Wer sind wir in unserem Tatendrang?

Immer dann, wenn es um Bedeutsamkeit, Vorteile, Ansehen, Meinungsführerschaft, Verantwortung und Ähnliches geht, zeigt sich, wer zur Rolle des Aggressors oder des Gesteuerten neigt; welcher seinen Part oft damit begründet, dass er Sachzwängen unterliegt oder unterliegen muss. Welche Wege aber weisen aus dieser Opferrolle? Verena Kast legt dazu Begrifflichkeiten offen: Aggression bedeute etwas anzufangen oder in Angriff zu nehmen. Die Intentionalität spiele dabei eine große Rolle, so Kast. Und sie fragt, wie wir damit umgehen, wenn sich uns Dinge in den Weg stellen. Werden wir destruktiv ärgerlich? Werden wir wütend? Wie feindselig werden wir? Allein das bestimmt, ob wir auf den Wegen eines Täters unterwegs sind.  

person using laptop computer beside aloe vera
Foto von Corinne Kutz

Nun ist der Umgang mit Wut eine Typenfrage, dennoch spielen viele Faktoren hinein: Muss sich jemand bei Widerständen dauernd fragen: Wer bin ich denn, dass man mich einfach hindern kann? Oder verliert er leicht den Glauben an eine ihn beflügelnde Idee? Und wie gut kann er spürend anderen Menschen begegnen? Kann er eine Nähe ertragen, in der es gälte, mit anderen Menschen zu verhandeln? Im Falle Blaubarts ist es dem Edelmann nämlich nicht möglich, Nähe zu seinen Frauen zuzulassen, er heiratet sie zwar aus Bedürfnis nach Begegnung, und setzt zur Werbung großen Pomp ein; schafft sie dann aber ab, weil er keine Nähe zulassen kann. Umgekehrt gilt für Blaubarts Opfer: Sie hinterfragen aus mangelndem Selbstwertgefühl die seelische Reife des um sie Werbenden nicht. Sie lassen sich von Status, Rahmenbedingungen und Finanzen blenden. Auch die Damen haben einen gewissen Tatendrang, nutzen aber quasi die Energie Blaubarts und versuchen ihre Ziele – nämlich den gesellschaftlichen Aufstieg über ihn zu erreichen. Auch dieses Verhalten ist im Prinzip nicht korrekt; wiewohl ihr Tod monströs ist. 

Einer der Damen gelingt es, aus der Beziehung auszusteigen. Warum? In der Konfrontation mit dem Aggressor steht sie zu ihren Gefühlen und setzt ihrerseits ihre ganze Person ein, um zu entkommen. Sie trifft eine Entscheidung: Das Destruktive muss aufgelöst werden. Sie wird zur Aggressorin, ohne dabei zur Zerstörerin zu mutieren. 

Die Verführung zur Grandiosität

Es gibt Zeiten, in denen viele Menschen unter einen enormen Systemdruck geraten und zu Opfern von Strukturen werden, weil sie wenig Gestaltungsspielraum haben. Es gibt Gesellschaften, wo mafiöse und kriminelle Strukturen viele Menschen ins Opfersein hineinzwingen. Es gibt Unternehmen, in denen Arbeitsverhalten gnadenlos und topdown per Zahlen diktiert wird. Dann ist laut Verena Kast die Versuchung für viele Menschen groß, sich mit dem Größenwahn von destruktiven Aggressoren zu identifizieren. Die Gestressten gehen in die Grandiositätsfalle. Kast schreibt: „Man muss sich – und mögliche Gesinnungsgenossinnen und Gesinnungsgenossen – idealisieren, um eine solche Entwertung [des Selbstwertgefühls] auszugleichen.“ Mit anderen Worten: Man flüchtet sich in eine Grandiosität, nämlich der Umstände, der eigenen verzweifelten Lage, der mangelnden Möglichkeiten. In besonders anspruchsvollen Situationen neigen Menschen also dazu, ihre Opferrolle vollkommen zu idealisieren. Auch die vermeintliche Macht des Aggressors wird übersteigert und einseitig wahrgenommen. Nach dem Motto. Das ist so mächtig, da können wir nichts tun.

Kast warnt, die Leidenden mit Vorwürfen einzudecken und sie auszugrenzen. Die Psychologin rät diesen Menschen beziehungsweise ihrem Umfeld, fruchtbare aggressive Impulse durch Selbstempathie, beziehungsweise durch Empathie zu finden. Das setzt voraus, dass Gefühle zugelassen werden. Das Gegenbild zu Opfer und Blaubart sieht Kast im Gestalter. Dieser versucht, ein erfülltes, weil für ihn befriedigendes Leben zu leben, er steht in einem guten Kontakt zu sich selbst, versucht seinen Selbstwert nicht an Größenideen oder vermeintlicher Grandiosität aufzuwerten und geht entspannt mit Widerständen um. Oder in den Worten Kasts formuliert: „Statt sich zu bemitleiden, wäre es wichtig, in einer so schwierigen, beschämenden Situation mit sich selbst empathisch zu sein. Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln, sich die ganze Misere dieser Situation ohne Selbstvorwürfe einzugestehen. Dann würden vielleicht Ideen auftauchen, wie man sich aus dieser Opferposition herausbewegen kann.“

