Die Stunde der Systemhacker

five black rolling chars front of desk
Foto von Brusk Dede

Und während Unternehmensberatungen wie Accenture Unternehmern von möglichen satten Gewinnen aus Jobautomationen vorschwärmen und die Digitalisierung tatsächlich schon weltweit Jobs kostet – zum Beispiel bei Hostessen, Übersetzern, Architekturvisualisierern, Druckereimitarbeitern – geht derzeit ein Dokumentarfilm über die positiven Chancen alternativer Arbeit auf bundesweite Tour in Deutschland, der über die Crowdfunding-Plattform startnext.de und durch verschiedene Firmen wie der Haufe Gruppe und von Rundstedt finanziert wurde.

Der bezeichnende Titel des Werkes: „Auf Augenhöhe“. Die Regisseure haben kein nett gemachtes PR-Movie à la Hochglanz-Arbeitgebervideo abgeliefert. Und es kommen einmal nicht die immer gleichen Köpfe der HR-Branche zu Wort. Oder doch: Thomas Sattelberger, jedoch nur kurz. Und Unilever und Adidas – aber ebenfalls kurz und nicht mit den üblichen glatten Jubelmeldungen.

„Auf Augenhöhe“ nimmt als einer von wenigen Filmen seiner Art das Ganze am Wirtschaftskörper „Unternehmen“ unter die Lupe: Keine Siloperspektiven. Keine Pauschalantworten. Kein gut gemeinter Expertenrat. Gezeigt wird, dass Firmen Geflechten und keinen Schubladensysteme gleichen. Und er zeigt, wie in solchen Geflechten Wirtschaften auf eine gesunde Weise möglich wird. Das Filmteam hat sechs Firmen völlig verschiedener Couleur besucht und überliefert ihre Erfahrungen, Aha-Momente, Schlüsselerlebnisse und Eindrücke, die sie auf ihren Wegen gesammelt haben, die von klassischen neoliberalen Wirtschaftskonzepten und Personalführungen abweichen.

                       Die auftretenden Firmen:
               hhpberlin (Brandschutz) | sysTelios (Gesundheit) |
                                Premium Cola (Getränke) |
                           allsafe JUNGFALK (Ladegut-Sicherung) |
                                  Unilever (Konsum) | adidas (Sport)

Der Film zeigt Suchende, die das Wirtschaften und Zusammenleben im Job fundamental in Frage gestellt haben und dies noch tun. Sie alle haben sich im Kopf frei gemacht, Denkblockaden gelöst, um Dinge mit frischen Augen zu sehen, anders zu leben und um zusammenzurücken.  

Auf so genannter Augenhöhe haben sie zuerst einmal Verhältnisse geklärt: Zu ihren Kunden, zu sich selbst, zu ihren Lieferanten, zu Kollegen und zu ihren Produkten, mit denen sie versuchen, Probleme zu lösen. Verhältnisse zu klären bedeutet, auf einzelne Personen und Parteien zuzugehen und in Dialog mit ihnen zu kommen. Augenhöhe ist nämlich nur in der Begegnung möglich, alles andere bleibt oft Abfertigung. Durch die Begegnungen werden Kräfte freigesetzt; also Meinungen, Ärger, Enttäuschungen, Unterstützung, Stärke, Wissen, Verständnis, Erfahrungen, Ideen und vieles mehr. Die Fülle der so ausgelösten Impulse forderte von allen im Film Gezeigten, dass sie sich selbst positionieren: Mitarbeiter finden heraus, was sie selbst möchten und was sie wirklich können. Führungskräfte finden heraus, was sie zu geben vermögen und wie sie ihren Kollegen einen sozialen Spielraum eröffnen können. Und dieser Spielraum ist ein Lernraum – jeden Tag und jeden Monat.

