Darwins Evolutionstheorie wird gerne als Begründung genannt, dass Konkurrenz erfolgversprechender ist als Kooperation. Allerdings beruht diese Annahme auf einem Übersetzungsfehler. Darwin sprach vom „Survival of the fittest“. Wer das als „Gesetz des Stärkeren“ interpretiert, übersetzt „fit“ im Sinne von körperlicher Fitness, also Stärke oder Schnelligkeit. Tatsächlich bedeutet das englische Verb „to fit“ in diesem Zusammenhang auf Deutsch „passen“, im Sinne von Passgenauigkeit. Die Evolutionstheorie sagt aus, dass Derjenige überlebt, der sich besser an die Umweltbedingungen anpassen kann. Den Dinosauriern gelang das nicht und sie starben aus. Aber bis dahin dominierten sie die Welt. Wenn wir die letzten 250 Jahre analysieren, deutet Vieles darauf hin, dass im Industriezeitalter Konkurrenz tatsächlich das erfolgversprechendere Verhalten war. Die Arbeitsteilung führte dazu, dass Teams und Abteilungen sich wenig für die externen Beziehungen und Zusammenhänge zu interessieren brauchten und sie deshalb ignorierten. Trotz aller Bemühungen, dieses Vorgehen durch Matrixstrukturen und Projektarbeit aufzuweichen, werden Machtbereiche immer noch gehütet und dafür gesorgt, dass sich Wissen nicht unnötig verbreitet. Und das gar nicht aus bösem Willen, sondern weil wir es einfach so gewohnt sind und es uns schwerfällt, davon abzuweichen. Wettbewerb bringt uns dazu, blindlings ohne nach rechts und links zu blicken, Zielen nachzujagen, sofern sie uns Wohlstand und Ansehen versprechen – selbst dann, wenn wir inhaltlich gar nicht dahinterstehen oder es uns und anderen sogar schadet.
Die Natur hat uns Menschen alles mitgeliefert, was wir brauchen, um kooperativ erfolgreich zu sein. Schon unser Körper ist ein Wunderwerk aus unterschiedlichsten Organen, die wunderbar kooperieren. Jedes tut seine Arbeit und stimmt sich mit den anderen so ab, dass der gesamte Körper, dessen Teile sie sind, optimal funktioniert. Der renommierte Medizinprofessor, Psychotherapeut und Autor des Buches „Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren“ Joachim Bauer belegt mit seinen neurowissenschaftlichen Forschungen, dass wir in erster Linie auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen sind. Die Natur hat uns eine Art Hybridantrieb mitgegeben, der uns erlaubt, in der Gemeinschaft zu leben, gleichzeitig aber auch eine eigene Identität zu entwickeln und persönlich zu wachsen. Stellen wir uns dazu ein Fahrzeug vor mit je zwei Rädern auf der linken und rechten Seite. Jede Seite wird von einem eigenen Antrieb gesteuert. Der Konkurrenzantrieb treibt die rechten Räder an, der Kooperationsantrieb die linken Räder. Es kann immer nur einer von beiden genutzt werden. Nutzen wir den linken Antrieb, wird das Fahrzeug eine Rechtskurve machen, nutzen wir den rechten Antrieb, wird sich das Fahrzeug nach links bewegen. Der Sinn eines Hybridantriebs ist, je nach Situation den jeweils effizienteren Antrieb einzusetzen. Die Frage ist, stimmt unsere Bewertung noch, was der effizientere Antrieb ist oder folgen wir einfach weiter dem, was wir gelernt haben und was möglicherweise bisher als richtig galt. Sowohl unsere Erziehung als auch unsere Wirtschaftswelt lenken uns in die Richtung, dass Konkurrenz vor allem in Leistungssituationen der erfolgversprechendere Antrieb ist.
Erinnern wir uns daran, dass die Natur uns einen Hybridantrieb mitgegeben hat. Es liegt in unserer Hand, wie wir ihn nutzen. Erlauben wir unserem auf Konkurrenz gepolten Autopiloten die Führung zu übernehmen, lenkt uns das immer wieder in die Vergangenheit. Mit Achtsamkeit, Einsatz- und Lernbereitschaft können wir gegensteuern. Und wir werden nicht nur erleben, dass wir persönlich erfolgreich sind, sondern darüber hinaus gemeinsam gewinnen. Wirtschaft wird es auch in Zukunft geben. Ich bin der Meinung, dass das WIR in WIRtschaft kein Zufall ist. Sonst würde es ja Ichtschaft heißen. Auch die Definition von WIRtschaft steht dieser Idee nicht entgegen. Denn WIRtschaft steht für die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die einer planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen. Die Herausforderung ist, dass wir dem WIR in WIRtschaft endlich einen Sinn geben.
Hierarchische Strukturen, ergebnisorientierte Karrierepfade, konkurrierende Zielvereinbarungen und der Kampf um Budgets oder Leistungszulagen laden dazu ein, sich abzugrenzen und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Da kann es leicht passieren, dass wir den Überblick verlieren und vergessen, dass wir – ob wir es wollen oder nicht – stets Teil eines größeren Systems sind. Die Familie, die Nachbarschaft, der Verein, unser Projektteam, das Unternehmen und natürlich auch die WIRtschaft. Manche Systeme können wir uns aussuchen, zum Beispiel in welchem Verein wir uns engagieren oder in welchem Unternehmen wir arbeiten. Zu manchen Systemen, beispielsweise unserer Familie, gehören wir einfach dazu. Beides eine gute Basis, um sich mit Kooperation als Erfolgsmodell zu beschäftigen.
Kooperative Zusammenarbeit ist kein maschineller Prozess, sondern eine Reise, verbunden mit Wünschen, Hoffnungen, Emotionen, Überraschungen und Reisepartnern. Wenn man sich schon lange kennt und lange zusammenarbeitet, hört sich das wie der alljährliche Betriebsausflug an. Aber wenn wir uns auf kooperatives Neuland wagen, kommt das eher einer Expedition in unbekanntes Gelände mit unbekannten Begleitern gleich. Expeditionsreisen unternehmen wir, um etwas Neues zu entdecken. Wenn sie keine Überraschungen bereithielten, wären wir enttäuscht. Erfolgsversprechende Kooperationen bergen ebenfalls Überraschungen. Zum Glück! Wenn wir schon genau wüssten, was passiert, wo wäre dann der erhoffte Zugewinn, der neue Kooperationsraum?

