Mr. Naisbitt, Sie haben Megatrends wie die Globalisierung und den demografischen Wandel vorausgesagt. Gab es auch Entwicklungen, die Sie überrascht haben?

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Foto von Brusk Dede

Ja, die gleichgeschlechtliche Ehe. Als ich jung war, sprach niemand über Homosexualität, das war ein absolutes Tabu. Heute ist die gleichgeschlechtliche Ehe in einigen Staaten der USA und weltweit erlaubt. Das finde ich sehr überraschend. Hier ging die Entwicklung viel schneller, als ich erwartet habe. Genau umgekehrt ist es mit der Gleichberechtigung der Frauen. Als ich mit Patricia Aburdene „Megatrends: Frauen“ schrieb, ging ich davon aus, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter in absehbarer Zeit erreicht sein würde. Aber da lag ich falsch. Natürlich gibt es Fortschritte. In den 40er- und 50er-Jahren gab es in Amerika noch keine Jura- oder Medizinstudentinnen. Heute sind die Frauen in diesen Studiengängen in der Mehrheit. Es geschieht etwas, aber sehr langsam.

Für den Beginn des 21. Jahrhunderts erwarten Sie keinen neuen Megatrend. Sie schreiben, dass wir uns nicht in einem revolutionären, sondern in einem evolutionären Zeitalter befinden. Bleiben die großen Innovationen also aus?

Innovationen wird es auf jeden Fall geben, doch voraussichtlich keine revolutionären Veränderungen wie am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Damals gab es innerhalb weniger Jahre eine Reihe von wirklich erstaunlichen Erfindungen: das Flugzeug, das Automobil, die Elektrizität, das Radio und das Telefon. Zurzeit leben wir dagegen in einer evolutionären Phase, in der wir Erfindungen weiterentwickeln, die zum Teil mehr als hundert Jahre alt sind. Viele Neuerungen werden zwar als „revolutionär“ beschrieben, aber in Wahrheit handelt es sich nur um Erweiterungen. Düsentriebwerke waren zum Beispiel nur eine Weiterentwicklung der Propellermaschinen. Das Fernsehen war eine Art Erweiterung des Radios. Dennoch waren es Innovationen. Evolutionäre Phasen sind sehr gute Phasen für Innovationen, die auf bestehenden Technologien aufbauen. Und ich gehe davon aus, dass diese evolutionäre Phase noch das gesamte 21. Jahrhundert andauern wird.

Zurzeit lesen und hören wir viel von den Innovationen des Web 2.0 mit seinen Blogs und Wikis. Inwieweit wird das Internet die Arbeitswelt verändern?

Ich glaube, dass diese Entwicklungen großartig sind, aber in gewisser Weise überschätzt werden. Denn Face-to-Face-Kommunikation wird weiterhin wichtig bleiben. Mit den Telefonkonferenzen war es ähnlich. Anfangs hieß es, Telefonkonferenzen seien eine Bedrohung für die Flugindustrie, weil die Geschäftsleute jetzt nicht mehr zu Meetings fliegen müssten. Das war natürlich lächerlich. Ein weiteres Beispiel sind Zeitungen. Auch hier hieß es: „Wir brauchen bald keine Zeitungen mehr, weil wir alle Informationen online lesen können.” Aber es gibt bei diesen Entwicklungen kein „Entweder – Oder“, sondern einen Mix. Wir haben Zeitungen und digitale Informationen, wir haben Telefonkonferenzen und Meetings. In der Geschäftswelt gibt es dieses Mantra: „Das einzig Beständige ist der Wandel“. Aber das ist Unsinn. Ich sage: Viele Dinge verändern sich, aber die meisten bleiben bestehen. Es kommt uns nur so vor, als würde sich alles verändern, weil wir eher auf die Veränderungen achten. Das ist auch gut so, denn Veränderungen treiben Innovationen voran. Der Wandel des Bestehenden bietet neue Chancen. Deshalb sage ich – und das sage ich auch in Richtung der HR-Abteilungen: Unternehmen erzielen keine Ergebnisse, indem sie Probleme lösen, sie erzielen Ergebnisse, indem sie Chancen wahrnehmen.

In Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie elf „Mindsets“, die helfen, Chancen frühzeitig zu erkennen. Wie funktionieren diese Mindsets und wie können Unternehmen sie nutzen?

Wir alle haben bestimmte Mindsets, die unsere Weltsicht und unser Denken und Handeln bestimmen. Sie funktionieren ähnlich wie Rahmen, die Informationen filtern. Normalerweise sind Mindsets sozial geprägt. Ich glaube aber, dass wir uns Mindsets auch bewusst aneignen können, zum Beispiel, um eine bessere Vorstellung von der Zukunft zu bekommen. Ein Mindset, das sich aus meiner Sicht für Unternehmen besonders gut eignet, lautet: „Eilen Sie der Parade nicht zu weit voraus.“ Denn diesen Fehler begehen viele Unternehmen und Politiker.

Wie können Unternehmen feststellen, ob sie Ideen und Produkte zu früh auf den Markt bringen?

Indem sie ihre Kunden fragen. Das machen Unternehmen viel zu selten. Ich war auf der Weltausstellung im Jahr 1964, als AT&T sein Bildtelefon vorstellte. Das war eine großartige Innovation, aber die Leute waren nicht bereit dafür. AT&T ist einfach davon ausgegangen, dass die Kunden das Produkt lieben würden, und sie arbeiteten einige Jahrzehnte vergeblich daran, ihr Bildtelefon an den Mann und die Frau zu bringen. Deshalb sage ich: Unternehmen müssen wissen, wohin die Parade geht. Das gilt auch für das Human-Resource- Management.

