Analysieren Sie doch einmal, welche Kompetenzen Sie für Ihr Recruiting in den nächsten drei Jahren wirklich benötigen. Was müssen Sie leisten – und welche Fähigkeiten benötigen Sie dafür? Anschließend können Sie überlegen, welche dieser Kompetenzen Sie bereits im HR-Team haben, welche Sie möglicherweise in anderen Abteilungen des Unternehmens finden – und was ein gutes IT-System für Sie erledigen kann. Priorisieren Sie Ihre Aufgaben und fokussieren Sie sich auf das, was wirklich wichtig ist. Mögliche Rollenbilder im Recruiting der Zukunft zeigt Abbildung 4.

four men looking to the paper on table
Foto von Sebastian Herrmann

Je nach Unternehmen, gesuchten Funktionen und abhängig von diversen Rahmenfaktoren wie Standort, Bezahlung oder Unternehmenskultur werden manche Rollen in Recruiting-Teams gar nicht ausgeprägt sein, während sie in anderen sehr stark vertreten sind. Manche Kompetenzen werden einzelne Personen in sich vereinen, anderen verteilen sich auf mehrere Teammitglieder. Je nach Recruitingsituation lassen sich Rollen ergänzen oder weglassen.

Die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, Recruitingprozesse individuell anzupassen. So können Recruiter für Positionen, auf die sie erfahrungsgemäß sehr viele Bewerbungen erhalten (und die wird es auch weiterhin geben) intelligente Matching-Systeme verwenden und für eine gute Vorauswahl sorgen. Manche Positionen erfordern eine konkrete Ausbildung oder Qualifizierung, die das System abfragen kann. Ist sie nicht vorhanden, kann die Software ein vollautomatisiertes Absageschreiben verschicken. Warum sollen sich Recruiter 40 Bewerbungen ansehen, wenn es ausreicht, sich mit den acht zu beschäftigen, die das Must-Have-Kriterium erfüllen?

Doch damit Unternehmen die Möglichkeiten der digitalen Personalgewinnung wirklich ausschöpfen können, müssen Recruiter genau wissen, welche Instrumente, Methoden und Kompetenzen sie dafür benötigen. Und genau hier stoßen wir auf die ersten Probleme: 

Wenn Sie angehende Personalisten fragen, warum Sie in den HR-Bereich möchten, antworten die meisten, dass sie „mit Menschen“ arbeiten möchten und nicht etwa mit Zahlen oder IT. Verkaufen wollen oder können die meisten HRler nach eigenen Aussagen ebenfalls nicht. Wenn wir jedoch die Rahmenbedingungen analysieren, die sich durch die Digitalisierung ergeben, dann drängen sich aus meiner Sicht eine gute und eine schlechte Nachricht auf. Zuerst die schlechte: Um im Human Resource Management zukunftsfähig zu bleiben und nicht durch künstliche Intelligenz abgelöst zu werden, ist es unerlässlich, sich Skills aus den Bereichen IT, Sales und Online-Marketing anzueignen. 

Die IT übernimmt schon heute wichtige Aufgaben im Recruiting – und es ist abzusehen, dass die Digitalisierung der Recruitingprozesse zunimmt. Ein Verständnis für HR-IT, für digitale Prozesse und Datenverarbeitung wird für Personalisten immer wichtiger. Gute Mitarbeiter sind bereits jetzt in vielen Bereichen knapp – und dieser Trend wird sich im Zuge des demografischen Wandels verstärken. Da sich potenzielle Bewerber zunehmend online über Unternehmen und Stellen informieren, müssen wir die Methoden und Instrumente des Digital-Marketings nutzen, um potenzielle Bewerber auf uns aufmerksam zu machen. Darüber hinaus brauchen wir gewisse Vertriebskompetenzen, um unser Unternehmen als Arbeitgeber zu verkaufen. Die Anforderungen an die Kompetenzen im Recruiting werden also tendenziell steigen. 

Doch jetzt die gute Nachricht: Alle, die sich im Recruiting mit administrativen Aufgaben quälen, zum Beispiel Auswertungen in Excel erstellen müssen oder sehr viel Zeit mit der Terminkoordination von Gesprächen verbringen, sollten dankbar sein: Denn diese Zeiten können dank der Digitalisierung bald vorbei sein. Die IT kann uns dabei helfen, wieder Zeit für das Wesentliche zu gewinnen: für die Menschen nämlich. Communitybuilding zu betreiben und Talentepools aufzubauen, Gespräche zu führen und wirklich in Kontakt zu bleiben.

