Herr De Micheli, sind E-Books für Verlage eine Bedrohung?
Jene Verlage, welche das so sehen, werden nicht von E-Books bedroht sondern viel eher von deren Weigerung und Ängsten, sich den digitalen Herausforderungen zu stellen. E-Books sind nach meinem Dafürhalten eine Chance für Verlage, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, neue Inhalte und Leistungsformen zu bieten und neue Leser anzusprechen. Doch das Umdenken fällt vielen schwer, da man sich mit vielen Ungewissheiten auseinandersetzen muss, die Entwicklung nur schwer eingeschätzt werden kann und man in technologische Sphären kommt, die völlig neue Sichtweisen erfordern.

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Foto von Domenico Loia

Wie verläuft die Entwicklung von E-Books zur Zeit?
Ich denke, wir haben den Tipping-Point erreicht, also jenen Punkt, an dem die bisherige eher lineare Entwicklung abrupt abbricht und sich rasant nach oben beschleunigt und ein Massenmarkt zu entstehen beginnt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Preise einfacher E-Book-Geräte sind stark gefallen und es gibt neue sehr leistungsfähige Geräteformen wie die Tablets mit neuen Funktionen. 

E-Books werden in Medien auch schon seit längerem stark thematisiert und die neue, mit der Playstation und dem Internet aufgewachsene Generation ist jetzt im Lesealter. Dabei ist wichtig: Sie haben keine Berührungsängste mit digitalen Medien mehr. Dann gibt es auch ganz einfache alltägliche Indikatoren: Immer mehr Leser in öffentlichen Verkehrsmitteln, die ein E-Book lesen. Das ist jeweils augenfällig, dass ein Durchbruch stattfindet.

Was können denn E-Books mehr als gebundene Bücher?
Das E-Book steht am Anfang seines Potenzials. Aber schon heute kann man E-Books bei drahtlosen Internetverbindungen sehr einfach per Knopfdruck in wenigen Minuten auf den E-Book-Reader laden und lesen – dabei hat man mit Leseproben beim Buchkauf erst noch bessere Prüfmöglichkeiten, bevor man es kauft. E-Books sind im Allgemeinen preiswerter und Studierende haben auf ihren Geräten Zugriff auf ganze Fachbibliotheken. 

Das digitale Buch ist zudem auch ökologisch, Material- und Distributionsaufwand fallen weg. Aber auch bessere Recherchemöglichkeiten und Inhalteverarbeitungen sind nützlich: Zu einem Kernthema des Buches erfahre ich sofort, wo das Thema im Buch sonst noch behandelt wird und interessante Aussagen kann man schnell und einfach markieren und archivieren. Und auch die integrierten Wörterbücher sind gerade für Lernende interessant.

Sie sagen, E-Books stehen am Anfang ihres Potenzials. Was ist denn mehr zu erwarten?
E-Books sind in der Darstellungsqualität und -vielfalt heute noch eingeschränkt. Doch schon bald wird man wohl Bildbände in höchster Qualität produzieren können, die gebundenen Büchern in nichts nachstehen. Interaktivität, Multimedialität und Vernetzung sind meines Erachtens die interessantesten und wahrscheinlichsten Entwicklungsbereiche und Innovationspotenziale. Konkret kann dies für den Leser folgende spannenden Möglichkeiten bieten: man tippt auf eine Abbildung und kann sich einen kurzen Dokufilm anschauen, eine Grafik einblenden lassen, aktuelle Artikel von Fachmagazinen aufrufen, beim Zitat eines Experten ein aktuelles Interview von ihm ansehen oder zu einem wichtigen Thema gleich ein Webinar dazu buchen.

Einen Einblick gewährt Apple mit iBooks 2.0 im Bildungsbereich bereits. Auch das Social Reading wird interessant, also zu einer Autorenmeinung in Online-Leser-Communitys erfahren, was andere Leser dazu sagen oder E-Books mit anderen gemeinsam lesen und Meinungen über Aussagen und Inhalte austauschen.

Welche Chancen bieten Ihnen E-Books als Fachverlag?
Für uns als Fachverlag sind E-Books – mit den oben genannten Möglichkeiten – besonders interessant. Wir können neue, jüngere Leser ansprechen, Fachbücher mit Zusatzleistungen wie Analysetools und Kurzpräsentationen für die betriebliche Anwendung anreichern. Aber auch sogenannte Single-Auskoppelungen sind interessant, also das Zweitverwerten einzelner Kapitel für neue Nischenthemen-E-Books. Bücher von 60-80 Seiten finden in gedruckter Form kaum Akzeptanz, weil sie zu schmal wirken, bei E-Books fällt dieser Nachteil weg. 

Aber wir werden auch wesentlich schneller auf aktuelle Themen reagieren können; besonders interessant sind dabei die Aktualisierungsmöglichkeiten – konnte man dies bei gebunden Büchern alle zwei Jahre, ist es bei einem E-Book vierteljährlich oder bei Top-Themen gar monatlich möglich. Dies hat enormen Einfluss auf die Qualität und Zuverlässigkeit der Fachinformationen. 

Hinzu kommt der Medienverbund, also Buchinhalte mit Internetangeboten zu koppeln. Auch Lancierungsrisiken können gesenkt werden, indem wir neue Themen vorerst als  Kurzverionen oder nur mit einzelnen Kapiteln publizieren und bei guter Nachfrage ein Buch dann erweitern und es auch als Printausgabe herausgeben. Auch Testleserunden mit Probekapiteln sind eine Möglichkeit, um das Marktpotential eines Manuskriptes zu prüfen und so das Floprisiko zu minimieren.

