Die Digitalisierung treibt den Bedarf an IT-Fachkräften in die Höhe. Aber der Markt ist abgegrast. Eine Herausforderung für Arbeitgeber. Denn Digitalexperten haben nicht nur eigene Erwartungen, sondern zunehmend auch die Macht, diese durchzusetzen. Als weltweit gesuchte Spezies können sich gute Programmierer, Administratoren und Designer aussuchen, wo und wie sie arbeiten wollen.

Gestern Nerd, heute Held: Deutschland sucht die digitalen Superstars
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Christiane S. überlegt kurz und lacht: „Ich habe keine Ahnung!“ Die 32-Jährige surft ab und zu aus purer Neugier durch Stellenbörsen, hat aber noch nie eine Bewerbung geschrieben. Noch vor Abschluss ihres Informatik-Studiums konnte sie sich den ersten Job aus mehreren Angeboten aussuchen. Und so ging es weiter. Manchmal nerven sie die ständigen Anfragen in den Businessnetzwerken. „Aber wenn ein Projekt abgeschlossen ist oder mir langweilig wird, ziehe ich weiter.“ Sorgen um ihre berufliche Zukunft in schnelllebigen, unsicheren und wechselhaften Zeiten macht sie sich nicht.

Megatrend und Mangelware

Christiane S. vertritt eine der begehrtesten Fachkräfte-Gruppen der Gegenwart und Zukunft: Experten, die sich mit digitalen Automatisierungs-, Kommunikations- und Informationstechnologien im weitesten Sinne beschäftigen. Hier hat der Fachkräftemangel gravierende Folgen für die gesamte Wirtschaft: Mitten in der digitalen Transformation schränkt er die Entwicklungs- und Innovations-, Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen und Bereiche ein oder bremst sie zumindest aus.

Der Digitalverband Bitkom e.V. meldete Ende 2018 einen neuen Höchststand mit 82.000 Vakanzen für IT-Spezialisten und einem Zuwachs von 49 % im Vergleich zum Vorjahr. Tendenz steigend. In Quantität und Qualität. „Quer durch alle Branchen werden IT-Spezialisten händeringend gesucht. Auch in vielen klassischen Berufen steigen die Anforderungen an die Digitalkompetenz“, so Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder. Laut Bitkom dauert die Neubesetzung von 80 % aller IT-Vakanzen vier bis sechs Monate.

Bewandert mit Bits und Bytes

Nicole Eigner kann davon ein Lied singen. Die Personalberaterin bei der Transformation Partner Executive Search GmbH sucht immer wieder IT-Spezialisten für ihre Mandanten. „Die Zielgruppe ist sehr gemischt. Die Unterschiede sind riesig.“ Wer also pauschal von „IT’lern“ spricht, erntet allenfalls Kopfschütteln. Umso wichtiger ist Klarheit in Arbeitgebermarketing und -kommunikation, wenn es um die Bewohner und Bewirtschafter der digitalen Welt geht.

Stack Overflow erstellt regelmäßig Studien über die heterogene Entwickler-Community. Zur Zielgruppe gehören in Deutschland vor allem Backend-, Frontend- und Full-Stack-Entwickler, Desktop-, Application- und Mobilentwickler, DevOps-Spezialisten sowie Datenbank- und Systemadministratoren. Sie sind zu gut 30 % in allgemeiner Softwareentwicklung, IT und Consulting tätig. Die meisten verteilen sich mit breiter Streuung auf andere Branchen. Rund 85 % arbeiten als Angestellte; 8 % sind als Freiberufler oder Einzelunternehmer unterwegs.

Auch laut der jüngsten Studie „Decoding Digital Talent“ der Boston Consulting Group (BCG) in Zusammenarbeit mit The Network arbeiten Digitalexperten in verschiedenen Aktionsfeldern wie Data Mining, Engineering und Analytics, Programmierung, Web und Mobile App Development, Digital Design und Marketing, Machine Learning, Automation, Robotics und künstliche Intelligenz.

Trotz dieser vielfältigen Einsatzbereiche soll an dieser Stelle der Einfachheit halber von IT-Fachkräften, IT-Experten oder Digital-Talenten die Rede sein.

Unter Strom und auf dem Sprung

Rund 75% der Entwickler sind laut Stack Overflow mit ihrer Karriere zufrieden oder sehr zufrieden und immerhin rund 68% mit ihrem Arbeitsplatz. Dennoch wechseln IT-Experten relativ häufig den Job. Stefan Schwarzgruber, Country Manager DACH, stellt fest: „58 % der Entwickler in Deutschland sind offen für neue berufliche Herausforderungen, und 9 % suchen aktiv nach einem Job.“

Vor diesem Hintergrund stehen sich viele Unternehmen auf der Suche nach Fachkräften selbst im Weg. „Die meisten Arbeitgeber machen sich viel zu wenige Gedanken darüber, was genau sie ihren künftigen Mitarbeitern bieten. Es werden nur Anforderungen gestellt, anstatt auch darüber nachzudenken, was man als Arbeitgeber besser machen könnte als andere“, sagt Nicole Eigner und berichtet von Begegnungen aus der Praxis. So wünschte sich ein Technical Relationship Manager dynamische und schnelle Prozesse, moderne Technologien, Spielräume und Flexibilität in Sachen Arbeitszeit, -raum und -gestaltung, Möglichkeiten der mobilen Arbeit und eine gute Teamatmosphäre unter „coolen“ Kollegen. Ein Data Scientist mit „großer Neugier“ legte Wert auf spannende Aufgaben und ähnlich gesinnte Kollegen. Einen Application Development Engineer lockte ein hohes Gehalt ins Ausland. „Der Marktwert wird ausgelotet, und so können entsprechende Forderungen gestellt werden“, sagt Nicole Eigner.

