Ist die Vereinbarung von Beruf und Familie derzeit in Deutschland gewährleistet?
Nein, gerade in Deutschland ist es ausgesprochen schwierig, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Das liegt hauptsächlich an den Rahmenbedingungen bei der Kinderbetreuung, die vor allem Frauen eine Berufstätigkeit erschwert. Die Flexibilität der Arbeitszeiten lässt auch zu wünschen übrig. Junge Paare entscheiden sich deshalb häufig gegen Kinder. Mit einer Geburtenrate von 1,2 Kindern pro Frau liegt Deutschland weltweit am unteren Level.

Was müsste sich für eine bessere Vereinbarung von Beruf und Familie ändern?

Die Familienbilder, die in Deutschland vorherrschen: Wir sollten uns offensiver darum bemühen, Väter in ihrer beruflichen und privaten Situation anzuerkennen. Um die Männer stärker in die Verantwortung zu nehmen, müssten sich Aufsichtsräte von Unternehmen oder Männer in Führungspositionen häufiger öffentlich zu dieser Thematik äußern. Auf der anderen Seiten werden Frauen beim Versuch, Familie und Karriere zu verbinden, noch immer stark kritisiert. Als Ursula von der Leyen ihr Ministeramt antrat, fragten viele: „Wie kann eine Frau mit sechs Kindern überhaupt in die Politik gehen?“. Das Elterngeld, das auch an Väter gezahlt wird, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen jedoch auch noch einen gesetzlichen Anspruch auf Kinderbetreuung.

woman sitting on sofa near tables inside room
Foto von AllGo – An App For Plus Size People

Welche Konsequenzen kann eine mangelnde Kinderbetreuung haben?
Wenn die Infrastruktur für die Kinderbetreuung nicht ausreichend ist, sich also die Kinderbetreuungszeiten nicht nach Arbeitszeiten richten, hat ein Unternehmen sichtlich Probleme, geeignete Fachkräfte zu finden. Schon auf eine Arbeitszeit bis 18 Uhr können Beschäftigte mit Kindern oft nicht eingehen, weil einfach die Kinderbetreuung fehlt. Unternehmen, die bei der Arbeitszeit nicht flexibel agieren können, gehen manchmal dazu über die Dinge selbst anzugehen: Sie übernehmen die Kosten für eine Kindertagesmutter oder machen selbst ein Eltern-Kind-Zimmer oder eine Krabbelgruppe in der Firma auf.

Wie wirkt sich der demographische Wandel auf die Vereinbarung von Beruf und Familie aus?

Auf Grund des demographischen Wandels ist die Pflege der Angehörigen ein mindestens ebenso wichtiges Thema wie die Kinderbetreuung. Es wird mehr pflegebedürftige Angehörige als Kinder geben und jeder Beschäftigte ist, auch wenn er keine Kinder hat, mit der Thematik konfrontiert. Wenn jemand mit 50 Jahren mitten im Beruf steht, wird er seine Arbeit nicht aufgeben, um die Angehörigen zu Hause zu pflegen. Deshalb brauchen wir auch einen gesetzlichen Anspruch auf die Pflege von Angehörigen. Die Unternehmen sollten hier den Mitarbeitern die gleiche Flexibilität zugestehen wie bei der Kinderbetreuung.

Wo liegen denn nach Ihrer Erfahrung die größten Defizite der Unternehmen in punkto Familienfreundlichkeit?

Der Mangel besteht vor allem darin zu denken, Familie sei ein weiches Thema. Viele Unternehmen verbinden mit Familie so etwas Soziales, etwas, das mit Frauenthematik zu tun hat. Das Gegenteil ist der Fall: Die Vereinbarung von Beruf und Familie ist ein ganz harter Faktor für die Unternehmensmarke. Neben dem Gehalt steigt die Motivation der Mitarbeiter vor allem dann, wenn sie mit ihren persönlichen und privaten Belangen Ernst genommen werden. Dieser Motivationsfaktor führt zu einer Steigerung der Personalbindung und – trotz des sich in einigen Branchen deutlich abzeichnenden Fachkräftemangels – zu besseren Rekrutierungsleistungen. Deshalb ist Familienfreundlichkeit ein strategisches Instrument, das den unternehmerischen Erfolg unterstützt. Ein weiteres Defizit ist der Wissensstand in Unternehmen: Viele Firmen kennen die Bandbreite der möglichen Maßnahmen nicht.

