Der Kandidat macht die Musik
Daten, Automatisierung, Individualisierung, Echtzeit – digitale Lösungen machen im klassischen Marketing längst Kampagnen effizienter und wirkungsvoller. Im Personalmarketing und Recruiting lässt das noch auf sich warten. Dabei könnten auch hier Disziplinen wie Programmatic Job Advertising oder Retargeting die Verantwortlichen erheblich entlasten. Dafür müsste die Branche allerdings umdenken.
Foodora braucht Rider. Dringend. Das sind die Leute, die in pink-grauem Anorak meist per Fahrrad durch die Stadt flitzen, um Pizza, Pasta, Sushi, Thai oder irgendein anderes Food auszuliefern: ein Job für junge, dynamische Biker und nicht besonders gut bezahlt. Da darf man die Besucher einer Stellenanzeige oder der Karriere-Seite nicht so schnell vom Haken lassen. Und genau so hat es Foodora gemacht. Wen der Fahrradkurier Chris auf der Karriereseite noch nicht so überzeugen und zu einer Bewerbung bewegen konnte, dem winkte der Rider später wieder per Facebook-Werbung zu.
Die Mechanik ist einfach: Mithilfe von Webanalytics und Retargeting verfolgt Foodora Interessentinnen und Interessenten durchs Netz. Wie solches Retargeting genau funktioniert, beschreibt Hans Diegruber von B2B Insider im folgenden Artikel. Das Beispiel zeigt sehr gut, in welche Richtung sich das Recruiting derzeit bewegt. Kampagnen werden Daten-getrieben ausgesteuert und in Echtzeit optimiert. Im klassischen Marketing ist das längst Gang und Gäbe. Programmatic Advertising, Retargeting, Zielgruppen-Targeting oder dynamische Werbemittel gehören gewissermaßen zum Alltag. Doch im Personalmarketing steht das Thema erst am Anfang, denn schließlich müssen die Verantwortlichen dafür neue Wege gehen.
Viele Touchpoints abseits der Stellenanzeige
Die wichtigste Erkenntnis zu Beginn des Prozesses: Die Surfgeschichte eines potentiellen Kandidaten, die so genannte Candidate Journey, verläuft ähnlich wie die Customer Journey, also die Reise eines Kunden durchs Netz. Annika Pies, Geschäftsführerin der Personalmarketingagentur Talents, hat dies in einer Grafik anschaulich dargestellt. Google-Suche, Facebook, verschiedene Themen-Websites und natürlich auch Jobbörsen: Potenzielle Bewerber bieten viele mögliche Kontakt-Punkte, so genannte Touchpoints, an denen sie mit Werbung und Angeboten ansprechbar sind. Vorausgesetzt, man erkennt sie wieder und kann ihre Reise durch das World Wide Web nachverfolgen.
Data driven Personalmarketing bietet Recruitern verschiedene Vorteile: „Diese können die Streuverluste klein halten und nur die Zielgruppe ansprechen, die vielversprechend ist“, sagt zum Beispiel Tom Sibbersen, Online-Marketing-Spezialist bei Westpress in Hamm. Die Werbeausgaben ließen sich auf Grundlage von Daten deutlich zielgerichteter einsetzen. Jan Kirchner, Geschäftsführer von Wollmilchsau sieht vor allem zwei konkrete Gründe: „Erstens kann dank der Erhebung und Auswertung von Nutzerdaten die gesamte Candidate Journey nachvollziehbar gemacht werden, um kritische Absprungmarken und kosteneffiziente Bewerberquellen schnell und einfach zu identifizieren“, erklärt der Daten-Experte. Zweitens könnten auf Basis von Daten Prozessmuster erkannt und Vorhersagen getroffen werden, die den Bewerberrücklauf kalkulierbar machten. „Das bietet die einmalige Chance einer nachhaltigen Performance-Steigerung“, sagt Kirchner. Und die kann mithilfe von Webanalytics natürlich auch gemessen werden.
Sixt erhöht die Einstellungsrate
Sixt zum Beispiel nimmt kein Applicant Tracking System (ATS), sondern behandelt Personalmarketing-Kampagnen wie normale Marketing-Kampagnen. „Wir verzichten auf herkömmliche ATS und setzen auf Salesforce und eine eigen-entwickelte Hiring-App im Recruitingprozess. Genaue Erfolgsmessung ermöglicht es uns, die Performance aller Bewerberquellen und interner Recruiting-Prozesse zu verbessern“, so Dimitri Gertsmann, Senior Lead Manager People E-Recruiting bei Sixt SE. Der Automobil-Verleiher habe so die Bewerberzahlen in einigen Berufsgruppen mehr als verdoppeln und die Einstellungsrate um rund ein Viertel erhöht.