Auf einem leergefegten Markt greift gnadenlos das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Mit zunehmendem Fachkräftemangel steigen die Gehaltswünsche, die laut Bitkom der Besetzung von IT-Stellen oft im Wege stehen. Stefan Schwarzgruber von Stack Overflow ergänzt: „Generell fühlen sich deutsche Entwickler unterbezahlt.“ Dennoch: Geld ist nicht alles.

Spannung, Spaß und Spielräume

„Wenn Sie wissen wollen, was Entwicklern im Job wirklich wichtig ist, fragen Sie am besten direkt nach“, sagt Stefan Schwarzgruber bestechend unverblümt.

Für Arbeitgeber bedeutet das, auf die Wünsche der begehrten IT-Fachkräfte individuell einzugehen. Auch wenn man es nicht immer jedem recht machen kann: Oft genügt schon ein Entgegenkommen. Studienergebnisse ergänzen die eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen. Auf dieser Basis lässt sich eine für IT-Fachkräfte attraktive Arbeitgebermarke aufbauen.

Was also ist Entwicklern wichtig im Job? Wonach bewerten sie eine Stelle? Antworten finden sich unter anderem im jüngsten Deutschlandreport von Stack Overflow. Demnach stehen an erster Stelle flexible Arbeitszeiten, gefolgt von den Programmiersprachen, Frameworks und Technologien, mit denen gearbeitet wird, dem Arbeitsumfeld und dem Angebot zur Weiterentwicklung. „In einem so dynamischen Gebiet ist es unabdingbar, fachlich auf der Höhe zu bleiben“, betont Stefan Schwarzgruber.

Im Vergleich dazu zählt BCG die folgenden für die globale Entwickler-Community wichtigen Faktoren auf: Work-Life Balance, Fort- und Weiterbildung, Karriereentwicklung, gute Beziehungen zu Kollegen und Vorgesetzten sowie die Vergütung.

Da sich gute IT-Experten ihren Arbeitsplatz weltweit aussuchen können, ist die Frage nach den beliebtesten Destinationen interessant. Gemäß der BCG-Studie würden 40 % am liebsten in den USA arbeiten und 31 % in Deutschland; danach folgt der Rest der angelsächsischen Welt. Das bedeutet für Politik und Wirtschaft, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass IT-Experten gerne ins Land kommen und bleiben.

Kompetenz mit Konsequenz

Trotz des Marktdrucks ist hektischer Aktionismus wenig hilfreich. Laut BCG steckt der Lösungsansatz bereits in der strategischen Planung im Unternehmen. Nur wer weiß, welche Kompetenzen im Zuge der Digitalisierung heute und morgen gebraucht werden, erkennt die Lücken und kann entsprechende Maßnahmen einleiten. Der erste Blick geht nach innen: Wie können sowohl jüngere als auch erfahrene Mitarbeiter im Sinne des lebenslangen Lernens fehlende Digitalkompetenzen auf- und ausbauen? Und wie lassen sich diese sofort anwenden und umsetzen?

Neben konsequenter Personalentwicklung ist kreatives Personalmarketing gefragt. Wenn IT-Experten u.a. gerne in Deutschland arbeiten wollen, dann sollte das Recruiting auch international die Fühler ausstrecken. Stefan Schwarzgruber rät: „Man darf nicht nur auf den Lebenslauf schauen. Entwickler hinterlassen Spuren im Netz. Nicht selten kann man Vorträge, Slides und Tweets finden, die einem schon vor dem ersten Gespräch Einblicke in die Interessen gewähren.“ Geschwindigkeit im Auswahlprozess ist Trumpf. Wer sich monatelang Zeit lässt, verliert gute Kandidaten sofort an die Konkurrenz.

Da jedes Unternehmen heutzutage angesichts der ständigen Veränderungen am Markt flexibel sein muss, sind freie Mitarbeiter für projektbasierte Einsätze unverzichtbar. Hier herrscht jedoch beim Thema Scheinselbstständigkeit nach wie vor große Verunsicherung in Deutschland. Für Aufsehen sorgte jüngst die Meldung beim Verband der Gründer und Selbstständigen in Deutschland (VGSD e.V.), dass Vodafone den Einsatz von IT-Freelancern verboten hat. Der Anteil der selbstständigen Fachkräfte könnte also bei entsprechender Rechtssicherheit und Gründungsförderung steigen. So würde verhindert, dass gute Kräfte ins Ausland abwandern, weil ihnen hierzulande zu viele Steine in den Weg gelegt werden.

Christiane S. kümmern diese Überlegungen wenig. Das Angebot aus der Schweiz war einfach zu verlockend. Ihr Freund, Krankenpfleger und Rettungssanitäter, kommt mit. Zwei gesuchte Fachkräfte weniger für Deutschland.

Autorin: Kerstin Wadehn