PROBLEMPUNKT

Die Klägerin arbeitete bei der beklagten Arbeitgeberin in einem Kleinbetrieb nach § 23 KSchG. Aufgrund einer Schwangerschaft sprach der Arzt im Juli 2011 ein Beschäftigungsverbot aus. Trotz dieses Verbots verlangte die Beklagte die Fortsetzung der Arbeitstätigkeit, dem sich die Klägerin jedoch widersetzte. Am 14.7.2011 stellten die Ärzte bei der Klägerin den Tod der Leibesfrucht fest, die einen Tag später im Krankenhaus entfernt wurde. Die Klägerin teilte diese Umstände der Beklagten am 14.7.2011 mit und kündigte an, hiernach die Arbeit wieder aufzunehmen.

Das Unternehmen fertigte nach Eingang dieser Informationen sofort eine betriebsbedingte Kündigung, welche der Klägerin noch am gleichen Abend zugestellt wurde. Anfang August 2011 sprach die Beklagte eine weitere betriebsbedingte Kündigung aus, wobei sie später erklärte, dass dies aufgrund ihrer Ungewissheit über die Anwendbarkeit der Kündigungsschutzvorschriften in der Mutterschutzzeit geschehen sei. Gegen beide Kündigungen erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage und machte einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG geltend. Das ArbG Zwickau hielt die erste Kündigung für unwirksam, bejahte aber die Wirksamkeit der zweiten Kündigung unter Abweisung des Entschädigungsanspruchs.

Das LAG Chemnitz hielt beide Kündigungen für unwirksam und sprach der Klägerin wegen einer Geschlechterdiskriminierung einen Entschädigungsbetrag von 3.000 Euro zu. Mit der Revision gegen diese Entscheidung wandte sich die beklagte Arbeitgeberin an das BAG. 

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PRAXISTIPP

Ausgesprochene Kündigungen bergen für Arbeitgeber stets das Risiko der Unwirksamkeit, wenn sie sittenwidrig oder bei Anwendbarkeit des KSchG sozialwidrig sind. Die gerichtlich auferlegte Begründungslast ist gerade bei letzteren Fällen erheblich. Neben diesen Risiken müssen Unternehmen stets prüfen, gleich ob das KSchG anwendbar ist oder nicht, ob der Ausspruch und der Zustellungszeitpunkt der Kündigung eine schwer wiegende Diskriminierung darstellen könnten. In diesen Fällen drohen empfindliche Entschädigungsansprüche. Um das zu vermeiden, sind Kündigungserklärungen nicht nur im Hinblick auf ihre Begründung, sondern auch in Bezug auf eine schwere Diskriminierung generell zu überprüfen.

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Quelle: Arbeit & Arbeitsrecht | 

Ausgabe 9 – 2015 | www.arbeit-und-arbeitsrecht.de 

ENTSCHEIDUNG

Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG Chemnitz und wies die Revision zurück. Der 8. Senat wies in der Entscheidung zunächst darauf hin, dass die Regelung in § 2 Abs. 4 AGG Entschädigungsansprüche im Zusammenhang mit einer ausgesprochenen diskriminierenden Kündigung nicht sperrt, wenn die der Kündigung innewohnende diskriminierende Belastung über das Normalmaß hinausgeht. Im vorliegenden Fall lag eine schwer wiegende Geschlechterdiskriminierung in Bezug auf eine Schwangerschaft vor, wobei es das Gericht als ausreichend ansah, dass diese für die Kündigung mitursächlich war.

Die Kündigung war der Klägerin – unter wissentlichem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG – noch während der bestehenden Schwangerschaft am 15.7.2011 zugegangen. Hierbei endet der Schutz nicht schon mit dem Absterben des Kindes in der Gebärmutter, sondern erst durch „Entbindung“, die auch bei einer Totgeburt erst mit der „Trennung der Leibesfrucht vom Mutterleib“ zu erkennen ist. Die vorhandenen Begleitumstände  –  das Auffordern zur Missachtung des Beschäftigungsverbots  und der zeitnahe Ausspruch der Kündigung „zur Unzeit“, nämlich kurz vor dem Krankenhausaufenthalt zur Entfernung der abgestorbenen Leibesfrucht – ließen erkennen, dass die Beklagte grob gegen die Pflicht zur Rücksicht auf die Rechtsgüter und Interessen der Klägerin verstoßen hat. Der Umstand, dass sie die betriebsbedingte Kündigung nicht begründen konnte und auch keine weiteren Kündigungen zulasten anderer Mitarbeiter ausgesprochen hatte, machten deutlich, dass das Handeln des Unternehmens als „auf moralisch unterster Stufe stehend“ anzusehen war, formulierte das LAG Chemnitz.

KONSEQUENZEN

Die Regelung in § 2 Abs. 4 AGG soll grundsätzlich die Anwendbarkeit des AGG bei Kündigungssachverhalten ausschließen, da erklärte Kündigungen oft einen Bezug zu den Anknüpfungsmerkmalen des AGG aufweisen. Das BAG eröffnet aber die gleichzeitige Anwendbarkeit in solchen Fällen, in denen in besonderer und schwer wiegender Weise die entsprechende diskriminierende Belastung über das Normalmaß eines Kündigungssachverhalts hinausgeht. Genaue Kriterien, wann von einem solchen Fall auszugehen ist, lässt es jedoch offen. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls.