1. Firmen, die tatsächlich gezielt fremdsprachenkompetente Mitarbeiter suchen – oder Mitarbeiter für bestimmte Märkte, könnten meinen, im Vorfeld nicht genügend selektieren zu können.
  2. Angaben zu Sprachkenntnissen und die Namen und Bezeichnungen der Schulen und Abschlüsse könnten im Grunde auch Auskunft über Herkunft und Berufsweg geben.
  3. Wenn die Kandidaten außerdem, wie häufig üblich, Profile auf Social Media unterhalten, können versierte Personaler auch dort relevante Daten eruieren, die in anonymisierten Verfahren nicht abgefragt werden.
  4. Entscheider, die bewusst auf “Nebensächliches” achten, wie Sorgfalt und Aufwand für die Bewerbung, kreative Umsetzung, interessante Zusatzinformationen, Gestaltung etc., könnten von der Nüchternheit der Bewerbung enttäuscht sein.
  5. Interessierte Unternehmen benötigen u.U. in Bezug auf anonymisierte Verfahren noch etwas „Starthilfe“ erfahrener Unternehmer, die diese Praxis schon eingeführt haben. Besonders, wenn sie zuvor noch keine eigenen automatisierten Verfahren verwendet haben, könnte die Einführung dieses Verfahrens als Hürde betrachtet werden.
  6. Außerdem gibt es bei allen Verfahren auch Bewerber, die ihre Bewerbungsunterlagen partout auf traditionellem Wege per Post oder an eine E-Mail-Adresse schicken – und damit bestimmte Masken, Formulare und Verfahren stoisch umgehen.

Erwiesene Vorteile

three men using MacBooks
Foto von Austin Distel
  1. Mögliche Nachwuchstalente – oder erfahrene Erfolgs- und Leistungsträger verbleiben im Bewerberpool und können berücksichtigt werden.
  2. Der Blick wird am Anfang stärker und effektiver auf Fähigkeiten und Kompetenzen gelenkt.
    Der Information Bias, der zu einer individuellen und häufig unbewussten selektiven Wahrehmung führt, findet wenig Angriffspunkte (Foto, Bilder, Stil, Farben etc.).
  3. Das Verfahren führt Beteilgten vor Augen, wie “abhängig” sie vorher von bestimmten Faktoren waren, wie stark sie sich von bestimmten Seh- und Denkmustern haben leiten lassen – was zu einer insgesamt neuen persönlichen Herangehensweise im Rekruiting insgesamt führen könnte.
  4. Notorische Selbstdarsteller nehmen nicht mehr unangemessen viel Raum ein.
  5. Die Auswahl erfolgt sehr viel nüchterner und konzentrierter – stringenter und schneller – vor allem auch dann, wenn die Auswahlkriterien in der Standardisierung konkret erfasst – und die KPIs klar und einheitlich definiert sind.
  6. Vereinfachte standardisierte Bewerbungsbögen sind eine echte Chance und eine gute Vorbereitung für die Einführung digitaler Bewerbermanagement-Systeme und eines verbesserten Bewerbermanagements generell inklusive einer Neudefinition von Rollen, Zuständigkeiten und der Einrichtung notwendiger digitaler Infrastruktur.
  7. Die kurzen Form-Anmeldebögen können als Muster für ein Feld für Initiativbewerbungen oder für erste unkomplizierte Kontaktaufnahmen über die Karriereseite – und/oder mobile Verfahren darstellen.
  8. Die Einführung eines neuen Bewerbungsverfahrens und –prinzips ermöglicht damit eine gründliche  und grundlegende strategische Überprüfung bisheriger Arbeits- und Unternehmenskriterien, inklusive Sichtung und Modernisierung bestehender Verfahren.
  9. Vereinfachte Bewerbungsbogen helfen Punkt 2 der „Diskussion“ zu widerlegen: Je nach geforderter Auskunft erhält man u.U. nicht sofort Einblick in „fremd“ anmutende Lebenslaufeinträge.
  10. Teilnehmer des Pilotprojekts wollen die anonymisierten Verfahren beibehalten – so gut hatte es sich im ersten Anlauf schon bewährt.
  11. Der Bewerber- und Arbeitnehmerpool ist besser durchmischt und enthält einen höheren Grad produktiver Vielfalt  und „Mitarbeiter- Diversity“, die stärker als bisher die Bevölkerungsrealität widerspiegelt.
  12. Die höhere Bewerbervielfalt hilft, etablierten Teams neue Impulse zu geben – mit vielversprechenden Kandidaten, die sonst aufgrund des Information Bias dem Unternehmen entgangen wären.
  13. Die Chance und Rolle des Kennenlernens im Vorstellungsgespräch ermöglichte ein Überwinden der Vorurteile und konstruktive Lösungen auf beiden Seiten.

Die Bewerber

  • Bewerber mit ausländischen Namen wurden deutlich häufiger zum Vorstellungsgespräch eingeladen.
  • Frauen – vor allem jüngere Frauen, denen sonst im entscheidenden Karrierealter „Kinderwunsch“ unterstellt worden wäre oder „eine nicht ausreichende Arbeitserfahrung“, bekamen jene verantwortungsvollen Positionen, auf die sie sich beworben hatten.
  • Für ältere Bewerber konnte keine repräsentative Aussage getroffen werden, da zu dem damaligen Zeitpunkt eine zu geringe Kohorte zur Verfügung stand, immerhin bekam ein älterer Bewerber für seinen Wiedereinstieg nach Krankheit eine Stelle bei der Stadt Celle. Er hatte aufgrund seines Alters schon Diskriminierung erfahren.

Die Personalverantwortlichen

  • Das Bewerberverfahren spart, besonders, wenn es durchdacht standardisiert angewendet wird, Zeit.
    Anderen Berichten zufolge, kostet es, wenn es nicht standardisiert, sondern neben üblichen nicht automatisierten – oder nur teilautomatisierten Verfahren verwendet wird, ca. 15% mehr Zeit aufgrund separater Dateneingaben. Das Problem liegt dann jedoch u.U. weniger am Prinzip der Anonymisierung, sondern daran, dass nicht aufeinander abgestimmte Prozesse nebeneinander her laufen.
  • Die Befürchtung, es wäre eine „Extraschleife“ im Auswahlverfahren, und es müssten dann doch mehr Kandidaten eingeladen werden, um zu dem Wunschkandidaten zu gelangen, bewahrheitete sich beim Pilotprojekt nicht, in anderen Projekten schon. Doch könnte auch dies wiederum auf mangelhafte Abstimmungen im Vorfeld, die parallele Verwendung mehrerer Verfahren und eine u.U. zögerliche/halbherzige Umsetzung zurückzuführen sein.

Ausblick

Natürlich gibt es zu anonymisierten Bewerbungsverfahren auch notwendigen Diskussionsbedarf. Schließlich kann es z.B. sein, dass genau diese Eigenschaften, die bei der einen Firma zu einem Aussortieren führen – bei einer anderen Firma ein Einstellungskriterium darstellen. Immerhin gehen bestimmte Initiativen ja gerade dahin, dass beispielsweise Behinderte oder Bewerber mit Flüchtlings- und Migrationshintergrund oder ältere Bewerber ganz bewusst mit diesen Merkmalen auftreten – und diese im Rahmen dessen auch als Vorteil bewerben. Außerdem können bestimmte Merkmale auch auf andere Weise aus Unterlagen herausgelesen werden.

Ein im Herbst 2010 lanciertes Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes umfasste die Besetzung von 246 Stellen. Acht Verwaltungen und Unternehmen befanden sich darunter, u.a. die Deutsche Telekom, die Deutsche Post, das Bundesfamilienministerium, die Stadt Celle und L’Oréal.

Das Verfahren: Die insgesamt 8.550 Bewerber füllten lediglich in einem anonymisierten Verfahren einen standardisierten Bogen aus. Sie schickten keinerlei eigene umfangreicheren Unterlagen. Es gab keine Angaben zu: Geschlecht, Alter, Namen, Herkunft, Familienstand.

Die Personalverantwortlichen erhielten in einem ersten Schritt damit lediglich Informationen zu beruflichen Qualifikationen der Bewerber. Erst beim Vorstellungsgespräch lernten sie diese Fakten kennen. Ausgewertet wurde die Studie von dem Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) und der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt.

Selbst wenn das Verfahren „nur“ teilanonymisiert  durchgeführt wird – also lediglich auf Foto, Name, Alter, Geschlecht und Herkunft verzichtet wird – kommen Talente und Befähigte zum Zuge, die sonst – so versicherten Personalverantwortliche und Entscheider einhellig – nicht berücksichtigt worden wären. „Die vorgefassten Bilder im Kopf“, die aufgrund vorgenannter Kriterien entstanden wären, hätten dazu geführt, dass Kandidaten, die jetzt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden und – in einigen Fällen sogar eingestellt worden wurden, sonst schon im Vorfeld aussortiert worden wären.

Um von vorneherein Zeit, Kosten und Aufwand zu sparen und nicht jedes Mal “das Rad neu zu erfinden”, sollten sich Firmen im Vorfeld beraten lassen – z.B. bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und auf deren Leitfaden (hier), Materialien, Formulare und Prozesse von Firmen zurückgreifen, die schon mit anonymisierten Verfahren gearbeitet haben. Auch viele IT-Dienstleister, die Programme für automatisierte Bewerbungsverfahren anbieten, können Unternehmen dahingehend beraten und gezielt Lösungen anbieten.

Die Fakten aus dem „Ausblick“ und dem „Diskussionsbedarf“ sind nicht zu unterschätzen. Wie in so vielen Diskussionen geht es hier sicher nicht um ein rigides „Entweder- Oder“ sondern darum, zusätzlich zu den etablierten Verfahren ein neues Fenster zu öffnen – für diejenigen Unternehmen, die konstruktiv und zukunftsorientiert auf die demographischen Engpässe reagieren wollen – und gleichzeitig bereit sind, ihre Bewerbungsverfahren generell einer gründlichen Prüfung zu unterziehen, um ein besseres Matching von Unternehmen und Bewerbern zu erzielen. Mit anonymisierten Verfahren ist es auf jeden Fall möglich, eine höhere echte “Objektivität” zu erreichen, als zu den Zeiten, als Entscheider lediglich “der Meinung waren”, möglichst objektiv zu handeln. So können die bisher verwendeten “alten” Veröffentlichungskanäle und -instrumente überprüft und überarbeitet werden.

Quellen, u.a.:

Das Pilotprojekt
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/anonymisierte_bewerbungen/das_pilotprojekt/anonymisierte_bewerbungen_node.html;jsessionid=5DEDD2428CBA924230161A9C20EFDE3B.1_cid340

Leitfaden für Arbeitgebende zum Download
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/AnonymBewerbung/Leitfaden-anonymisierte-bewerbungsverfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Abschlussbericht zum Pilotprojekt zum Download
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/AnonymBewerbung/Abschlussbericht-anonymisierte-bewerbungsverfahren-20120417.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Antidiskriminierunsstelle des Bundes
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/anonymisierte_bewerbungen/anonymisierte_bewerbungen_node.html

Tipps für Unternehmen
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/Beratung/Tipps_fuer_Unternehmen/tipps_fuer_unternehmen_node.html;jsessionid=5DEDD2428CBA924230161A9C20EFDE3B.1_cid340

Leitfaden zum Download
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/Beratung/Tipps_fuer_Unternehmen/Leitfaden/leitfaden_node.html

http://www.zeit.de/karriere/bewerbung/2012-04/ergebnisse-anonyme-bewerbungen/komplettansicht

http://www.sueddeutsche.de/karriere/anonyme-bewerbungen-wenn-sich-personaler-nicht-mehr-fuer-persoenliches-interessieren-1.1289223-2

http://www.sueddeutsche.de/karriere/anonymer-lebenslauf-name-alter-geschlecht-nicht-noetig-1.138291

http://karrierebibel.de/anonyme-bewerbung/

http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/AGG/agg_gleichbehandlungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile

http://www.rechtsindex.de/urteile/gleichbehandlungsgesetz

https://www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html