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WIRtschaft funktioniert weder mit Konkurrenzdinosauriern, die nur ihre egoistische Gewinnmaximierung im Blick haben, noch mit Mitläufern, die sich einfach dem Prinzip unterwerfen und sich mit dem begnügen, was andere ihnen zugestehen. WIRtschaft braucht Menschen, die in der Lage sind, in sowohl-als-auch zu denken, die sowohl Verantwortung für die Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse übernehmen als auch dafür, dass dies anderen nicht schadet. Wer bereit ist, sein Wissen und Können so einzubringen, dass es nicht nur ihm selbst dient, sondern dem übergeordneten Ziel, die Interessen möglichst Vieler zu befriedigen, wird im Informations- und Wissenszeitalter nicht nur erfolgreich sein, sondern vor allem auch von einem fairen und wertschätzenden Miteinander profitieren. Früher fraßen die Großen die Kleinen, dann überholten die Schnellen die Langsamen. Doch jetzt haben die Kooperativen die Nase vorn. Kooperative Zusammenarbeit verändert die Perspektive und eröffnet neue geschäftliche Spielräume. Viele Köpfe wissen einfach mehr als einer und stellen sich den komplexen Herausforderungen des Markts gemeinsam erfolgreicher als Einzelkämpfer.
Kooperieren heißt, dass mehrere Beteiligte ihr Handeln so aufeinander abstimmen, dass sie ein Ziel erreichen, von dem alle Beteiligten profitieren. Das heißt, das eigene Verhalten nutzt sowohl uns selbst als auch der anderen Person oder sogar mehreren Menschen, einem Unternehmen usw. Kooperativ zu sein, bedeutet mehr, als einfach mitzuspielen und sich womöglich zu unterwerfen. Es bedeutet, mit seinen eigenen Vorstellungen präsent zu sein, diese auch beizutragen und zu nutzen. Das erfordert eine gesunde Selbsteinschätzung, eine gute Vorbereitung und das Verständnis, wie wichtig es ist, dass die eigenen Fähigkeiten und Ideen ins Spiel kommen. Bevor wir mit anderen zusammentreffen, lohnen sich folgende Fragen:

  • Welche Beweggründe habe ich, die Kooperation einzugehen?
  • Was kann und bin ich bereit, beizutragen?
  • Was sind meine Ziele?
  • Was muss passieren, damit ich die Kooperation als erfolgreich betrachte?
  • Welche Erwartungen habe ich an die anderen Kooperationspartner?
  • Wie muss die Zusammenarbeit aussehen, damit ich mich wohlfühle?

