Das Unternehmen B. Braun wurde vor 180 Jahren als Apotheke im deutschen Melsungen in der Nähe von Kassel gegründet. Im Lauf der Jahrzehnte entwickelte es sich zu einem Gesundheitsdienstleister, der 63.000 Mitarbeiter in 64 Ländern beschäftigt und mit seinen rund 5.000 Produkten einen Umsatz von sieben Milliarden Euro erzielt. Eine Erfolgsgeschichte. Dennoch wuchs die Unzufriedenheit von Geschäftsleitung und HR mit der eigenen Struktur. Wie es dazu kam, dass B. Braun sein Organigramm sprengte – und welche Veränderungen das im Unternehmen hervorrief, beschreibt Bernadette Tillmanns-Estorf, Senior Vice President Corporate Communications und Corporate Human Resources bei der B. Braun Gruppe, im Interview.

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Bernadette Tillmanns-Estorf

Frau Tillmanns-Estorf, wie kam es dazu, dass Sie bei B. Braun Ihr Organigramm in Frage gestellt haben? 

B. Braun ist in den 180 Jahren seines Bestehens kontinuierlich gewachsen – und zwar nicht nur bezogen auf den Umsatz, sondern auch im Hinblick auf die Zahl seiner Mitarbeiter. Das ist grundsätzlich nicht schlecht. Doch wenn Unternehmen – so wie wir es getan haben – in Organigrammen denken und planen, dann wachsen sie überproportional zum Ertrag. Das hat folgenden Grund: Wenn eine neue Führungskraft im Unternehmen ihr Kästchen im Organigramm bekommt, dann versucht sie zwangsläufig, viele Kästchen unter sich haben, damit sie in der Organisation relevanter wird. So kommt es, dass für neue Aufgaben sofort neue Mitarbeiter eingestellt werden, das Organigramm größer wird und der Gewinn sinkt. 

Ein weiteres Problem: Die Aufgaben werden nicht mehr vernünftig im Unternehmen verteilt. Wenn ein Mitarbeiter sagt, dass er gerne bei einer Aufgabe dabei wäre, die nicht unmittelbar seinen Bereich betrifft, dann hat er kaum Chancen, daran mitzuwirken, weil er aus seinem Kästchen nicht rauskommt. Denn über ihm steht ein Chef, der sagt: „Nein, du bist mein Mitarbeiter und arbeitest an meinen Projekten. Dafür gebe ich dich nicht frei“. Das ist ein riesiges Problem in vielen Unternehmen: Dieses Silo- und Kästchen-Denken, das Organigramme automatisch mit sich bringen und fördern, war für uns ein Haupt-Beweggrund, einen ganz anderen Weg zu gehen. 

Wie haben Sie angefangen? 

Wir haben in meinen beiden Bereichen – Corporate Communications und Corporate HR – jeweils Pilotprojekte gestartet. Mein Ziel war es, mehr Flexibilität  und mehr Austausch zu schaffen, auch über Abteilungen und Teamgrenzen hinweg. So haben wir uns vor zwei Jahren im Februar mit beiden Bereichen zu einer Kick-Off-Veranstaltung getroffen, bei der wir beschlossen haben, anders und transparenter zusammenzuarbeiten, Eigenverantwortung zu fördern und Mitsprachemöglichkeiten zu schaffen – ohne zu wissen, was da am Ende entstehen kann und wird. Ich hatte kein neues Organigramm in der Schublade und auch keine genaue Vorstellung, wie eine künftige Struktur aussehen könnte. Ich hatte nur die Devise ausgegeben, dass wir über die Kästchen unseres Organigramms hinweg agiler und damit hoffentlich auch schneller zusammenarbeiten wollen, um rascher zu Ergebnissen zu kommen. 

Wie haben Ihre Teams reagiert? 

