Eigentlich sollte der 1. Mai dieses Jahres ein relaxter Barbecue-Tag unter Freunden werden. Wurde es aber nicht. Stattdessen gab mir dieser Tag einen triftigen Grund über das Leben in der Fremde, Zugehörigkeit und Ankommen nachzudenken.An jenem Morgen machte ich mich auf den Weg in Richtung Migros – meinem mittlerweile liebgewonnenen Supermarkt in meinem Viertel Besiktas/Istanbul. Während ich noch darüber nachdachte, welcher Fisch sich am besten auf dem Grill machen würde, stolperte ich geradewegs in die traditionellen Kundgebungen zum Tag der Arbeit. Eigentlich nichts Besonderes. Nur, dass diese eigentlich ganz friedliche Veranstaltung in diesem Jahr eine fragwürdige Nummer aus Demonstranten, Polizei und Wasserwerfern zu werden schien. Und das während am Rand dutzende von Passanten bei einem heißen Çay (schwarzer Tee) und Simit (Sesamkringel) entspannt ihr Frühstück genossen.

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Foto von Perry Grone

„Irgendwie befremdlich“ dachte ich mir zuerst, mischte mich aber trotzdem neugierig unter die beobachtende Menge. Anfangs war es komisch, als Fremde in einem fremden Land an etwas teilzuhaben, das mich eigentlich nicht viel angeht. Aber dann passierte etwas Interessantes: Nach nur ganz kurzer Zeit der Fremdheit entstand plötzlich Nähe und Vertrautheit zu meinem Umfeld. Ich fühlte mich zugehörig. Als Teil von etwas und es fühlte sich gut an!

Über das Leben in der Fremde, Zugehörigkeit und Ankommen

Zugegeben, das Beispiel mag für die meisten eher eine Ausnahmesituation sein. Aber ist nicht Fremdheit seit Urzeiten für den Menschen ohnehin eine eher suboptimale Situation? Ein Moment der Ungewissheit und ein Mangel an Zugehörigkeit, den es zu überwinden gilt? Und ist es für uns moderne Abenteurer nicht auch Ziel, das Ungewisse zu „bezwingen“? Um es uns letztlich zu eigen zu machen? Ist Zugehörigkeit das Ziel, und es unsere Aufgabe, als Expats dort hin zu kommen?

Klar ist: gerade als Expats müsst ihr mit Fremdheit und Unsicherheit klarkommen. Und zwar täglich! Ihr begebt euch in ein ungewisses Umfeld, in dem ihr erst einmal herausfinden müsst, wo der nächste Supermarkt ist und welche Produkte ihr überhaupt essen könnt. Wie ihr an Strom und Internet kommt. Warum ihr nicht in die weißen Taxen steigen solltet. Ihr interagiert ständig mit fremden Menschen, die nicht eure Sprache sprechen und deren Denk- und Verhaltensweisen euch bestenfalls aus einem interkulturellen Vorbereitungsseminar bekannt sind. Das ist anstrengend! Doch wenn ihr’s richtig anpackt, wird nach ein paar Monaten aus der Fremde irgendwann ein neues Heim. Ein neues Leben. Neue Vertrautheit. Und vielleicht sogar ein gewisses Gefühl der Zugehörigkeit!

Fremd ist Fremd. Oder nicht?

Der Duden definiert FREMDHEIT so: „Substantiv, feminin – das Fremdsein; Unvertrautheit; kühle Distanz“. Meines Erachtens ist das nicht ganz korrekt, zumindest nicht im Kontext des Expat-Lebens. Denn wer im Ausland wirklich ankommen möchte, sollte vor dem Hintergrund des Fremdheitsbegriffes unbedingt eine sehr klare Unterscheidung zwischen der externen und der internen Ebene treffen.

Fremdheit: Der Begriff beschreibt die Beziehung, in der Menschen oder Dinge zueinander stehen. Anders gesagt: Fremdheit drückt aus, wie unser Umfeld im Vergleich zu uns „aussieht“, es sagt etwas über die faktische Distanz aus, in der sich zum Beispiel eine andere Kultur im Vergleich zu unserer Kultur befindet. Beispielsweise ist die chinesische Kultur im Vergleich zur deutschen Kultur fremder als die französische Kultur.

Fremdsein: Im Gegensatz zur Fremdheit drückt der Begriff Fremdsein ein subjektives Gefühl, ein Empfinden aus. Nämlich das, was wir empfinden, wenn wir in diesem fremden Umfeld leben. Je größer die oben genannte kulturelle, soziale, religiöse, sprachliche (…) Distanz, desto fremder mögen wir uns in diesem Umfeld vorkommen. Zum Beispiel fühlen sich die meisten deutschen Expats in Frankreich sicherlich weniger fremd, als in China.

Während also Fremdheit in diesem Kontext eher die externe, die äußere Distanz zwischen verschiedenen Kulturen beschreibt, fokussiert Fremdsein auf die innere Distanz, die wir empfinden, wenn wir diese Fremdheit erleben.

Überwindet das Fremde!