Fragen, die helfen

Wer den Eindruck hat, dass er sich in seinem Job in eine Täter-Opfer-Beziehung
verstrickt hat, dem können diese Fragen bei der Reflexion helfen:

>> Bin ich mir gegenüber ehrlich in dem, was mich verwirrt,
     mir Sorgen macht und was ich nicht vermag?
>> Gelingt es mir, im Job dazu zu stehen?
>> Sitzen in mir tiefgehende Schuldgefühle, über die
     ich für meinen Nächsten auch im Job erreichbar bin; obwohl
     diese Schuldgefühle mit meinem Job nichts zu tun haben?
>> Inwiefern wünsche ich mir insgeheim doch eine insgesamt heile Welt,
     von der ich hoffe, dass ich sie doch erleben kann?
>> Gelingt es mir, eine Welt für mich zu leben, in der vieles in Ordnung
     sein kann. Gibt mir meine Welt Kraft, um Destruktion zu ertragen?
>> Für wie mächtig halte ich Menschen, die meiner Welt Form geben?
     Und wo hat ihre vermeintliche Macht Sprünge, Risse und Lücken?
>> Spüre ich mich selbst? Habe ich schon mal versucht, mein Gegenüber
     einfach nur aufmerksam zu beobachten und dabei mich zu fühlen; wobei
     ich seinen Worten scheinbar aufmerksam folge.
>> Welche Assoziationen verbinde ich mit dem Wort „Aggression“?
>> Ist mir wirklich bewusst, dass der Glanz eines anderen Menschen,
     einer Welt oder einer Idee niemals meiner sein kann? Kann ich
     unabhängig von diesem Glanz mich leben?
>> Wie gehe ich mit Widerständen um? Packe ich sofort Schuldgefühle aus
     oder setze ich den anderen Menschen herunter?

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Foto Copyright: Andrea Damm | pixelio.de

„Begegnet man einem bedeutsamen Menschen, ist es viel schwieriger, die eigenen Gefühle und die eigenen Ansichten zu behalten, als wenn jemand nicht so sehr bedeutsam ist.“ Das kann der Beginn einer Beziehung sein, in welcher der eine viel Kraft schöpft und der andere zu viel Kraft verliert, im Schatten der Beziehung bleibt oder sich ganz und gar ausnutzen lässt. Die zitierte Passage stammt aus Verena Kasts Buch „Abschied von der Opferrolle“, erschienen beim Herder Verlag.

Märchen arbeiten mit großen Bildern und Erzählsträngen, um durch drastische Übersteigerung Sachverhalte offenzulegen, die in der Momenthaftigkeit des Alltags für den Einzelnen oft unmerkbar bleiben. Darum der Begriff „Opfer“, darum der Begriff „Täter“. Jeder Mensch ist in seinem Leben unbewusst und bewusst Aggressor und in gleicher Weise ein Gesteuerter; wobei einige Menschen dazu neigen, immer wieder in die Opferrolle zu fallen. Warum das so ist, versucht Verena Kast am zitierten Bild zu zeigen: Eigene Gefühle nicht wahrzunehmen und folglich auch nicht auszudrücken, entfernt uns von uns selbst. Wenn wir gleichzeitig auf einen anderen Menschen hinsehen, der uns besser, kompetenter, eloquenter und charismatischer vorkommt und für dessen Leitung wir unsere eigenen Gedanken und Wünsche zurückstellen, dann laden wir aggressive Menschen zum Tätersein uns gegenüber ein.    

Während der Einzelne sich in der modernen Gesellschaft sehr weit von den Mitmenschen zurückziehen kann, so fordert die Arbeitswelt doch von allen Beschäftigten sehr viel Beziehungsarbeit ein. Und da ist die Frage, wer mit welchem Bewusstsein unterwegs ist. Da geht es nicht nur um den stinkigen und divenhaften Boss, arrogante und innerlich sehr distanzierte Journalisten oder überhebliche Oberärzte. Abseits derart hierarchischer und sozial begründeter Rollenleben gibt es viele Alltagssituationen, wo jeder Mensch sich bewähren können muss. Zum Beispiel in einer Diskussionsrunde um Frauenquoten. Da sitzen vielleicht Kollegen zusammen, die mit Halbwissen, aber mit großer Rhetorik abfällig über das Thema reden. Und weil der Betrieb vielleicht wirklich viele Hascherln beschäftigt und eine selbstbewusste Angestellte sich mit diesen aber nicht gleichstellen lassen möchte, pflichtet sie der Gruppe bei. Faktisch identifiziert sie sich mit den Angreifern, um in der Situation gut da zu stehen.