Die Reaktionen waren wie bei jeder Veränderung. Es gab Kollegen, die waren total neugierig und positiv eingestellt. Dann gab es diejenigen, die sich erst mal zurückgelehnt haben und meinten, „Das wird schon vorbeiziehen“. Und dann gibt es bis heute einige, die das überhaupt nicht mittragen und versuchen, es mit Vermeidungsverhalten zu umgehen. Wichtig war, dass der weit überwiegende Teil der Kollegen diese Einladung angenommen hat. 

Haben Sie sich an einem bestimmten Modell des agilen Arbeitens orientiert?

Das Konzept, das dann im Lauf der Zeit entstanden ist – wir nennen es „Task & Teams“ – haben wir für B. Braun maßgeschneidert. Wir nutzen Teile von Scrum, ein bisschen Holacracy und wir arbeiten mit Design Thinking sowie anderen Methoden. Wir haben uns aus verschiedenen Modellen bedient, aber unseren Anzug auf uns abgestimmt, damit er auch richtig passt. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir uns dem Thema nicht Theoretisch genähert haben, sondern sofort ausprobiert haben. 

Was waren erste Schritte auf dem Weg in das neue Arbeiten?

Wir haben uns in unseren Pilotprojekten eine Art Plan für das Jahr gegeben und in „Sprints“ am Thema Agilität gearbeitet. Sprints sind Projektphasen mit einem klaren Ziel, beispielsweise Rollen und Verantwortlichkeiten für die Abteilung zu erarbeiten. . Diese Sprints haben wir extern moderieren lassen, denn uns fehlte ja das Know-how zu agilen Arbeitsmethoden. Das haben wir uns über ein Start-up aus Berlin an Bord geholt, das uns durch diesen Prozess gesteuert hat. Mit war sehr wichtig, dass wir zu einem sehr frühen Zeitraum agile Methoden ausprobieren. Denn wir hatten wenig Zeit, uns zunächst theoretisch mit dem Thema zu beschäftigten. Daher haben wir unsere Aufgaben einfach mal anders erledigt. 

Welche Aufgaben waren das zum Beispiel?

Im März haben wir immer unsere Bilanzpressekonferenz, die früher eine Mitarbeiterin weitgehend alleine vorbereitet hat. Jetzt fragen wir im Vorfeld: „Wer hat Lust, daran mitzuarbeiten?“ Dann gründet sich ein Kreis und die Rollen werden verteilt. 

Wir haben uns auch mit dem Selbstverständnis unserer Abteilungen beschäftigt und gemeinsam definiert, was unser Beitrag zum großen Ganzen ist und wie sich jeder einzelne einbringen kann. Früher war eine solche Strategie-Arbeit Aufgabe der Führungskräfte und die Ergebnisse wurden vielleicht im Bereichsmeeting gezeigt. Aber jetzt hatte jeder die Möglichkeit, mitzuwirken. 

Wie funktioniert heute die Entscheidungsfindung in den Teams? 

Wenn sich ein Kreis gründet, gibt er sich erst mal einen Auftrag. Wir haben dafür ein Formular, in dem wir die Aufgaben, die Ziele und die Beteiligten beschreiben. Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Zusammenhang klären, ist das Entscheidungsprinzip. Bevor also die Arbeit erledigt wird, gibt sich jeder Kreis seine Regeln und legt fest, wie er entscheiden will. Gilt das Konsensprinzip oder die einfache Mehrheit? Gibt es die Möglichkeit, Beschlüsse über Veto zu stoppen? Welche Entscheidungsprinzipien die richtigen sind, hängt vom Inhalt der Aufgaben ab – und das müssen die Kreis-Mitglieder selbst beurteilen. 

Fest stehet: Agiles Arbeiten funktioniert nicht ohne Regeln. Wir brauchen heute wahrscheinlich sogar mehr Regeln als im hierarchischen Arbeiten, das wir ja über Jahre, teilweise Jahrzehnte gelernt und gelebt haben. Daher haben wir den Kreis „Kooperation“ gegründet, der die Regeln der Zusammenarbeit aufgestellt hat. Wir haben Rollen und Verantwortlichkeiten beschrieben – und auch überlegt, wie wir neue Aufgaben transparent machen beziehungsweise auf welche Weise sich Kollegen für neue Aufgaben melden können. Hier spielen vor allem neue Meetingformate eine Rolle. So stellen die Kolleginnen und Kollegen in wöchentlichen Speed-Meetings neue Projekte vor und schreiben Aufgaben und Rollen aus, auf die man sich bewerben kann.