All das bedeutet Zeitaufwand und ist nicht möglich, wenn HR-Manager Recruiting „nur nebenbei“ betreiben. Im Jahr 2017 habe ich gemeinsam mit Kooperationspartnern von Personaleum, comrecon und Smart Organisations im Rahmen der Initiative ExpeditionR eine Studie zum Thema „Recruiting im Wandel“ durchgeführt.  Wir sind der Frage nach dem Status quo des Recruitings in Unternehmen nachgegangen. Zusätzlich haben wir erhoben, welche praktischen Veränderungen die Unternehmen im Recruiting erwarten und wie sich Recruiter auf die Zukunft vorbereiten. Im Oktober und November haben wir 15 persönliche Interviews mit Senior Recruitern beziehungsweise Teamleitern für Recruiting durchgeführt. Ausgehend von den Erkenntnissen der qualitativen Befragung haben wir im Jänner und Februar eine Onlinebefragung mit 116 Recruitingverantwortlichen durchgeführt. Ein Ergebnis war, dass Recruiting oft nur eine Aufgabe von vielen ist und nebenbei passiert. Weniger als 20 Prozent der Befragten sind ausschließlich im Recruiting tätig.

Ein interessantes Ergebnis lieferte auch die Frage „Welches Know-how müssen Recruiterinnen und Recruiter in den nächsten fünf Jahren aufbauen?“. Employer Branding ist hier Spitzenreiter, IT und Online immerhin auf Platz 2.

Digitales Recruiting bedeutet, Recruiting zur Hauptsache machen und in Teamarbeit zu betreiben. Ob diejenigen, die am kompetentesten in der Gesprächsführung sind, auch diejenigen sind, die für die Implementierung und Optimierung von Recruiting-Software am besten geeignet sind, ist fraglich. Eine Person alleine kann gar nicht mehr alle notwendigen Skills abdecken. Im Vertrieb ist es völlig normal, dass es unterschiedliche Rollen für unterschiedliche Anforderungen gibt. An diesem Modell orientiere ich mich auch im Recruiting, denn für mich hat Recruiting sehr viele Parallelen zum Vertrieb. Wir verkaufen in der Personalbeschaffung zwar kein Produkt oder eine Dienstleistung, sondern unser Unternehmen als Arbeitgeber. Gute Verkäufer sind gute Beziehungsmanager und sie sind oft Monate oder Jahre mit ihren potenziellen Käufern in Kontakt, bis es zum Abschluss kommt. In den meisten Unternehmen arbeiten Vertriebsteams, die jeweiligen Teammitglieder sind Spezialisten für ihren Tätigkeitsbereich. Ein erfolgreicher Key Account Manager ist nicht zwangsläufig ein guter Vertriebsinnendienstmitarbeiter. Bei Recruitern entsteht hingegen häufig der Eindruck, dass sie alle Fähigkeiten, die künftig für erfolgreiche Mitarbeitergewinnung nötig sind, vereinen müssen.

 

Zu Gesprächsführung, Moderation und Beratung sind längst Skills wie Employer Branding, Auswahl und Einsatz passender Software und Social Media dazugekommen. Damit nicht genug geht es künftig auch um Beziehungsmanagement, Netzwerken und – damit wir im Recruiting auf Augenhöhe agieren können – auch um Business-Know-how.

Die Digitalisierung verändert das Recruiting aktuell in einer rasenden Geschwindigkeit. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass viele Entscheider im Recruiting jetzt in eine Art Schockstarre verfallen und mit aller Macht versuchen, an bestehenden (und großteils veralteten) Strukturen und Prozessen fest zu halten. Schließlich hat sich in der Personalgewinnung über längere Zeit nur wenig verändert – und das in kleinen Schritten. So vollzog sich die Entwicklung von papierbasierten Bewerbermappen und Print-Inseraten hin zu digitalen Stellenanzeigen und Online-Bewerbungen in den vergangenen 30 Jahren eher allmählich. 

Erst in den vergangenen fünf bis zehn Jahren zog das Tempo der Veränderungen im Recruiting spürbar an. Durch das mobile Internet, die sozialen Medien, Matching-Technologien und Such-Algorithmen haben Unternehmen in relativ kurzer Zeit ganz neue Möglichkeiten bekommen, online passende Bewerber zu finden und anzusprechen. Zugleich wächst der Bedarf, im Recruiting andere Wege zu gehen. Fachkräftemangel, demografischer Wandel und veränderte Erwartungshaltungen auf Bewerberseite führen dazu, dass Recruiter heute die gewohnten Pfade verlassen müssen, um passende Mitarbeiter erfolgreich anzusprechen. Noch sehe ich jedoch nur vereinzelt, dass Unternehmen diese Veränderungen tatsächlich vollziehen. So müssen Bewerber immer noch erklären, warum sie eigentlich bei genau diesem Unternehmen tätig sein wollen. Rückmeldungen auf Bewerbungen erhalten die Kandidaten zuweilen selbst nach mehreren Gesprächen nicht – und eine Kontaktaufnahme zu Personen, die im Recruiting tätig sind, gestaltet sich meist schwer bis unmöglich.