Schlüsselsätze aus dem Film | Finanzierung

„Man muss Banken erziehen. Nicht: Ihr habt weniger Umsatz erwirtschaftet, 
sondern wir haben in Mitarbeiter investiert. Es geht um agile Finanzplanung.“ | 
„Okey, Du Bank bist nicht flexibel, dann geh woanders hin.“ | Die Bank ist 
nicht flexibel genug, unseren Denkmodellen zu folgen. Darum mehr 
Eigenkapital statt Fremdkapital.“ (hhpberlin)

Erst nach diesen Prozessen geht es um das liebe Geld. Bezeichnend für den Film ist es, dass die gezeigten Firmen bildlich gesprochen ihre Netze nicht in den Wind hängen. Die meisten von ihnen arbeiten mit Produkten, die sie erzeugen und verkaufen und die für die Gesellschaft entweder absolut notwendig sind oder mit denen sie nachhaltige Produkte erhalten. Allerdings bewegen sie sich in Märkten, in denen es sich nicht leicht wirtschaften lässt. Die Getränkebranche, in der sich Premium Cola behauptet, ist für teils mafiahafte Zustände bekannt. Die Gesundheitsbranche, auf der das Klinikgeschäft von sysTelios basiert, ist überschattet vom allgegenwärtigen Kostendruck. Allsafe JUNGFALK muss sich in einem Feld bewähren, in dem es um Schnelligkeit und Preishoheiten geht. Der Brandschutzanbieter hhpberlin hat weltweit ordentlich Konkurrenz und die beiden Riesen Unilever und adidas müssen als Konzerne ihre ganz eigenen Herausforderungen bewältigen.Dennoch sind alle sechs Unternehmen in andere Zeiten aufgebrochen, die kleinen Unternehmen vor allem durch learning by doing. Keine Berater, keine Experten, sondern Selbsterfahrung.

Überraschend und doch offensichtlich wird an diesem Film klar, dass modernes Arbeiten von jedem Mitarbeiter zwingend eine Wirtschaftskompetenz erfordert. Nicht nach Gutdünken eines Professors XY, sondern durch eigene Auseinandersetzung mit der eigenen Branche und dem zugehörigen Umfeld. Die einfachen Erklärungsmodelle haben angesichts von Komplexitäten ausgedient und es gibt so viele Wahrheiten darüber, wie Wirtschaft funktioniert, wie es Geschäfte und Menschen gibt. Es ist Thomas Sattelbeger, der im Film anmerkt, dass die Diversität von Unternehmen nie schwinden wird. In Zeiten der Automation ist das ein großer Satz.  

Schlüsselsätze aus dem Film | Selbstbestimmung

„Am Ende kommen die Leute mit Ideen und fragen, ist das 
in den Leitplanken (des Betriebes)? Ist das möglich?“ (hhpberlin)

„Ich finde es schlau, mit vielen Jobs, vielen Partnern und vielen 
Geldern für den eigenen Horizont ausgestattet zu sein.“ (Premium Cola) 

„Ich hab einen Job, den kann ich überall hin mitnehmen. 
Wo will ich eigentlich hin?“ (Premium Cola)

„Man kommt hinter den Maßstab dessen, was man 
erlebt hat, schwer zurück.“ (sysTelios)

Diversität zeigt sich auch im Film: Alle sechs Firmen sind völlig unterschiedliche Wege gegangen. Während Premium Cola in der Gesamtheit aus Mitarbeitern, Lieferanten, Partnern, Kunden und anderen Beteiligten das Ganze seines Unternehmens sieht und entsprechend Großgruppenmoderationen mit allen quasi in einem Kollektiv organisiert, hat das Brandschutzunternehmen hhpberlin eine komplexe Talent- und Lösungskompetenzmatrix entwickelt, das als Regelsatzbuch allen Beschäftigten als Leitplankensystem für ihre Arbeit dient. Gemeinsam ist allen Gezeigten, dass sie sich im Kopf grundsätzlich von bestimmten Denkmustern verabschiedet haben und an Prinzipien festhalten. Damit erzeugen sie Konstanz bei aller agiler Unternehmensführung. Und sie haben verstanden, dass sie vieles nur durch Einzelgespräche lösen können. Verschanzen hinter der vermeintlichen Anonymität des Webs, der Technik, einer Systemstruktur oder einer bürgerlichen Abgeklärtheit – das wird in diesen Beispielfirmen sehr schwierig. Die Wirklichkeit ist hier einen Steinwurf entfernt. Wirtschaft bedeutet in diesen Betrieben, kräftig zu leben: Sei Du selbst, sei nützlich, sei interessiert, beute nicht aufs Geradewohl aus und geh wirklich auf andere ein – das sind die Losungen für die künftige Arbeitswelt.


