Keynote-Vortrag
von Prof. Dr. Holger Rust
auf der Messe Zukunft Personal:

MacBook Pro, white ceramic mug,and black smartphone on table
Foto von Andrew Neel

Die ‘Dritte Kultur’ im Management: HR-Konzepte für die Zukunft
22. September 2009
14.30 – 15.30, Keynote-Forum

Im Anschluss: Public Interview
mit Connie Voigt, Chefredaktion HR Today

Herr Rust, angesichts der aktuellen Krise mussten kürzlich sogar erstmals Wirtschaftsinstitute eingestehen, dass eine Zukunftsprognose schwierig ist. Inwiefern lässt sich die Zukunft derzeit überhaupt vorhersagen?
Komplexe Dinge, die auf eine unerwartete Weise aufeinander wirken, lassen sich niemals vorhersagen. Die Wirtschaftskrise zeigt ja sehr eindringlich, dass selbst geniale Finanzmathematiker nie alles einberechnen können und Risiken dramatisch unterschätzen. Das Finanzwesen hat einen unglaublichen Grad an Vernetzung aller möglichen Faktoren erreicht. Die aktuelle Krise gleicht aus diesem Blickwinkel einem Flugzeugabsturz als Folge der berühmten „Verkettung tragischer Umstände“, die natürlich niemand vorhersagen kann. Aus dieser Erfahrung heraus sollten wir grundsätzlich darüber nachdenken, ob Wirtschaftsprognosen tatsächlich eine wissenschaftliche Basis haben.

Worauf können sich Unternehmen dann verlassen, wenn sie Strategien für die Zukunft entwickeln?
Vor allem auf die Intelligenz ihrer Mitarbeiter. Unternehmen müssen darauf achten, ein möglichst breites intellektuelles Potenzial aufzubauen. Deshalb brauchen wir eine kritische Kommunikationskultur, in der Menschen durch die Führung ermutigt werden, auf Missstände hinzuweisen, ihre Skepsis zu formulieren und innovative Ideen loszuwerden. Wenn die Welt draußen immer komplexer wird, können Unternehmen nicht darauf reagieren, indem sie im Inneren immer einfacher werden und nur einen bestimmten Typus von Mitarbeiter fördern. Doch sehr oft geschieht genau das: Die dominierende Art von Führungspersönlichkeit, die sich hauptsächlich am Shareholder Value orientiert, umgibt sich mit bestimmten Typen von Nachwuchsführungspersönlichkeiten und bildet sie entsprechend stromlinienförmig aus.

Wodurch sollten sich Führungskräfte Ihrer Meinung nach auszeichnen?
Ich beobachte seit langem eine Bewegung oder vielleicht eine Art von Trend: Junge Leute äußern sich zur gegenwärtigen Wirtschaftkultur und damit auch zu Unternehmenskulturen immer kritischer. Deswegen haben wir im Jahr 2000 begonnen, Wirtschaftsstudenten in ihren letzten Semestern und junge Berufstätige zu ihrem Idealbild der Führungskraft zu befragen. Wir wählen mithilfe von Unternehmensberatungen gezielt diejenigen aus, die selbst Führungsambitionen anstreben oder schon auf dem Weg nach oben sind. Dabei kommt heraus, dass sich die jungen Leute kommunikative, mitarbeiterorientierte, kooperative Vorgesetzte wünschen, die nicht allzu risikofreudig, offenen Geistes und bereit sind, mit jungen Leuten zu arbeiten – Eigenschaften, die die Befragten an den amtierenden Führungskräften allerdings definitiv vermissen. Diese Kluft zeigt sich nicht nur beim Profil der idealen Führungskraft, sondern auch bei der Frage nach moralischen Handlungsoptionen.