Recruiter agieren hier vielfach noch mit Verhaltensweisen aus einer Zeit, in der „Post and Pray“ die vorherrschende Recruitingmethode war und Arbeitgeber sich ihre Mitarbeiter überwiegend aussuchen konnten. Dass hier schleunigst eine Änderung im Mindset erfolgen muss, dass wir mit potenziellen Mitarbeitern auf Augenhöhe agieren und genau überlegen sollten, was wir ihnen anbieten können, ist die eine Sache. Dass Roboter unseren Job vielleicht sogar besser als wir erledigen können, eine andere.

Möglich ist der vollautomatisierte Recruitingprozess eigentlich schon heute – ebenso wie Softwaretools seit einigen Jahren einen automatisierten Journalismus in bestimmten Bereichen ermöglichen, zum Beispiel in der Sportberichterstattung. Dabei verfassen Softwareprogramme Berichte auf Basis strukturierter Daten. Die meisten Leser erkennen den Unterschied zwischen den von Menschen und von Maschinen verfassten Berichten nicht. Die gleiche Methode lässt sich auch im Recruitingprozess anwenden. Die Führungskraft „füttert“ das System mit den relevanten Daten, die Software erstellt den Text für das Inserat und verteilt ihn anhand der Zielgruppenanalyse automatisch auf die idealen Kanäle. Die Vorselektion übernimmt das Matching-System oder ein Online-Assessement. Alle, die den „Must Have“-Kriterien nicht entsprechen, bekommen eine (toll formulierte und natürlich personalisierte) Absage beziehungsweise eine Rückmeldung und sind ganz schnell wieder raus aus dem Prozess. Die Bewerber müssen keine Wartezeiten in Kauf nehmen und sich auch nicht mehr ärgern, weil sie keine Antwort bekommen. Candidate Experience passiert wie von Geisterhand. Parallel durchsucht ein Bot Plattformen auf potenziell geeignete Kandidaten und kommuniziert mit ihnen. Ist das Interesse eines Kandidaten geweckt beziehungsweise eine passende Bewerbung eingelangt, vereinbart ein weiterer Bot einen ersten Termin zum Kennenlernen.

Bis zu diesem Punkt im Prozess fehlt der Recruiter nicht, oder? Und wenn jetzt die Führungskraft das erste Gespräch und möglicherweise auch die folgenden alleine führt (und hoffentlich auch kompetent in der Auswahl für das eigene Team ist), erscheint die Funktion Recruiting tatsächlich überflüssig. Der Dienstvertrag ließe sich ebenfalls weitgehend automatisiert erstellen und übermitteln. Bis hin zum digitalen, weil ebenfalls automatisierten, Onboarding, spielen HR und Recruiting in diesem Szenario keine Rolle mehr. Führungskräfte und Bewerber sind zufrieden, niemand vermisst den Recruiter.

Schöne neue Welt oder Horrorszenario? Irgendwie von beiden etwas – und umso wichtiger ist es jetzt, sich mit neuen Technologien vertraut zu machen und zu verstehen, wie wir diese so einsetzen können, dass sie uns unterstützen. Denn eines steht für mich fest: Die Funktion Recruiting muss sich ändern und anpassen, aber sie wird nicht völlig verschwinden. Wie in vielen anderen Bereichen auch, zielt der Einsatz von Algorithmen nicht darauf ab, die Menschen zu ersetzen. Es geht vielmehr darum, Aufgaben, die Routinetätigkeiten sind, und uns im Recruiting ja meist keinen Spaß machen, effizienter zu erledigen.

Warum ich so sicher bin, dass die Recruiting-Funktion nicht abgeschafft wird? Einerseits sind wir – und damit meine ich die relevanten Entscheider – nicht mutig genug, die Funktion abzuschaffen. Andererseits sind wir einfach noch nicht weit genug. Haben Ihre Führungskräfte die Kompetenzen, die notwendig sind, um den eingangs erwähnten Prozess völlig eigenständig abzuwickeln? Ist Ihr Recruitingprozess bereits so weit adaptiert, dass eine Automatisierung machbar ist – unter Berücksichtigung aller Faktoren wie Arbeitsrecht und Datenschutz? Sind in Ihrem Unternehmen schon genügend sauber erhobene Daten vorhanden, damit sich ein Algorithmus in der Bewerberauswahl sinnvoll einsetzen lässt? Und auch wenn Algorithmen immer besser werden und quasi tagtäglich dazu lernen, so können sie eines nicht: kreativ sein und Daten auch mal anders interpretieren oder im Gespräch mit Menschen Potenziale erkennen. Und das wird aus meiner Sicht eine der Hauptaufgaben im Recruiting sein. Also heißt es: Keine Angst haben, sondern offen bleiben für künftige Entwicklungen, die wir heute noch gar nicht abschätzen können.

Und nicht vergessen: „Hire best recruiters to hire best talents“. Dann funktioniert das auch mit dem Digital Recruiting.

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