Schlüsselsätze aus dem Film | Planung

 „Wenn ich 100 Mitarbeiter habe, dann denk ich 
so, als hätte ich tausend.“ (hhpberlin)

„Es kommt auf den Einzelfall drauf an, was der Mitarbeiter 
erfüllen kann und was nicht.“ (allsafe JUNGFALK) 

„Es wird gefragt (zu unserer Familienfreundlichkeit): Was bietet Ihr? 
Und wir sagen: Was brauchst Du denn? Da kommt meist ein einziger 
Punkt raus und den kann man erfüllen.“ (hhpberlin)

So viel dieser Film ausleuchtet, so hat er notwendigerweise aufgrund der gewählten Perspektive auch tote Winkel. Und diese bestehen aus Fragen, die nicht gestellt wurden: Wie können all jene sich in den neuen Welten involvieren, die gar keinen persönlichen Zugang zum Internet gefunden haben. Das betrifft Millionen Menschen in Deutschland. Was wird aus der Einbindung von behinderten Menschen, wer denkt an sie, wenn alle um einen Platz in einem Netzwerk ringen? Was wird aus der Bevölkerung in Ghana oder in Turkmenistan, wenn sich die moderne Gesellschaft in vereinzelte Netzwerke in den Lebensraum „Internet“ verabschiedet? Wie soll im Clusterland Europa für Kranke, Schwache und Arme gesorgt werden? Birgt die Offline-Welt lauter Weltschrott, den die Online-Welt produziert und sich davor in ihre vier Wände zurück zieht und sich per Internet gegenseitig Geld hin- und her überweist? Wie gelingt der digitalen Welt, Milliarden Menschen Brot zu ermöglichen? 

Schlüsselsätze aus dem Film | Macht

„Wenn eine Haltung entstanden ist des respektvollen Miteinanders und 
die Interessen des anderen wahrzunehmen, zu hören und mit einzuarbeiten 
in Deine Lösung – das kriegst Du kaum kaputt.“ (hhpberlin)

„Wenn jemand eine Kontrollinstanz hinter sich hat, wird er seine Arbeit 
nicht so gut machen. Denn es gibt ja noch einen, der kontrollieren muss.“ (allsafe JUNGFALK)

„Therapeutische Enthaltsamkeit auch auf der organisatorischen Ebene denken. 
Damit macht man einen Raum frei, der Wachstum ermöglicht.“ (sysTelios)

„Man kann sich nicht hinter einer Sie-Kultur verstecken. Ich erwarte von 
jeder Führungskraft, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihrer 
Argumente die Mitarbeiter erreicht.“ (Unilever)

„Wie soll man in die Gesetzgebung positives Denken, Vertrauen und 
Ressourcenorientierung reinbringen?“ (sysTelios)

„Die großen Unternehmen tun sich schwer, ihre Arbeitswelt der
Komplexität anzupassen, die aus der Umwelt auf sie zuströmt.”
(Sattelberger)

AUGENHÖHE JETZT ANSEHEN

Film auf Vimeo verfügbar. Der Film ist lizensiert unter
einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell
 

https://vimeo.com/118219210

Unter info@hrm.de bitte melden, wenn Filmlink
nicht mehr aktiv sein sollte. Wir posten dann einen anderen.

VERANSTALTUNGSHINWEISE

Der Film läuft auf der PERSONAL2015 Nord am 7. Mai um
16:40 Uhr im Forum 1, Diskussion im Anschluss möglich. 

Auf der PERSONAL2015 Süd läuft er um 16:40 Uhr im
Forum 4.

Themenspecial “New Work”
Programm ansehen

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(sh) | 

Copyright Fotos:

