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Foto von Sarah Shaffer
Prof. Heintel, lange bevor Begriffe wie „Work-Life-Balance“ oder „Slow Living“ in Mode kamen, haben Sie in Klagenfurt einen Verein zur Verzögerung der Zeit gegründet. Was hat Sie damals angetrieben?

In den 1980er-Jahren habe ich bei meiner Tätigkeit als Trainer und Berater beobachtet, dass die Verdichtung der Arbeit zunahm – eine Entwicklung, die sich in den 1990ern verschärft hat. Die Gründe dafür waren vielfältig: Der globale Verdrängungswettbewerb setzte ein und neoliberal orientierte Wirtschaftsmodelle gewannen an Bedeutung. Die betriebswirtschaftliche Logik „Es gewinnt der am Markt, der in der gleichen Zeit mehr und besser produziert“ setzte sich durch. Zugleich ließen sich Unternehmen nicht mehr rein hierarchisch „von oben“ lenken, weil Entscheidungen komplexer wurden. In vielen Organisationen standen Strukturveränderungen an. Allerdings nahmen sie sich für diese wichtigen Veränderungsprozesse zu wenig Zeit, während sie an anderer Stelle Zeit verschwendeten. Das war einer der Gründe, die mich dazu bewogen, den Verein zu gründen. Natürlich sollte er auch der Eigentherapie dienen und meinen eigenen Umgang mit Zeit verbessern.

Seitdem sind 19 Jahre vergangen. Hat sich der Umgang mit Zeit in der Arbeitswelt verändert?

Die Arbeitszeitverdichtung hat eigentlich linear zugenommen – und ihre Auswirkungen zeigen sich heute. Auch die gegenwärtige Krise ist in erster Linie ein Zeitphänomen.

Inwiefern?

Weil man langfristiges Denken zugunsten eines kurzfristigen Shareholderdenkens aufgegeben hat. Viele Top-Manager fühlen sich nicht mehr für ihre Organisationen verantwortlich, sondern für die kurzfristigen Bewegungen des Aktienkurses. Und das ist ungesund.

Wie wirkt sich dieses kurzfristige Denken auf die Mitarbeiter aus?

Es fördert die Tendenz, am Personal zu sparen. Einzelne müssen die Arbeit von vielen übernehmen und geraten unter Druck. Entlassungen wecken Ängste bei den Verbleibenden – und Angst ist bekanntlich der Feind der Kreativität. Wer Mitarbeitern mehr abfordert, fördert somit nicht immer die Produktivität. Verschärft wird diese Entwicklung dadurch, dass Unternehmen laufend bemüht sind, Zeitreserven zu reduzieren. Das begann mit der REFA-Bewegung, die Betriebswirte mit Uhren hinter Mitarbeitern herlaufen ließ, um aufzuschreiben, wie viel Zeit sie für welche Arbeitsschritte brauchen.

Was war falsch daran?

Hinter diesem Modell, das übrigens schon in den Zwischenkriegsjahren des 20. Jahrhunderts in Ansätzen praktiziert wurde, steht die Vorstellung vom Menschen als Maschine – und die ist falsch. Menschen haben Emotionen, sie arbeiten in Rhythmen und Szenerien. Daher ist der Wert der Pausen nicht hoch genug einzuschätzen. Wenn Unternehmen aber Kaffee- und Rauchpausen abschaffen und nur noch die Erholung bieten, die kollektivvertraglich festgelegt ist, stören sie die Eigenzeitrhythmen der Menschen – und das hat Konsequenzen für Arbeitsleistung und Sozialklima.

Welche?

Pausen dienen nicht nur der physischen Erholung, sondern auch der psychischen Entlastung durch informelle Kontakte. Man redet mit Kollegen über Belastendes und Verletzendes. Wenn das nicht mehr geschieht, tragen die Beschäftigten ihre Aggressionen in den Arbeitsprozess. Das bringt Sand ins Getriebe und lässt das Klima erkalten. Aber es gibt auch Kompensationsbewegungen. Mittlerweile finden so viele Meetings statt, dass man schon den Verdacht haben kann, dass es hier auch darum geht, verlorene Sozialkontakte zurückzugewinnen. Das heißt aber auch, dass die Unternehmen trotz aller Zeiteinsparungsversuche ökonomisch nichts sparen.

Und es heißt auch, dass Mitarbeiter wegen zeitfressender Meetings länger im Büro sitzen. Wie wirkt sich die Verdichtung der Arbeit auf unseren Umgang mit Freizeit aus?

Ein Kollege von mir hat einmal gesagt, arbeiten sei leichter als leben. Er meinte damit, dass wir mit Zeitsouveränität immer weniger umgehen können. Viele Menschen sind hilflos, wenn sie plötzlich über ihre Zeit bestimmen müssen. Das führt bei einigen dazu, dass sie sich in Arbeit flüchten – mit allen Folgen für das Privatleben. Es gibt eine Tendenz zum Anknabbern von Feiertagen – nicht nur durch Schichtarbeit, sondern auch durch die Zunahme anderer atypischer Beschäftigungsformen. Die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben verwischen, befördert durch technologische Entwicklungen, die beispielsweise Telearbeit ermöglichen. Das Hauptmanko ist, dass viel zu wenig über die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Menschen gesprochen wird. Es gibt zu wenig Widerspruchsgeist.

Ist das überall so oder gibt es kulturelle Unterschiede?