Sie verwenden nach wie vor die „alten“ Funktionsbezeichnungen. Wie werden sich Karrierewege und Titel durch das agile Arbeiten verändern? 

Das haben wir für uns noch nicht komplett gelöst. Aber da müssen wir schnellstens ran. Dabei müssen wir zum einen berücksichtigen, dass die Welt um uns herum überwiegend noch in Hierarchien denkt. Zum anderen wollen wir aber Wege finden, die Leistungen der Mitarbeiter in der agilen Arbeitswelt zu honorieren – sei es über Job Title oder Gehalt oder Incentives. 

Grundsätzlich ist es so, dass es in unserem Modell weiterhin Führungskräfte gibt – im Unterschied beispielsweise zu Holacracy. Wir haben viel über die Rolle von Führung diskutiert und sind da auch noch nicht am Ende. In der Praxis ist Führung ein ständiges Balancieren zwischen Einwirken und Einmischen einerseits und der eher zurückgenommenen Rolle als Coach, Begleiter und Mentor andererseits. Trotz dieses Spagats glauben wir, dass Führung weiterhin eine wichtige Rolle spielen kann und sollte. Daher haben wir sie nicht abgeschafft, sondern eher eine Brücke gebaut zwischen Alt und Neu. 

Inwiefern müssen Sie Ihre HR-Tools an die agile Arbeitswelt anpassen? 

Auch das beschäftigt uns gerade. Wir haben zum Beispiel in der Vergangenheit einmal im Jahr Jahresgespräche geführt – ganz klassisch mit Papierbögen, die Führungskräfte und Mitarbeiter ausgefüllt haben. Das wollen wir ändern und stattdessen monatliche Entwicklungsgespräche führen, an denen nicht nur Führungskraft und Mitarbeiter teilnehmen, sondern auch Kollegen. Der Vorgesetzte und der Mitarbeiter können jeweils einen Kollegen bestellen. Diese Peers ergeben sich natürlich aus den laufenden Projekten. 

Sie haben „Task & Teams“ in HR und Communications erprobt. Wie haben Sie es dann ins Unternehmen getragen? 

Wir haben „Task & Teams“ nicht auf das gesamte Unternehmen ausgerollt, sondern sehen es als Angebot, um unterschiedliche Anforderungen und Probleme im Unternehmen zu lösen. Sprich: Wir begleiten die Freiwilligen. Davon gibt es viele, die sich aus unterschiedlichen Gründen melden. Einige wollen in ihren Bereichen transparenter werden und die Mitarbeiter stärker einbinden, andere möchten schneller werden und Antwort auf die VUCA-World finden. Diese Teams und Bereiche begleiten wir von Corporate HR und Corporate Communications. 

Wie gehen Sie dabei vor?

Wir haben sogenannte „Change Architects“ als interne Berater bestimmt. Das sind meist Tandems, die Kompetenzen in Organisationsentwicklung und Kommunikation mitbringen. Diese Change Architects haben wir demokratisch gewählt. Mitarbeiter konnten sich für die Rolle bewerben und in einem Pitch in fünf Minuten ihre Motivation beschreiben. Anschließend wurde abgestimmt. 

Die Change Architects führen mit den Kollegen, die „Task & Teams“ nutzen möchten, zunächst ein Auftragsklärungsgespräch, um zu hinterfragen, was genau deren Absicht ist. Möglicherweise geht es ihnen nur darum, Meetings anders zu konzipieren – auch dazu können wir etwas anbieten. Wir haben verschiedene Module entwickelt, die Unternehmensbereiche nutzen können, um agil zu arbeiten, und die beispielsweise Unterstützung bei agilen Meetings, Entscheidungsfindungen oder Feedbackprozessen geben.   