Sollen E-Books billiger oder gleich teuer sein wie gebundene Bücher?
Das Pricing ist der Preispolitik der Verlage überlassen, man handhabt dies unterschiedlich. Einige machen keine Preisunterschiede, andere senken sie in einer Bandbreite von 10 bis zu 30 Prozent. Für die Beibehaltung der Preise gibt es gute Gründe, wie zum Beispiel der, dass nicht der Datenträger den Wert eines Buches ausmacht, sondern der Inhalt, der Lesestoff. 

Wir geben zur Zeit fünf Werke als E-Books heraus und erachten es aber dennoch als ein Gebot der Fairness, Kosteneinsparungen weiter zu geben und die E-Book-Entwicklung nicht preislich zu hemmen: Unsere E-Books sind 30 Prozent günstiger als die gebundenen Versionen. Interessant sind übrigens unsere “Hybrid-Angebote” bei einigen Titeln: Auf deren CD-ROM ist das gebundene Buch auch als E-Book nutzbar, was dem Leser beide Möglichkeiten des Lesens gibt. 

Wie gehen Sie in ihrem Verlag konkret vor?
Wir praktizieren die Politik der kleinen Schritte, d.h. wir sind in E-Books im Tempo und mit den Investitionen parallel, d.h. im Einklang zum Marktwachstum aktiv. Wir waren schon früh bei Ciando dabei und geben nun fünf Bücher als E-Books heraus. Aus den so gewonnenen Erkenntnissen nahe an Markt und Lesern sammeln wir praktische Erfahrungen, beobachten Wachstum und Kundenverhalten in und aus der Praxis und können unsere Massnahmen immer flexibel an neue Entwicklungen und Trends anpassen, was zum Beispiel die Datenformate, Technologien, Preisgestaltung, Plattformen, Qualitätsansprüche der Leser und mehr betrifft.

Glauben Sie, dass das gebundene Buch verschwinden wird?
Nein, das glaube ich nicht. Man hat schon so oft Szenarien heraufbeschwört, dass für traditionelle Medien das Ende kommt – doch selbst das gute alte Radio und auch das Kino gibt es noch heute und so wird es wohl auch dem gebundenen Buch ergehen, eine Koexistenz mit E-Books. Der Anteil und das Wachstumspotenzial, bzw. der Umsatzanteil von E-Books wird von Verlagen unterschiedlich beurteilt. Ich persönlich glaube, dass kurzfristig vier bis sechs Prozent und mittel- und langfristig ein Anteil bis zu 30 Prozent und mehr möglich bzw. wahrscheinlich sein könnte. 

Es gibt Smartphones, E-Book-Reader, Tablets und mehr – welches Gerät hat Zukunft?
Die Vielfalt der Geräte ist in der Tat verwirrend, was die Nutzung für E-Books betrifft. Die klassischen E-Book-Reader sind sehr preiswert geworden und verfügen über die lesefreundliche E-Ink-Technologie. Ich persönlich glaube jedoch, dass die Tablets die E-Book-Reader verdrängen werden. Aus mehreren Gründen: Sie stossen auf eine ausserordentliche Resonanz, die Computingpower von Tablets gestattet interessantere Anwendungen mit Internetvernetzung und Multimedialität, deren Displaygrösse ist sehr nahe am Buch und die Auflösung bei guten Geräten exzellent. Und wer möchte schon ein halbes Dutzend Geräte mit sich herumtragen, wenn sich vieles auf einem erledigen lässt – eben das Lesen auch auf Tablets?

Sie sind ein Fachverlag für das Personalwesen. Was bieten E-Books dem Human Resource Management?
Sie eröffnen neue Möglichkeiten des Lernens in der Personalentwicklung. Wie schon gesagt, können Bücher sehr schnell und meistens kostengünstiger bezogen werden und sind aktueller, was bei Themen wie dem Arbeitsrecht und Sozialversicherungen besonders wichtig ist. Zugriff auf ganze Fachbibliotheken auf E-Book-Readern zu haben und Zusatzinhalte wie Kurzseminare oder Interviews abrufen zu können, ist ebenfalls interessant und eine Bereicherung des Lernens.

Auch das Social Reading, also das Diskutieren, Verarbeiten und gemeinsame Lesen in Mitarbeitergruppen oder mit Niederlassungen, wird neue, sehr interessante Perspektiven eröffnen. Auch das schnelle Reagieren auf neue Trends und Gesetze ist wesentlich flexibler möglich. Gibt es im Arbeitsrecht eine wichtige Neuerung, ist schon ein Monat später ein E-Book dazu denkbar.

Ich denke, langfristig sind für Unternehmen auch unternehmensspezifische E-Books interessant, oder – jetzt ein wenig weit in die Zukunft geblickt – solche, die sich mit vorhandenem Wissen aus Datenbanken, Communities, Lernveranstaltungen, Mitarbeiter-Blogs und mehr sozusagen automatisiert generieren lassen und permanent Erfahrungen und Kommentare von Lesern aufnehmen. Doch das ist zur Zeit noch Zukunftsmusik – allerdings nur teilweise. Social-Reading-Dienste beispielsweise gibt es bereits, wie hier bei Readmill.

Aus:
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