Herr Kinkel, man könnte meinen, die Wirtschaft hat die Familienfreundlichkeit als neue Geheimwaffe gegen den Fachkräftemangel entdeckt. An welchen Punkten machen Sie fest, dass deutsche Unternehmen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich ernst nehmen?

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Foto von Alesia Kazantceva

Martin Kinkel: Immer mehr Unternehmen machen sich angesichts rückläufiger Bewerbungszahlen darüber Gedanken, wie sie für Bewerber und Mitarbeiter attraktiver werden können. Und da ist natürlich auch das Thema „Familienfreundlichkeit“ von Bedeutung.

Entscheidend ist dabei, dass Familienfreundlichkeit auch wirklich gelebt wird und das Unternehmen transparent macht, welche Angebote es gibt und wie sie umgesetzt werden. Die konkreten Maßnahmen hängen natürlich immer von den jeweiligen Unternehmen, ihrer Größe oder ihrer Organisation ab – und von den Anforderungen der jeweiligen Branche: Im Ladenverkauf im Einzelhandel oder bei der Schichtarbeit ist Gleitzeit kaum umzusetzen, in anderen Bereichen dagegen schon. Lösungen sollten also immer individuell auf die Bedürfnisse der Unternehmen und auch der Angestellten zugeschnitten sein.

Dabei können auch spezielle Zertifizierungen als familienfreundliches Unternehmen helfen: Das Unternehmen erhält in diesem Prozess wertvolle Anregungen für familienfreundliche Maßnahmen, und das Zertifikat zeigt Mitarbeitern und potentiellen Bewerbern, dass das Unternehmen das Thema wirklich ernst nimmt.

Bei Bezeichnungen wie „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ oder „Familienfreundlichkeit im Betrieb“ ist man gedanklich schnell bei Mutterschutz und Elternzeit. Sind die Begriffe nicht zu eng gefasst?

Martin Kinkel: Wir neigen dazu, den Begriff der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ immer in Bezug auf kleine Kinder zu sehen. Dieser Bezug mag zwar wichtig sein, aber er greift zu kurz. Familienfreundlichkeit bedeutet für mich ganz allgemein eine Bezugnahme auf Ereignisse und Aufgaben, die mit der Familie in Zusammenhang stehen. Das können kleine Kinder sein, das kann aber bei Mitarbeitern in den mittleren Jahren auch die Unterstützung bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum in Ballungsräumen oder eine Trennungsberatung sein. Bei älteren Mitarbeitern kann auch die Unterstützung bei der Pflege von Angehörigen ein Thema sein. Unabhängig von den gesetzlichen Vorschriften zeigt sich Familienfreundlichkeit über die gesamte Altersspanne der Mitarbeiter.

Welches sind die wichtigsten Maßnahmen, die ein Unternehmen umsetzen sollte, will es mehr Familienfreundlichkeit schaffen?

Martin Kinkel: In einem ersten Schritt sollte sich das Unternehmen darüber klar werden: Was habe ich für Mitarbeiter? Was haben die für Bedürfnisse? Daran sollte man das Angebot ausrichten. Bei Mitarbeitern mit kleinen Kindern wären das beispielsweise Themen wie Home Office oder Weiterbildungen in der Elternzeit, Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, im Notfall das Kind mal mit zur Arbeit bringen zu können. Bei älteren Mitarbeitern gehen die Wünsche sicherlich eher in den Bereich der Pflegeunterstützung oder in Richtung Gesundheitsmanagement, damit der Mitarbeiter selbst fit bleibt. Letzteres ist zwar kein klassisches Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber natürlich profitiert auch die Familie des Mitarbeiters davon, wenn dieser Krankheiten vorbeugt und sich im Alter mehr Lebensqualität bewahrt.

In einem zweiten Schritt sollte man überlegen: Was ist bei der Größe und Struktur des jeweiligen Unternehmens möglich? Ein Unternehmen mit 20 oder 30 Mitarbeitern kann flexible Arbeitszeiten anbieten, wenn es die Arbeitsorganisation hergibt, benötigt für eine Sozialberatung zu Erziehungsproblemen oder bei der Pflege aber sicherlich externe Partner. Deutlich größere Unternehmen bieten dann auch umfassende betriebsinterne Beratungen.

Welche Bedeutung kommt der Arbeitszeit hinsichtlich Flexibilität, Teilzeit und Arbeitszeitkonten zu?

Martin Kinkel: Das hängt stark vom einzelnen Mitarbeiter und dessen individuellen Bedürfnissen ab. Ich halte es aber für einen ganz wichtigen Punkt, dass Unternehmen für eine gewisse Flexibilität sorgen – sofern diese organisatorisch möglich ist. Denn es kann viel passieren: Das Kind ist plötzlich krank, der Kindergarten ist wegen einer Grippewelle geschlossen oder es wird ein Elternteil pflegebedürftig. Darauf müssen die Angestellten reagieren können.

