitung“:

„Begleitung ist die harmonische Nebenstimme zur Hauptstimme.“

Patienten haben die Hauptstimme, alle anderen sind Nebenstimmen. Patienten brauchen eine heilende Nähe und das Ernstnehmen ihrer Erfahrungen und Empfindungen. Gespräche sollten den Kranken Kraft geben und getragen sein von dem Bemühen, die Wahrnehmungen des Kranken zu verstehen.

Das ist manchmal recht schwierig und Begleiter sind geneigt, in eine Kontroverse einzusteigen, zu widersprechen, rechthaberisch zu argumentieren usw.. Dabei wird vergessen: Nicht verstanden zu werden, kostet Kraft! Kraft darf Betroffenen aber nicht genommen, sondern sie muss ihnen gegeben werden. Verstehen, Empathie und Güte wirken heilsam.



                  „Je kranker jemand ist, umso
            näher ist er an seiner Wahrheit.“

6 | Die Idee des selbstheilenden kompetenten Patienten

Der Kranke selbst ist die kompetente Stelle für inneres Wissen, Selbstermächtigung, Achtsamkeit und Intuition. Je kranker jemand ist, umso näher ist er an seiner Wahrheit. Kompetente Patienten sind Experten in eigener Sache. Sie übernehmen Verantwortung – für ihr Verstehen, für ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Krankheit, ihre Behandlung. Patientenkompetenz ist etwas Individuelles. Jeder hat sie und jeder kann sie kultivieren. Nicht jeder weiß, wie kompetent er ist, nicht jeder hört oder vertraut seiner inneren Stimme, seinem „inneren Arzt oder Heiler“. Es sollte zu einer umfassenden Begleitung gehören, dies bewusst zu machen und das Vertrauen in den inneren Heiler zu stärken. Krank sein und danach: Cocon und Metamorphose.

Die Situation eines Kranken birgt auch die Gefahr, sich darin einzurichten, sich wie in einen Cocon einzuspinnen. Daher müssen sie auch aufpassen, dass ihr Zustand nicht zu einer falschen Hülle wird: bleibt die Raupe nämlich eine Raupe, wird sie nicht den Cocon verlassen können. Erst wenn sie sich verändert, weiterentwickelt, eine Metamorphose durchmacht; erst dann kommt sie heraus – als bunter Schmetterling fliegt sie dann in die Freiheit und sucht ihren Weg. Kranke brauchen zeitweise den Cocon – und dann die Verwandlung, die Entwicklung zur Genesung und die Rückkehr ins Leben.

Quelle: Lernende Organisation (LO) – Nr. 55 | Juni 2010 | www.lo.isct.net
Foto: (1) lichtkunst.73 | pixelio.de | (2) Foto: Stefanie Salzer-Deckert | pixelio.de