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier! Und er scheut sich fast immer auch vor Veränderungen. Weil Veränderungen Fremdes mit sich bringen. Unsicherheit. Verlust. Ein Auslandsaufenthalt aber ist eine Riesen-Veränderung. Es ist praktisch ein Tête à Tête mit der Fremde – der Fremdheit und dem Fremdsein. Dem Erleben und dem Empfinden. Und so sehr uns dieses Fremde als Expats reizt, genauso sehr streben wir als Menschen nach verlässlichen Routinen, nach Bekanntem, nach Vertrautheit. Und nach Zugehörigkeit. Der Mensch ist nämlich auch ein Herdentier!

1. Kümmert euch um die Basics!

Es ist keine sonderliche Überraschung, dass es einfach ein paar Dinge gibt, um die ihr euch bemühen solltet, wenn ihr euch in das Abenteuer Fremde stürzt. Fremdheit drückt sich als erstes in eurem direkten Umfeld aus, also in dem, was ihr um euch herum als andersartig wahrnehmt. Das kann das Klima sein, die Architektur, kulinarische Besonderheiten, Infrastruktur, Kleidung, Dos & Dont’s und natürlich die Sprache. Nicht schwer zu erraten, dass – wenn ihr euch ein wenig mit all diesen (kulturellen, sprachlichen, religiösen usw.) Besonderheiten beschäftigt – es euch leichter fallen sollte, diese Fremdheit, in der ihr euch bewegt, ein wenig mehr zu verstehen. Und den Dingen etwas näher zu kommen. Um eure Gewohnheiten und Routinen zu entwickeln. Und euch sicher und aufgehoben zu fühlen. Um anzukommen!

Übrigens: Wie viel ihr davon braucht um euch weniger – fremd – zu fühlen, entscheidet ihr ganz allein. Schließlich hat nicht jeder die Zeit, jeden Tag drei Stunden Vokabeln zu pauken, und perfektes Hoch-Mandarin ist zwar großartig, aber eben nur die halbe Miete.

2. Findet eure Herde!

Zu Hause ist, wo Menschen sind, die euch etwas bedeuten. Dort, wo es Menschen gibt, denen ihr auch etwas bedeutet. Eure „Herde“. Und genau die entscheidet darüber, ob ihr ein paar nette Momente in einem fremden Land verbringt oder ob diese Erfahrung eine der besten Momente eures Lebens wird

In einem früheren Artikel hatte ich schon mal diskutiert, ob wir als Expats jemals ganz „dazu gehören“ können – zu einer Kultur, die von Geburt an nicht unsere ist. Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Ich denke jedenfalls, es müssen nicht immer zwangsweise die Aboregenees sein nur weil ich gerade in Australien lebe… Es geht nämlich nicht darum, auf Biegen und Brechen best friend mit allen Locals zu werden. Es geht darum, Menschen zu finden, die euch das Gefühl der Zugehörigkeit geben. Menschen, die etwas teilen möchten, die euren Horizont erweitern. Die euch das Gefühl verschaffen, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Und dieses Gefühl hängt nicht davon ab, mit WEM in anbandelt! Stattdessen nutzt einfach die vielen Möglichkeiten, die euch ein Auslandsaufenthalt bietet, eure Herde zu finden.

Was ich gelernt habe?

Rückblickend hat mir mein Erlebnis am 01. Mai gezeigt, wie stark unser menschliches Bestreben nach Vertrautheit und Zugehörigkeit ist. Ich habe an diesem Tag versucht, ein kleines Stückchen mehr von meinem Gastland zu entdecken und zu verstehen. Ja! Vor allem aber wollte ich – und das ist der Punkt – dazugehören! Ich wollte Teil von etwas werden, um mich hier ein kleines bisschen mehr angekommen zu fühlen.

Hat der Mensch keine Herde, wird er sich immer fremdfühlen. Völlig egal, wie gut er die Sprache spricht, wie ausgiebig er kulturelle Besonderheiten studiert oder sich durch dicke Geschichtsbücher seines Gastland gequält hat. Ohne Menschen, die euch etwas bedeuten, werdet ihr überall einsam sein! Wenn ihr also während eures Auslandsaufenthaltes ein neues Zuhause finden und nicht permanent auf der Durchreise sein möchtet, müsst ihr beides überwinden: die FremdHEIT und das FremdSEIN. Das ist nicht immer easy, aber es lohnt sich. Denn ihr bekommt es tausendmal zurück. Von den Menschen, denen IHR etwas bedeuten werdet.

Autoreninfo:

C.Grunewald

Constance Grunewald-Petschke betreibt den Blog www.what-about-my-pencilskirt.com, auf dem sie regelmäßig über ihr neues Leben als Expat-Frau in Istanbul berichtet. Sie ist außerdem Inhaberin der Agentur „Abroad [relocation.interculture.language]“, die Expats und ihre Familien berät und hat das erste deutschsprachige E-Coachingprogramm speziell für ExpatPartner entwickelt.

E-Mail: c.grunewald@xpat-abroad.com

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