Schon Gleitzeit kann eine enorme Erleichterung für die Angestellten sein. Auch ein unkomplizierter Wechsel auf Teilzeit und wieder zurück kann sehr hilfreich sein. Das kann auch durch Langfristarbeitszeitkonten ergänzt werden, auf denen Mitarbeiter beispielsweise Überstunden oder nicht genommene Urlaubstage „sparen“ und so ein Guthaben aufbauen, das dann – je nach den Regeln des Arbeitsgebers – eingesetzt werden kann, um Einkommensausfälle in Phasen mit Teilzeit abzufedern.

Aber auch ganz kreative Lösungen sind denkbar: Ich kenne Fälle, da teilen sich zwei Angestellte einen Job. Mit ihrem Vorgesetzten legen sie fest, welche Arbeit erfüllt werden muss, und alles andere – wie sie sich die Aufgaben und Zeit aufteilen – regeln die beiden untereinander. Das funktioniert natürlich nur, wenn ein solches Tandem sich bestens versteht und fair miteinander umgeht, ist dann aber eine tolle Möglichkeit.

Familienfreundlichkeit kann also auch bedeuten, den Mitarbeitern mehr Eigenverantwortung zu übertragen und sie darin zu fördern, selbst kreative Lösungsvorschläge zu entwickeln. Natürlich birgt zunehmende Flexibilität auch das Risiko für den Mitarbeiter, dass er durch die scheinbar dauerhafte Verfügbarkeit nicht mehr richtig abschalten kann und sich dadurch überlastet fühlt. Auch die Regeneration fällt dann stärker in die Eigenverantwortung, wobei verantwortungsbewusste Unternehmen hier auch unterstützend Grenzen setzen und zum Beispiel in bestimmten Zeiten keine betrieblichen Mails zustellen.

Welche finanziellen Zuschüsse sind im Rahmen der Familienfreundlichkeit denkbar?

Martin Kinkel: Als direkte freiwillige Sozialleistung sind zum Beispiel Zahlungen bei der Geburt von Kindern, eine (teilweise) Übernahme von Kinderbetreuungskosten oder auch durch den Arbeitgeber vergünstigte Baukredite möglich.

Dazu kommen freiwillige Ausgaben, die nicht an einzelne Mitarbeiter gehen, sondern um allgemein bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, also unter anderem der Bau eines Betriebskindergartens, das Angebot einer Sozialberatung oder auch Hilfe bei der Vermittlung vom Pflegeplätzen. Und weil bezahlbarer Wohnraum in manchen Regionen knapp ist, nehmen die ersten Unternehmen auch den Betriebswohnungsbau wieder auf die Agenda.

Welche Schritte sind denn gerade für mittlere und kleine Unternehmen sinnvoll, wollen diese ihren Angestellten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern?

Martin Kinkel: Auch für kleinere Unternehmen gilt es, die eigene Arbeitssituation und die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu untersuchen und zum Beispiel Gleitzeit einzuführen. Je größer das Unternehmen ist, umso mehr gibt es junge Eltern oder Menschen, die eine Trennung zu verarbeiten oder ältere Angehörige zu pflegen haben. Bei diesen Themen können sich kleinere und mittlere Unternehmen kompetente Partner suchen und sich so das Fachwissen von extern in den Betrieb holen. Oder sie arbeiten mit anderen Unternehmen oder örtlichen Stellen zusammen und können so auch die Kosten teilen. Auch da gibt es unkonventionelle Lösungen, zum Beispiel eine Kita, die zwei Unternehmen gemeinsam mit der Gemeinde gebaut haben, und alle drei Beteiligten erhalten ein Kontingent an Plätzen zur freien Verfügung.

In der Ausbildung kann – unabhängig von der Unternehmensgröße – die Teilzeitausbildung sehr interessant sein, die sich meist an junge Mütter richtet. Gerade junge Mütter sind in der Regel zum einen sehr organisiert – was sie ja sein müssen, wenn sie kleine Kinder haben – und zum anderen sehr loyal, weil sie ihre Ausbildung auf diese Weise machen können. Und nach der Ausbildung können die Frauen oft als Vollzeitkräfte einsteigen, weil die Kinder größer geworden und schon im Kindergarten oder gar in der Schule sind. In diesem Bereich liegt meiner Meinung nach noch einiges Potential.

 

Zur Person:

Dipl.-Vw. Dipl.-Kfm. Martin Kinkel ist freier Dozent und Autor. Er vermittelt vor allem jüngeren Arbeitnehmern in namhaften Unternehmen Wissen zu den Themen Finanzen und Kommunikation (www.jobmoney.de).