Die Voraussetzung: Die Recruiter müssen sich auf neue Strategien einlassen. Es geht darum, Werbung für einen Arbeitgeber oder auch für einen konkreten Job nach User-Daten auszuspielen und nicht in bestimmten Umfeldern zu platzieren. Das bedeutet auch: Sie brauchen andere Werbemittel. Neben einer klassischen Stellenanzeige werden Banner, Facebook-Ads oder andere Formate benötigt. Zwei Beispiele: Auf einer Architektur-Website kann eben auch Werbung für eine Bauingenieur-Stelle geschaltet werden, oder –krasser – auf einer Reise-Website Werbung für eine Ausbildungsaktion. Es kommt auf den User an, der gerade die Seite besucht – und darauf, welche Informationen und Daten zu diesem User vorliegen. Passt er für die Kampagne oder nicht?
Automatisch, individualisiert und in Echtzeit
Ein möglicher Ansatz: Programmatic Advertising, also hier Programmatic Job Advertising. Wie das funktioniert, beschreibt Nils Wagner, Geschäftsführer bei Königsteiner. Die Digital-Unit der Personalmarketing-Agentur gestaltet dafür Display-Kampagnen analog zu klassischen Programmatic-Kampagnen. Programmatic Advertising bedeutet voll automatisiert, ausgesteuert nach Daten zur Zielperson und deren Surfverhalten und in Echtzeit. Einkauf und Schaltung laufen über einen Auktionsprozess, das so genannte Real-Time-Bidding. Ist ein Nutzer für eine Kampagne relevant, erhält der Höchstbietende den Zuschlag und darf sein Werbebanner platzieren. Die Software erledigt in Sekunden wofür sonst mindestens eine Vollzeitstelle nötig wäre: Daten erheben und auswerten, mithilfe von Algorithmen Muster in diesen Daten erkennen, auf historischen Daten basierend zukünftige Kampagnenverläufe vorhersagen und Anzeigen entsprechend auf den erfolgversprechendsten Kanälen ausspielen und überwachen.
Königsteiner Digital hat das zum Beispiel schon für einen Industrie-Dienstleister gemacht, um Ausbildungsplätze über verschiedene Geräte – cross device – hinweg per Zielgruppen- und regionalem Targeting auszuspielen. Ein anderer Kunde: Ein Chemie-Konzern, der gezielt Studierende ansprechen wollte, die sich für ein Recruiting-Event anmelden sollten. Auch hier wurde die Zielgruppe über verschiedene Geräte hinweg erreicht. Entscheidend ist: Ein User wird auf verschiedenen Geräten identifiziert – natürlich anonymisiert und Datenschutz-konform. Dieser User erhält auf den verschiedenen Geräten eine schlüssige Geschichte angeboten, die ihn dem Arbeitgeber oder einem Angebot näherbringen soll.
Werbemittel passen sich dem User an
Eine weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sind dynamische Werbemittel. Das sind solche, die sich dem jeweiligen Empfänger, seinen aktuellen Erwartungen und Bedürfnissen anpassen. Klassische Werbemittel sind statisch, das heißt Bilder, Slogan, etc. bleiben gleich. Bei dynamischen Werbemitteln werden dagegen mehrere Versionen hinterlegt, die bei der Auslieferung entsprechend geladen werden – und zwar ausgesteuert nach Merkmalen und Situation des Empfängers. Das heißt, eine Frau sieht womöglich ein anderes Werbemittel als ein Mann, ein jüngerer Empfänger erhält andere Werbung als ein älterer, usw..
Die Lösung der Zukunft? „Ich nehme wahr, dass die meisten Recruiter oder Personalmarketer diese Technologien noch gar nicht kennen“, sagt Michael Witt, der Unternehmen in Sachen Recruiting berät. Die Branche konzentriere sich nach wie vor auf das Schalten von Stellenanzeigen, (händische) Vorauswahl und das Führen von Interviews. Bastian Lehmkuhl, Performance Marketing Manager bei der Deutschen Bahn, geht davon aus, dass vor allem Programmatic Job Advertising noch lange ein Nischendasein fristet – fernab einer deutlichen Disruption am Markt. „Denen, die den Schritt dorthin allerdings frühzeitig machen, werden massive Wettbewerbsvorteile beschert“, schätzt er. Westpress-Spezialist Sibbersen hebt allerdings warnend den Finger. „Dennoch sollte man bedenken, dass der Einsatz von Programmatic Advertising, Retargeting oder Data-driven-Marketing nicht als Heilsbringer missinterpretiert werden darf. Anders gesagt: Passt die Arbeitgebermarke nicht oder ist das Job-Angebot schlecht, hilft auch die beste Daten-getriebene Online-Kampagne nicht.
Autor: Raoul Fischer