Welche Maßnahmen könnten das sein?
Das hängt sehr stark vom jeweiligen Unternehmen ab. Auf der Grundlage der Arbeitsumstände in bestimmten Branchen gilt es zunächst zu analysieren, wie sich das Personal zusammensetzt und welche Flexibilität die Mitarbeiter brauchen. Häufig ist es möglich, bestimmte Arbeitsblöcke zu bilden oder Stellen zu teilen. Gerade in Führungspositionen halten das viele Firmen nicht für machbar, aber die Praxis spricht eine andere Sprache. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Möglichkeiten beruflicher Weiterbildung, die ein Unternehmen auch Mitarbeitern mit Kind anbietet. Eine Qualifizierung während der Elternzeit kann wie auch eine Unterstützung beim Wiedereinstieg oder dem Einsatz für Springertätigkeiten eine längere Auszeit verhindern. Doch entscheidend für den Erfolg von familienfreundlichen Maßnahmen ist immer, dass beide Seiten davon profitieren – sowohl die Mitarbeiter als auch die Unternehmen.

Lässt sich der Nutzen für Unternehmen messbar machen?
Leistung und Motivation sind schwer zu messende Faktoren. Doch es gibt andere Kennzahlen, um Unternehmen den betriebswirtschaftlichen Nutzen zu verdeutlichen: Die Veränderungen des Krankenstandes, der Aufwand für die Rekrutierung von Personal oder weniger Fehlzeiten durch mehr Flexibilität. Über diese Kriterien erkennen die Unternehmen ganz klar ihre Vorteile.

Ist die Unternehmensgröße ein Faktor bei der Familienfreundlichkeit?

Grundsätzlich ist die Familienfreundlichkeit eine Frage der Einstellung. Mittelständische Unternehmen haben dabei andere Aufgaben als Großunternehmen. Sie nehmen Einfluss auf die Gegebenheiten vor Ort, beispielsweise auf Kommunen, Jugendämter oder auf Anbieter von Kinderbetreuung und können damit die lokale Situation verbessern. Außerdem gibt es in kleineren Unternehmen aufgrund der Personalstärke nicht unbedingt jemand, der sich speziell mit dem Thema Familienfreundlichkeit beschäftigt und das entsprechende Know-how hat. Das Wissen zum Thema müssen kleine und mittlere Unternehmen deutlich stärker auf verschiedene Mitarbeiter verteilen. Wenn das nicht möglich ist, bleibt die Option, Kompetenz von außen hereinholen. Das ist über das „audit berufundfamilie“, einer Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, sehr gut möglich.

Was hat es mit dem „audit berufundfamilie“ auf sich?
Das ist eine Zertifizierung und ein Gütesiegel. In den Unternehmen erheben die Auditoren zunächst den Ist-Stand an familienfreundlichem Personalmanagement entlang von acht Handlungsfeldern. Daraus definieren sie den Bedarf und die Handlungsstrategien für die nächsten drei Jahre, die in einer Zielvereinbarung festgeschrieben werden. Nach drei Jahren prüft eine unabhängige Zertifizierungsstelle in einer Re-Auditierung den Umsetzungsstand und vergibt im Erfolgsfall das Zertifikat. Unternehmen, die sich diesem Bewertungsprozess stellen, können dann das Gütesiegel für ihr Employer Branding einsetzen. Das lässt sich zum Beispiel bei Stellenanzeigen beobachten. Manche führen das Siegel auch im Briefkopf oder bei Werbebroschüren ein.

Also kann jedes Unternehmen teilnehmen – egal wie familienfreundlich es schon ist?
Manche Unternehmen nehmen ihren Einstieg in das Audit ganz bewusst zum Start für familienfreundliche Maßnahmen. Zunächst müssen sie eine Palette von Kriterien für Familienfreundlichkeit für sich definieren. Es ist sehr hilfreich, sich diesem Prozess zu stellen, denn manchmal nehmen Unternehmen bereits vorhandene Kriterien zunächst nicht als familienbewusst wahr. Wenn eine gewisse Flexibilität von Arbeitszeiten aufgrund von bestimmten Öffnungs- oder Produktionszeiten in der betreffenden Branche erforderlich sind, dann bringen das die wenigsten mit Familienfreundlichkeit in Zusammenhang. Viele Firmen erkennen dann erst, dass beide Seiten profitieren – das Unternehmen, weil eine gewisse Flexibilität für die Kundenorientierung wichtig ist und die Mitarbeiter, die beispielsweise in teilautonomen Teams ihre Arbeitszeit an ihren Alltag anpassen.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen, damit die Vereinbarung von Beruf und Familie besser gelingt?
Die Verantwortlichen an einem Tisch: Unternehmen, Länder und Kommunen sollten die Konzepte gemeinsam besprechen. Außerdem eine bessere Infrastruktur für Pflege und Betreuung, verbesserte Bildung und viele Führungskräfte, die in hohen Positionen ein Beispiel sind.

Interview: Stefanie Hornung

Barbara Locher-Otto wird am 11. September 2007, um 12:00 Uhr, auf der Fachmesse Zukunft Personal in Köln am Beispiel der Firma Pflitsch GmbH & Co. KG zeigen, wie sich das „audit berufundfamilie“ in der Praxis bewährt.