1) “Auf Augenhöhe
2) Lupo | pixelio.de
3) Tim Reckmann | pixelio.de

Der Film und seine Zeit

Als Holm Friebe im Juni 2014 im Xing-Magazin „Spielraum“ seine Serie über Arbeitsformen der Zukunft startete und dazu über die Selbstverständnisse all jener philosophierte, welche Trendforscher zur Generation Y zählen, bekam er dazu durchwachsene Kritiken. User „Ray“ schrieb, er halte den Aufsatz für „intellektuell wenig durchdringend“. Und begründete: „Arbeitsverhältnisse sind auch Machtverhältnisse. Es geht vor allem ums Geld, und wenn IBM plant, so viele Mitarbeiter wie möglich aus ihren Angestelltenverhältnissen zu entlassen und zu frei verfügbaren Mitarbeitern zu machen, dann bedeutet das für den Konzern Kosteneinsparungen. Jeder Gang zur Toilette, jedes Gespräch, jede Besprechung, jeder Schluck Kaffee, jeder Blick aus dem Fenster, der den Angestellten bezahlt wird, wird den Freien eben nicht bezahlt. Was nicht so schlimm wäre, wenn das Ergebnis nicht immer mehr Niedriglöhne auch für Wissensarbeiter wären“.

Auf welche Info bezog sich User „Ray“? Tatsächlich hatte das Magazin „DER SPIEGEL“ unter anderem in 2012 über großdimensionierte Abbauplanungen des IBM-Konzerns für  8.000 seiner Festangestellten berichtet („Frei schwebend in der Wolke“). Da war die Rede davon gewesen, dass Personen künftig als freie Mitarbeiter weltweit für die Arbeit bei IBM lizensiert werden könnten, auf eigene Kosten auf IBM-Weiterbildungen gehen und sich so per Netzwerk führen ließen. Kein Wunder also, wenn aufgrund dieser und weiterer solcher Meldungen viele Erwerbstätige und Personaler mit dem Schlagwort von der schönen neuen Arbeitswelt in erster Linie Zersplitterung von Arbeitsmärkten und maximale Unsicherheit verbinden. Da kommt zumeist wenig Freude auf. Vor allem, wenn New Work-Missionare ausrufen, wer sich nicht öffne, der stehe am Abstellgleis. Der Menschenverstand weiß: Das alles grenzt – betrieben im großen Stil – an Chaos. Und kein Wunder ebenso – das sagt auch der Menschenverstand, dass manche old boys aus den Florazeiten der schönen alten Marktderegulierung mit neuen Arbeitswelten eine konsequente und bequeme Fortführung ihrer Prinzipien durch Technologien verbinden. Als nettes Aushängeschild für ihre Sparideen führen viele solcher freien radikalen Manager gerne die Träume, Hoffnungen und Gepflogenheiten der jungen Generationen ins Feld. Eine tiefere Beziehung unterhalb oberflächlicher Kommerzinteressen gehen viele Manager mit der Jugend nicht ein.

Fazit

Aufsehen erregend neu sind viele der vom Film transportierten Erfahrungswerte natürlich nicht. Aber abseits des von vielen Wirtschaftspsychologen und Softwarefirmen aggressiv betriebenen Big Data-Hypes lässt das Werk die Stimme der Vernunft sprechen, ausgehend von Erfahrungen. Das zeigt auch, dass ausgehend von den präsentierten Beispielen vieles von der künftigen Welt bereits jetzt schon in anderen Firmen bundesweit gelebt wird. Das Neue lässt sich also schrittweise anschließen. Aber das Neue heißt nicht einfach: Kick dem Mitarbeiter sein Fixverhältnis. Hurra, wir dürfen daheim arbeiten. Oder: Mein Boss sagt mir auch mal „Guten Tag“. Neu heißt, Business fundamental anders zu denken.

Sicher: Die so genannte neue Welt kann der absolute Albtraum werden. So wie das Atomzeitalter viel von Japan zerstört hat und deregulierte Märkte der 1990er Jahre tausende Amerikaner ihr Zuhause gekostet haben. Die geschäftstüchtigen Totengräber ließen nicht auf sich warten. Doch es gibt bei allem Schatten auch Lichtseiten. Nur: Keine Notwendigkeit wird jemanden dazu zwingen, vernünftig zu sein. Das kann nur der entschiedene Wille des Einzelnen. Pfusch aus Bequemlichkeit ist immer leicht. Doch sind irgendwann selbst große Schäden an Gesellschaften auch nicht mehr sozialisierbar. Und bei aller grassierenden Unsicherheit machen Leute irgendwann aus der Not eine Tugend. Und dafür greifen sie dann vielleicht auch nicht mehr auf Flaggschiffe wie IBM zurück. Übrigens: Wer hat Ende der 1990er Jahre eigentlich gesagt, dass Atomstrom ohne Alternative ist. Und was haben wir jetzt?