Sollten Führungskräfte demnach moralische Werte wieder hochhalten?
Wir befragen den Nachwuchs auch zu einer Reihe von Dilemmata des Managements. Sollte man zum Beispiel Kinderarbeit in der dritten Welt akzeptieren, weil das alle tun oder weil es Familien ernährt? Ist es gerechtfertigt, dass Führungskräfte nicht in der Kantine, sondern im Casino essen? Ist es opportun, Kommunen unter Druck zu setzen, um Steuern zu sparen? Anhand dieser Beispiele aus dem Wirtschaftalltag erkundigen wir uns nach dem eigenen Vorstellungen der jungen Leute und der Einschätzung der amtierenden Führungskräfte. Dem Nachwuchs ist es offensichtlich sehr wichtig, ein „werteorientiertes Management“ zu verwirklichen. Auch andere Untersuchungen wie die „Millenials-Study“ von „PriceWaterhouseCoopers“, die „IBM Human Capital Study“ oder eine aktuelle Studie der „Initiative für Wertebewusste Führung“ kommen zu dem Ergebnis, dass junge Menschen sich mehr gelebte Werte wünschen und finden, dass ihre Vorgesetzten nicht genug dafür tun. Viele sind sogar bereit, aus diesem Grund ein Unternehmen wieder zu verlassen.

Seit wann beobachten Sie diese Ausrichtung?
Diese Haltung ist nicht erst durch den Ausbruch der Krise entstanden. Das Ergebnis meiner Befragungen ist vielmehr schon seit zehn Jahren gleichbleibend.

Ist das nicht merkwürdig? Denn schließlich müssten sich inzwischen schon die jungen Leute aus den ersten Befragungen in den Unternehmen etabliert haben.
Eine Antwort darauf könnte sein, dass die Young Professionals innerhalb der zehn Jahre, in der wir nun die Befragung durchführen, noch keine Top-Führungskräfte geworden sind. Viele wenden sich auch einfach von ihrem Plan einer Managerlaufbahn ab, weil sie begreifen, dass die großen Karrieren bisher von denen gemacht wurden, die genauso waren, wie sie nicht sein wollten. Gleichzeitig werden auch viele kritische Geister aussortiert, weil sie bestimmte Aspekte einer kennzahlbasierten Controllingkultur nicht beherrschen oder nicht in ihr geistiges Portfolio übernehmen wollen. Wenn wir bei den moralischen Dilemmata zum Beispiel fragen, ob es opportun sei, Frauen weniger zu bezahlen als Männern, um damit für das Unternehmen etwas zu sparen, dann kommen wir auf eine gigantische Ablehnung von 80 Prozent. Aber es bleiben immer noch 20 Prozent, die das nicht ablehnen. Diese angepasste Minderheit scheint in vielen Unternehmen die besseren Chancen zu haben, Führungspositionen einzunehmen.

Sie sprachen vorhin davon, dass nur eine vertrauensvolle Kommunikation diese Entwicklung stoppen kann. Wie meinen Sie das genau?
Ich versuche das mit dem Begriff der „Dritten Kultur“ im Management zu veranschaulichen. Die Idee dahinter stammt von dem Physiker und Romanautor Charles Percy Snow. Er hat sich in einer bis heute viel diskutierten Vorlesung schon vor 50 Jahren mit dem Habitus der Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler beschäftigt und eine wechselseitige Ablehnung und Arroganz festgestellt. Sein Ziel war es, eine Kultur der Kommunikation zwischen beiden Seiten zu schaffen – und zwar im Hinblick auf die Rolle einer innovativen Wirtschaft als Garant globalen Wohlergehens.

Und Sie übertragen das auf die heutige Welt von Führung und Management?
Ja, denn ich sehe die kulturelle Konfrontation meiner Studenten mit Besorgnis: Die einen, die ich die „kennzahlendominierten Formalisten“ nenne, sind eher naturwissenschaftlich, pragmatisch und ingenieursgetrieben. Ich beobachte aber trotzdem hier eine geradezu irrwitzige Bereitschaft, durch Gurus und Personal Trainer zertifizierbare „Soft Skills“ zu entwickeln, kommunikativer zu werden und der Wirklichkeit näher zu kommen. Die andere Seite fokussiert sich auf Managementkritik und Systemschelte. Diese jungen Leute machen meiner Ansicht nach den Fehler, dass sie zu wenig kämpferisch und konstruktiv sind. Sie meiden häufig die Konfrontation und sagen, dann gehen wir halt woanders hin – zum Beispiel zu NGOs – wo es etwas „kuscheliger“ zugeht. Meiner Ansicht nach müssen wir jedoch beide Seiten zusammenbringen und die Wünsche koordinieren: Die „Dritte Kultur“ wäre demnach die Vermittlung einer starken, betriebswissenschaftlichen Routine mit einer kritischen Folgenabschätzung allzu routinierter Managementkonzepte.