Ich hatte heute gerade eine Skype-Konferenz mit meinem Kollegen in Malaysia. B. Braun Malaysia wird Task & Teams auf Wunsch der Vorstandsvorsitzenden komplett einführen! Das wird mit rund 8.000 Mitarbeitern die bislang größte Einheit des Unternehmens sein, die das Modell nutzen wird. Darüber hinaus haben schon an die 15 Bereiche Kontakt mit uns aufgenommen. Mit ihnen laufen Projekte und Beratungen in unterschiedlichen Ausprägungen. Ein Beispiel ist der Bereich Scientific Affairs, der Produkte für den Medizinbereich entwickelt. Dieser will sich komplett neu ausrichten – so wie wir es getan haben. 

Ist es aus Ihrer Sicht zentral, dass HR in einem solchen Projekt eine tragende Rolle spielt – wie in Ihrem Fall? 

Bei uns ging die Initiative für das Projekt vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und mir aus – und da ich die beiden Bereiche HR und Communications leite, bot sich an, hier zu starten. Insgesamt finde ich es total wichtig, dass HR bei sich selbst beginnt. Denn wie will ich ein Unternehmen verändern, wenn ich mich selbst nicht bewegt habe? Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. 

Für uns war die Kombination aus HR und Kommunikation in unserem Unternehmen ein Glücksfall. Denn ich bin der Überzeugung, dass HR alleine den Impuls nicht setzen kann, sondern dass es Kollegen braucht, die wissen, mit welchen Botschaften sie Mitarbeiter erreichen und wie sie Veränderungen am besten erkläre. 

Sie haben einen Test entwickelt, mit dem jeder selbst einschätzen kann, ob er/sie sich für diese Art des Arbeitens eignet. Welche Faktoren sind dabei entscheidend?

Da gibt es viele Faktoren. Wenn eine Führungskraft beispielsweise sagt, sie möchte die uneingeschränkte Macht haben und diese nicht teilen, dann ist sie für „Task & Teams“ nicht geeignet. Da kann ich als HR vielleicht den Anspruch haben, denjenigen zu trainieren. Aber das würde nichts bringen. Daher würde sich für uns auch die Frage stellen, ob so jemand zu B. Braun passt. Ein weiterer Aspekt ist die Fähigkeit Unsicherheit auszuhalten. Sie ist für „Task & Teams“ sehr wichtig. Das betrifft Mitarbeiter und Führungskräfte gleichermaßen. Denn es ist viel Vertrauen von beiden Seiten nötig, um sich auf diesen Weg zu begeben. So gibt es einige Persönlichkeitsmerkmale oder Einstellungen, die dazu führen, dass ich mit „Task & Teams“ zurechtkomme – oder eben nicht. 

Was können Sie anderen Unternehmen mit auf den Weg geben, die in eine ähnliche Richtung gehen wollen? 

Mein erster Tipp lautet: Nicht so viel reden, einfach ausprobieren. Dabei lernen alle Beteiligten so viel, dass sich allein das Probieren lohnt, auch wenn die Teams nicht die perfekte Lösung entwickelt. Das zweite wäre: Geben Sie Mitarbeitern eine Chance, nehmen Sie sie mit und lassen Sie sich positiv überraschen, welche Kreativität dieser Weg freisetzt. Das ist wirklich schön zu sehen. 

Wie geht es weiter mit „Task & Teams“ bei B. Braun? 

Wir müssen jetzt dranbleiben und die offenen Fragen lösen, die es noch gibt. Ein Aspekt unter anderen ist Feedback. Ich möchte die Feedback-Kultur in meinen beiden Bereichen weiterentwickeln – und auch als Modell für das Unternehmen. Feedback ist für eine Führungskraft manchmal anstrengend – aber ich glaube, die Anstrengung lohnt sich. 

Literaturtipp

Task & Teams. Von Heinz-Walter Große und Bernadette Tillmanns-Estorf. Murmann 2018. 

Quelle: Der Artikel erschien zuerst in der Fachzeitschrift personal manager (3/2019).