Um größeren und stärkeren Anbietern Paroli bieten und Kundenbedürfnisse besser befriedigen zu können, setzen viele kleine Unternehmen bereits auf Kooperation. Seien es eher klassische Ansätze, wie Werbegemeinschaften oder innovative Projekte, wie das Kiezkaufhaus in Wiesbaden. In diesem gemeinsamen Onlineshop der lokalen Hersteller und Einzelhändler in Wiesbaden, können die Kunden alles unter einem Dach bestellen und bekommen die Ware noch am selben Tag per Fahrradkurier in Pfandtaschen geliefert. Und natürlich verstehen auch die großen Unternehmen schon lange, dass es wirtschaftlich ist, zu kooperieren. Das Co-Branding, also das gemeinsame Auftreten zweier Marken, wie zum Beispiel beim Jacobs Cappuccino Milka, gehört für uns Verbraucher heute zum Alltagsbild. Doch wie bereits erwähnt: Jede Kooperation ist am Ende nur so erfolgreich, wie die kooperativen Fähigkeiten der Menschen, die daran beteiligt sind.
Wertschätzung ist eine innere Haltung anderen gegenüber, die von Achtung, Bewunderung und Respekt geprägt ist. Echte Kooperation funktioniert nur auf Augenhöhe und Wertschätzung ist das Fundament dafür. Auf Basis der Frage „Lohnt sich das?“ treffen wir nicht nur betriebswirtschaftliche Entscheidungen, sondern entscheiden auch, wie wir uns verhalten. Demnach wählen wir bestimmte Verhaltensoptionen nur, wenn wir ihren Wert aufgrund der angemessenen Bewertung von Aufwand und Nutzen als lohnenswert einschätzen. Darüber hinaus hat jeder Mensch natürlich persönliche Werte, die er weitestgehend intuitiv anwendet. Sie sind unmittelbar mit unserem Denken, Fühlen und Handeln verknüpft und haben deshalb für uns eine existenzielle Bedeutung. Es gibt individuelle Werte und geteilte Werte. Sie unterliegen einem Wertewandel, der durch Trends, gesellschaftliche Veränderungsprozesse und die persönliche Entwicklung angestoßen werden kann. Die Werte, die Menschen im Wissens- und Informationszeitalter schätzen, verändern sich ganz entscheidend.
Wettbewerb macht unzufrieden und krank. Wettbewerb erzeugt Leistungsdruck, weil Menschen sich anstrengen, zu den Gewinnern zu gehören. Dauernder Leistungsdruck erzeugt chronischen Stress. Stress führt dazu, dass wir uns fokussieren und dank des Adrenalins sogar schneller, besser und effizienter werden. Wir konzentrieren uns darauf, unsere Aufgaben so effizient und schnell wie möglich zu erledigen. Das Resultat: Wir bekommen den Tunnelblick. Wir fixieren uns darauf, unsere Aufgaben alleine zu bewältigen. Der Blick über den Tellerrand, der Austausch mit anderen, die Frage nach gegenseitiger Unterstützung wird zweitrangig. Die ohnehin vorhandene Tendenz zum Einzelkämpfertum wird dadurch noch verschärft. Erschreckend daran ist, dass wir das Abschottungs- und Wettbewerbsspiel immer weiter mitspielen, obwohl wir spüren, dass es unangenehme Nebenwirkungen hat. Dafür gibt es drei Gründe:

  1. Wir glauben, das sei der erfolgreichere Weg zum Erfolg.
  2. Wir haben das Einzelkämpferdasein so gut trainiert und verinnerlicht, dass wir uns nicht vorstellen können, wie es anders geht.
  3. Wir sehen in unserem aktuellen Umfeld keinen Spielraum, anders zu handeln.

Betrachtet man die Arbeiten des 1986 verstorbenen Professors für Psychologie Clare W. Graves, ist das Pendeln zwischen einer mehr ICH- und einer mehr WIR-bezogenen Perspektive wohl ein normaler Pfad menschlicher Entwicklung. Die Weiterentwicklung auf der WIR-Ebene, das heißt der Frage, wie wir unser Leben im Zusammenspiel mit anderen gestalten, ist nur möglich, wenn wir uns individuell weiterentwickeln und mehr Eigenverantwortung übernehmen. Das haben wir dank der stärkeren ICH-Bezogenheit in den letzten Jahren sicher gelernt. Jetzt gilt es, die Eigenverantwortung in den Kontext des WIRs zu stellen, von dem wir nun einmal ein Teil sind und dessen Qualität auch immer unsere eigene Lebensqualität beeinflusst.