Wen sehen Sie als zentrale Akteure in dieser Art der Kultur?
Die Personalabteilungen sind für mich die wesentlichen Schaltstellen, um kommunikative Führung zu realisieren, weil sie verschiedene Ebenen hierarchiefrei zusammenbringen können. Nur die Personaler können beispielsweise vorschlagen, dass ein Impulsreferat im Vorstand mal von einem Talent aus dem mittleren Management gehalten wird – andere Akteure im Unternehmen kennen diese Personen ja gar nicht. Die Vorstände werden teilweise systematisch vor solchen Vorschlägen abgeschottet, übrigens auch weil irgendwelche Strategieberater daran ein gewisses Interesse haben. Das Management und die Führungskräfte müssten aber auch von sich aus viel stärker den Kontakt zur Belegschaft suchen. Denn wenn sie sich nur mit Ihresgleichen austauchen, verlieren sie den Anschluss an die Welt, wie sie wirklich ist.

Welche Rolle spielen dabei Vorbilder?
Um das allgemeine Vertrauen in Führungspersonen wiederherzustellen, ist es wichtig, Vorbilder zu haben, die glaubwürdig sind. Man kann keinem System vertrauen, sondern nur konkreten Personen. Es ist höchst interessant zu sehen, welche Führungskräfte im Moment in der Öffentlichkeit erscheinen. Einer derjenigen, der jetzt wieder öfter als Kritiker der herrschenden Führungskultur interviewt wird, ist Thomas Sattelberger. Er hat ja schon immer eine andere Art der Führungskultur beschrieben. Natürlich musste auch er harte Einschnitte verantworten, aber er ist seiner Linie in Hinblick auf Führungskultur anscheinend treu geblieben: die Umsetzung eines ungeschriebenen Vertrages mit der jungen Generation, sie nicht als kurzfristige Söldner zu betrachten, sondern als aktive Bürger des Unternehmens.

Mir fallen aber außer Herrn Sattelberger nicht wirklich viele Vorbilder ein – zumindest nicht solche, die in den Medien präsent sind.
Das ist ein wirkliches Problem. Es gibt viele Unternehmen, die in diesem Sinne eine fortschrittliche Kultur pflegen – fast alle mittelständischen Unternehmen, aber auch Konzerne wie VW oder RWE, um nur zwei Beispiele zu nennen. Nach außen sieht das aber oft anders aus oder es fehlen einfach Personen, die den Mut haben, mit einer solchen Kultur wirklich an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gibt in dieser Hinsicht eher internationale Vorbilder wie Bill Gates oder den Unternehmer Richard Branson. Doch vielleicht wird sich das bald ändern, denn nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers und den ganzen Konsequenzen, sprechen nun ja alle vom „Rethink“ – also einer Rückbesinnung oder Neubesinnung auf Werte und ihre Vorbilder.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Krise als Möglichkeit begreifen, den Habituszirkel der kennzahldominierten Formalisten zu durchbrechen?
Ich würde gerne darauf verzichten zu sagen, die Krise ist eine Chance. Das ist derartig platt und wird von so vielen selbst ernannten Gurus ununterbrochen geäußert, dass es schon fast verzweifelt wirkt. Tatsächlich geht es darum, dass diese Werte und dieses Unbehagen an der vorherrschenden Wirtschaftskultur schon immer da waren. Und dieses ganze Unbehagen bricht sich jetzt Bahn. Im Moment verhalten sich viele Leute so, als seien sie aus einem Rausch erwacht und plötzlich wieder in der „Realwirtschaft“. Diese Rückbesinnung erscheint so gesehen schon als eine große Gelegenheit, längerfristige Perspektiven zu entwickeln.

Eingangs sagten Sie, dass es im Moment kaum möglich ist, in wirtschaftlicher Hinsicht die Zukunft vorherzusehen. Wagen Sie trotzdem eine Prognose, ob es gelingen wird, eine neue Kommunikations- und Führungskultur zu schaffen?
Wir haben gar keine andere Wahl, wenn wir weiterhin ein Innovationsstandort bleiben wollen. Unsere Studien zeigen, dass junges, ambitioniertes Personal bereit steht. Also – worauf warten wir?

Interview: Stefanie Hornung