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Foto von Andrew Neel
Herr Gansch, Herbert von Karajan hat einmal gesagt: „Orchester haben keinen eigenen Klang, den macht der Dirigent.“ Stimmen Sie dem zu?

Ich würde diesem Satz indirekt zustimmen. Denn sehen Sie, ein gutes Orchester kann zwar auch ohne den Dirigenten ein Stück so spielen, dass man erkennt, was es ist. Aber ob dann eine stimmige und einheitliche Message zum Ausdruck kommt, darf bezweifelt werden. Orchester bestehen aus Individualisten mit eigenen Vorstellungen – und haben daher „viele Klänge“. Sie brauchen einen Dirigenten, der ein Konzept hat und Einheit schafft. Wie vermittelt ein Dirigent sein Konzept? Wenn ein großer Dirigent wie Karajan ein Orchester dazu bringen wollte, mit viel Tiefe und Wärme zu spielen, hat er nicht gesagt „Wahrheit, Tiefe, Wärme“, sondern „obere Hälfte Bogen, untere Hälfte Bogen, hier atmen“. Das heißt: Um Größe zu erreichen, sind präzise Ansagen erforderlich. Das gilt für die Kunst ebenso wie für die Wirtschaft. Aber komischerweise gibt es gerade in der Wirtschaft die Tendenz, mit Worten zu jonglieren, anstatt Aussagen darüber zu treffen, wie Mitarbeiter Ziele erreichen können. Viele Unternehmen propagieren Werte, aber ohne Bezug zur Praxis. Dann heißt es: „Wir brauchen Zusammenhalt.“ Aber wie das umzusetzen ist, bleibt offen. Dabei erfordert jede Art von Führung Klarheit in den Vorgaben.

Aber lässt sich das Führen eines Orchesters überhaupt mit dem Führen eines Unternehmens vergleichen?

Das Orchester ist letztendlich eine Art Metapher für Unternehmen. Denn es besteht aus vielen Abteilungen mit Führungskräften und stellvertretenden Führungskräften, ja sogar einer strengen gewerkschaftlichen Organisation. Viele Zuhörer – selbst Musikliebhaber – glauben, dass Orchester nur auf den Dirigenten schauen und nach seinen Anweisungen im Takt spielen. Aber das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Stattdessen gibt es in Orchestern viele Teams, wie Streicher und Bläser, die sich miteinander abstimmen müssen. Und die Frage ist: Was können Unternehmen von Orchestern lernen, in denen so viele – durchaus exzentrische – Menschen auf engstem Raum zusammenarbeiten?

Was können die Unternehmen lernen?

Zum Beispiel, dass das interaktive Wechselspiel zwischen einzelnen Mitarbeitern und Abteilungen keine Frage der Unternehmenskultur ist, sondern eine Frage des Überlebens. Es geht darum zu schauen, was mir beim Kunden – also dem Zuhörer – den größten Erfolg einbringt. Denn er hat das Bedürfnis und das Recht, eine stimmige Interpretation zu hören. Das Tolle an Top-Orchestern ist ja gerade ihre Fähigkeit, aufeinander zu hören. Wenn die erste Geige eine Melodie vorgibt und die Celli, die ganz woanders sitzen, langsamer werden, dann reagieren 20 oder 30 Geigen darauf und passen sich dem Tempo der Celli sofort an. Wenn ein einziger Geiger nicht zuhört, funktioniert das nicht, und der Gesamteindruck ist gestört.

Wie viel kreativer Freiraum bleibt den Musikern?


Das hängt von der Position im Orchester ab. Führungskräfte, zum Beispiel Solisten, haben viele Freiräume. Als Dirigent würde ich mir nie anmaßen, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihr Solo technisch bewältigen, sondern gebe nur die Idee vor. Solospieler bringen ihre Persönlichkeit in das Spiel ein, sie brauchen Kraft und Exzentrizität, doch jede noch so individuelle Solostimme bezieht sich immer auf das, was schon da war. Oft hat sie die Aufgabe, die orchestrale Entwicklung von der individuellen Seite zu betrachten oder einen gezielten Gegensatz zu ihr zu bilden. Das Ganze ist ein Dialog, ein Wechselspiel und eine Art von Kommunikation. Es geht nicht um Profilneurose oder darum, sich selbst zu verwirklichen. Freiheit ist im Orchester nur im Kontext einer gemeinschaftlichen Entwicklung möglich.

Dennoch haben Orchester doch sicher auch Konflikte über die richtigen Wege zum Ziel. Wie gehen Sie als Dirigent damit um?