Wohin geht die Parade im Human- Resource-Management?

Sie geht in Richtung eines globalen Wettbewerbs um die Talente. Und, wie so oft, bildet der Sport die Avantgarde. Im Profisport werden Talente schon seit Langem international eingekauft. Mehr als hundert Brasilianer spielen mittlerweile in europäischen Fußballteams – und das stört niemanden, weil sie die nationalen Teams stärken. Dieser Trend setzt sich auch in der Geschäftswelt durch. Der Amerikaner Howard Stringer ist CEO des japanischen Technologiekonzerns Sony. Er spricht kein Japanisch und lebt in Beverly Hills, aber das ist Sony egal, denn sie brauchen sein Talent. Die nationale Herkunft eines Mitarbeiters wird immer unwichtiger, nationale Ökonomien vernetzen sich immer mehr in Richtung Weltwirtschaft. Schon heute ist es irreführend, von einer österreichischen Wirtschaft zu sprechen, weil diese Wirtschaft mit dem Rest der Welt verbunden ist. Aber wir denken noch immer in Bruttosozialprodukten, die eigentlich nichts mehr damit zu tun haben, was gerade passiert. Ein gutes Beispiel für diese Internationalisierung ist das Schweizer Unternehmen Nestlé, das mittlerweile 98 Prozent seines Umsatzes außerhalb der Schweiz erzielt.

Die Globalisierung erfasst auch viele Personalabteilungen. Ist das Human- Resource-Management ein Kandidat für Outsourcing und Offshoring?

Es gibt diese Entwicklung und ich verstehe sie nicht. Viele Unternehmen haben scheinbar noch nicht erkannt, dass sie sich nur über ihre Talente unterscheiden können. Sie wiederholen wie ein Mantra, “Unser größtes Potenzial sind die Menschen”, aber im selben Atemzug sourcen sie ihr Personalmanagement an eine Fremdfirma aus. Die HR-Abteilungen spielen in zu vielen Unternehmen eher ein Randdasein, was aus meiner Sicht unsinnig ist. Das geht so weit, dass Unternehmen wie DuPont ihr komplettes Personalmanagement outsourcen. Ausgerechnet DuPont, das von den Innovationen seiner Forscher und Entwickler lebt.

Wer wird die führende Wirtschaftsregion im globalen Wettbewerb werden? Anfang der 80er-Jahre gingen Sie noch davon aus, dass Asien das Rennen macht. In Ihrem aktuellen Buch äußern Sie sich skeptischer …

Nein, ich bin nicht skeptisch. Asien ist nach wie vor die dynamischste Wirtschaftsregion der Welt. Aber das bedeutet nicht, dass China nächsten Dienstagmorgen die Vereinigten Staaten von Amerika überholt, wie es einige Medien suggerieren. Meine Frau und ich sind vier oder fünf Mal im Jahr in China, und was dort passiert, ist einfach unglaublich. Die Wirtschaft wächst um zehn Prozent pro Jahr. Dennoch wird es Jahrzehnte dauern, bis das Land Amerika eingeholt hat. Das chinesische Bruttosozialprodukt liegt bei zwei Billionen Dollar, das amerikanische bei 13 Billionen. Selbst wenn die chinesische Wirtschaft weiterhin jährlich um zehn Prozent wächst, wird sie bis Mitte des Jahrhunderts brauchen, um mit Amerika gleichzuziehen. Und die Amerikaner werden in dieser Zeit nicht innehalten und sagen: „O.k., lass uns mal warten, bis die Chinesen aufholen.“ Für die nächsten Jahrzehnte wird Amerika voraussichtlich die führende Wirtschaftsnation bleiben. Aber der ganze Wettkampf zwischen den Wirtschaftsregionen wird immer weniger wichtig für uns sein. Das ist im Grunde schon jetzt Rhetorik von gestern. Denn unsere Wirtschaftsbeziehungen verflechten sich immer mehr.

Europas Entwicklung beschreiben Sie in eher düsteren Farben. Warum?

Europa ist auf den globalen Wettbewerb um Talente nicht vorbereitet, denn es hält noch immer an alten Modellen und Regelungen fest, die Wettbewerb unterdrücken. In den Vereinigten Staaten gehen ungefähr sieben Prozent der Jobs Jahr für Jahr verloren, doch mindestens ebenso viele werden neu geschaffen. In Europa versucht man dagegen, Jobs künstlich zu erhalten, wenn die Unternehmen in eine Krise geraten. Dabei ist der Wandel in der Unternehmenslandschaft ein Anzeichen für eine dynamische Wirtschaft. Europa scheint Unternehmern eher feindlich gegenüberzustehen – obwohl es sie gerade jetzt so dringend braucht. Ich verstehe das nicht. In Amerika akzeptiert jeder, dass Wettbewerb die Leistungen verbessert. Die Universitäten konkurrieren um die besten Studenten. Deshalb sind sie auch so gut. Das Niveau der europäischen Hochschulen sinkt dagegen immer weiter. Die echten Talente wandern nach Amerika oder in andere Länder aus. Letztes Jahr verließen mehr Menschen Deutschland, als Migranten ins Land kamen, und die deutsche Geburtenrate lag erstmals unter der Sterberate. Dieser Trend ist in der gesamten EU spürbar. Letztendlich liegt es an den Europäern, ihre Zukunft zu gestalten. Wie es auch ausgeht – es bleibt spannend. Ich werde auf jeden Fall hier bleiben und mir anschauen, wie das weitergeht. Denn das ist eigentlich der beste Grund, lange zu leben, mal abgesehen von Kindern oder Enkelkindern: Es ist so interessant zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln.

Interview:Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 4/2007