Es gibt kulturelle Unterschiede, auch wenn die Globalisierung und Technologisierung die Beschleunigungsprozesse weltweit vorantreiben. Doch nach wie vor ist in Italien die Zeiteinteilung des Tages eine andere als in Österreich. Unsere Zeitvorstellungen basieren auf sozialen Konstrukten, die historisch wachsen. Im Mittelalter gab es bei uns 190 Feiertage mit Arbeitsverbot. Heute hat die Religion nicht mehr den Stellenwert, den sie früher hatte. Stattdessen bestimmt im europäischen und angelsächsischen Raum die Erwerbsarbeit unsere Lebenszeit, was das beschriebene Phänomen der Arbeitszeitverdichtung vorantreibt.

Welche Führungsinstrumente fördern Arbeitszeitverdichtung in Unternehmen?

Zum Beispiel Leistungs- und Zielvereinbarungen, die nur die Quantität im Blick haben. Wenn Sie ausschließlich daran gemessen werden, wie viele Kundengespräche Sie am Tag geführt haben, werden Sie nicht mehr auf die Qualität der Gespräche achten. Haben Sie Ihre Ziele erreicht, steckt Ihnen die Führungskraft noch ehrgeizigere Ziele. Was folgt, ist ein Motivationsproblem. Ihnen wird der Erfolg genommen. Anstatt das Erreichte zu feiern, erhalten Sie noch mehr Aufgaben, die Sie in weniger Zeit erledigen müssen, wodurch Sie womöglich schlechtere Ergebnisse erzielen.

Klingt nach einem Teufelskreis. Wie können Führungskräfte dieser Entwicklung entgegenwirken?

Mit Feedback. Das klingt banal, aber es wird insgesamt zu wenig Gebrauch von Banalitäten gemacht. Vor allem in kritischen Situationen sind jene Führungskräfte besonders erfolgreich, die Druck herausnehmen und sich die Zeit nehmen, die Situation mit ihren Mitarbeitern zu analysieren und nach Lösungen zu suchen. Es geht darum, eine reflexive Kultur aufzubauen, die befriedigendere Lösungen ermöglicht als eine Kultur, die sich auf Ad-hoc-Entscheidungen beschränkt.

Und wie kann der Einzelne „entschleunigen“, wenn sein Umfeld auf Beschleunigung ausgerichtet ist?

Jeder Mensch kann sein Verhalten analysieren und überlegen, wo er Zeitfresser erzeugt oder besser delegieren könnte. Er kann auch mit Kollegen eine E-Mail-Kultur etablieren, die vorsieht, dass man E-Mails nicht sofort, sondern nur in einem gewissen Zeitrahmen beantworten muss.

Einige Studien behaupten, dass die nachwachsende „Generation Y“ mehr Wert auf Work-Life-Balance legt. Gehen die heute Im Gespräch mit Peter Heintel, Philosoph und Zeitexperte 20- bis 30-Jährigen besser mit Zeit um als ihre Eltern?

Eine Gegenbewegung sehe ich noch nicht. Ich merke aber, dass vor allem jüngere Generationen Wert auf Lebensqualität legen. Denn sie haben gesehen, wie diese bei den Altvorderen allmählich zugrunde geht. Viele junge Menschen, vor allem aus der Umweltbewegung und den NGOs, stehen dem Gesellschaftssystem kritisch gegenüber. Die Politik hat aus ihrer Sicht versagt. Was kann eine Nationalpolitik heute schon ausrichten, die zwischen regionalen, kommunalen, EU- und globalen Interessen lavieren muss? Und das merken die Jungen. Ihre Politikverdrossenheit ist eine Verdrossenheit über Versagen und Fassade. Sie sehen, dass unser System bröckelt, weil es nur noch auf Kurzfristigkeit und Profit setzt.

Was empfehlen Sie?

Auf der Makroebene der internationalen Politik und Wirtschaft ist es natürlich am schwersten, Lösungen für das Zeitphänomen zu finden. Es müsste ein Umdenken hin zu einem langfristigen Denken einsetzen und man müsste weltweit Reflexionsprogramme entwickeln, die das System verändern.

Kommen wir vom großen Ganzen zum Persönlichen. Sie haben eingangs gesagt, dass Sie den Verein zur Verzögerung der Zeit auch zur Selbsttherapie gegründet haben. Waren Sie erfolgreich?

Ja, ich gehe heute gelassener mit Zeit um, nachdem wir uns im Verein mit verschiedenen Themen auseinandergesetzt haben. Ein weiterer Grund für Zeitverdichtung, den ich bislang noch nicht erwähnt habe, ist beispielsweise ein metaphysischer: Eigentlich hat die ganze Malaise neuzeitlich damit begonnen, dass man das Jenseits abgeschafft hat. Früher gingen die Menschen davon aus, dass es nach dem Tod eine Zukunft gibt. Heute scheint uns das individuelle Leben befristet, und wir reagieren darauf, indem wir möglichst viel hineinpacken. Der sogenannte „Pensionsschock“ besteht unter anderem darin, dass wir aktivitätslos werden und den Eindruck haben, dem Tod direkt ins Angesicht zu schauen. Wenn man das einmal mit sich und anderen analysiert hat, wird man gelassener. Daher hat der Verein für mich nicht nur theoretisch-analytische, sondern auch ganz praktische Hilfestellungen gegeben.

Interview: Bettina Geuenich

Quelle: personal manager 6/2009