Das Wichtigste ist Klarheit. Im Orchester muss es Verantwortungsbereiche geben und Führungskräfte, die klare Entscheidungen fällen – unabhängig davon, ob das allen Menschen entspricht.

Klingt nach einem klaren Top-down- Prinzip.


Nein, es geht nur darum, Führungsverantwortung wahrzunehmen. Wenn 120 Orchestermitglieder laut miteinander spielen, brauchen sie einen dominanten, klaren und unerbittlichen Dirigierstil. Wenn dagegen die Flötistin ihr Solo spielt, höre ich ihr zu, dirigiere ganz passiv und unterstütze sie mit dem Orchester. Die Inhalte und nicht das Ego sollten den Stil der Umsetzung dominieren. Das gilt übrigens auch für Wirtschaftsunternehmen. Je nach Inhalt kann dieser Stil absolut hierarchischdominant sein – und zwei Minuten später offen, sensibel und die Solistin unterstützend.

Wie unterstützen Dirigenten ihre Solisten?


Für die Solisten gilt ein weiterer Satz Karajans: „Jeder große Dirigent weiß ganz genau, wann er das Orchester nicht stören darf.“ Dirigenten müssen die Solostimmen stärken – und das heißt zunächst einmal, damit umzugehen, was da ist. Ich kann aus einem Trompeter mit einem scharfen Klang keinen Trompeter mit einem weichen Klang machen. In der Orchestermusik kommt viel von der Persönlichkeit der Musiker zum Ausdruck. Aufgabe des Dirigenten ist es, diese Vielfalt in sein Konzept einzubauen. Ganz praktisch kann das bedeuten, den Klang des Orchesters vor dem Trompetensolo etwas anders zu justieren, damit das Solo hineinpasst. Dabei muss der Dirigent teilweise ganz spontan reagieren.

Inwiefern?

Wenn ich höre, dass der Trompeter heute kurzatmiger oder nervöser ist als sonst, nehme ich das Tempo heraus, damit er sich entfalten kann. Ein Dirigent, der nicht auf das Orchester hört, wird scheitern. Denn über dem Orchester gibt es noch eine andere Realität – und die heißt: perfekte Performance für den Kunden.

Für eine perfekte Performance benötigen große Symphonieorchester auch Nachwuchs. Wie rekrutieren sie Talente?

Wenn ein großes Ensemble einen Geiger sucht, lädt es Kräfte aus ganz Europa zu einem Wettbewerb ein, der sich über mehrere Runden hinzieht. Beim letzten Durchgang spielen die Kandidaten in vielen Orchestern hinter einem Vorhang, damit später niemand sagen kann, sie wären aufgrund äußerlicher Kriterien bevorzugt worden. Dieses Auswahlverfahren ist schonungslos. Aber andererseits nutzt es ja nichts, wenn ein Musiker zuhause perfekt spielt, aber vor 3.000 Leuten das Nervensausen kriegt. Der Musiker, der sich durchsetzt, steigt mit einem Probejahr ein, an dessen Ende das gesamte Orchester über ihn abstimmt. Natürlich hat der Dirigent ein Vetorecht und auch die Stimmen der Führungskräfte haben mehr Gewicht als die der anderen Musiker. Aber das Prozedere gibt allen die Möglichkeit, sich einzubringen.

Auf welche Probleme stoßen Talente häufig zu Beginn ihrer Karriere?


Es fällt ihnen oft schwer, komplexe Passagen so zu bewältigen, dass sie sich in das Orchester einfügen. Topleute stechen am Anfang hervor, dafür haben Orchester normalerweise Verständnis. Aber wenn Musiker nach einem Jahr noch immer den Tunnelblick haben, fehlt ihnen vermutlich die Fähigkeit, sich an der Gemeinschaft zu orientieren. Und das ist zentral. Orchestermusiker müssen – ebenso wie Mitarbeiter in Unternehmen – miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Denn der Kunde hat keine Lust, die internen Prozesse zu begutachten, sondern macht im Zweifelsfall alle verantwortlich – und hat damit Recht.

Interview: Bettina Geuenich


Webtipp
www.gansch.de

Literaturtipps
  • Vom Solo zur Sinfonie. Was Unternehmen von Orchestern lernen können. Von Christian Gansch, Eichborn 2006.
  • Wer auftritt, muss spielen. Die drei Schritte zur Führungskompetenz. Von Christian Gansch, Eichborn 2008 (erscheint im September).

Quelle: personal manager 3/2008