Es gibt den Spruch „Kommunikation ist alles!“ Stimmen Sie zu?

Prof. Harnischfeger: Eine Botschaft kommt nur dann an, wenn sie professionell kommuniziert wird. Ein Buch, das keiner liest, ist nicht erschienen, ein Anliegen, das keiner kommuniziert, wird nicht Realität.

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Foto von Dylan Gillis

Also stimmt es?

Prof. Harnischfeger: Es stimmt.

Herr Prof. Schulz: Wenn Sie mit dem Orchester auftreten, kommunizieren Sie auf vielfältige Weise. Was sind für Sie die wirksamsten Kommunikationskanäle?

Prof. Schulz: Die wirksamsten sind nicht die verbalen und auch nicht die rein gestischen. Der Dirigent kommuniziert vor allem durch seine Persönlichkeit, also die Art, wie ihn die Orchestermitglieder wahrnehmen. Die Musiker spüren sehr genau, ob das, was ich sage oder zeige, auch meinem tiefsten Innern entspricht. Insofern geht es nicht um verbal oder nonverbal, sondern um authentisch oder nicht.

Die Zeichensprache, die Sie benutzen – ist die generell gültig oder ist das ihre ureigene, die Sie dann mit den Musikern einstudieren?

Prof. Schulz: Sie ist eigentlich allgemeinverständlich. Es gibt schon Unterschiede in der Reaktionsweise einzelner Orchester, aber die bewegen sich im Feinbereich. Doch auch völlig unkonventionelle Zeichengebungen können zum Ziel führen. Vielleicht werden sie nicht gleich verstanden. Aber dazu sind ja die Proben da, um die Kommunikation auszubalancieren, um einander zu verstehen.

Beim Dirigieren läuft ohne eine besondere Begabung vermutlich wenig, oder?

Prof. Schulz: Der entscheidende Punkt ist: Wie schaffe ich es, die Musiker in den Bann dessen zu ziehen, was ich vorhabe? Dabei ist eine gute Technik bestimmt hilfreich, aber es gibt berühmte Dirigenten, von denen die Orchester sagen: „Die Dirigiertechnik ist nicht toll, aber was er macht, ist so überzeugend, dass wir ihm gerne folgen.“ Also auf die Überzeugungskraft kommt es an.

Ist Führen eine Kunst oder ist es ein Handwerk, das ich erlernen kann?

Prof. Harnischfeger: Während Führungstechniken durch Seminare oder Weiterbildung vermittelbar sind, kann niemand den Wesenskern von Führung lernen. Der ist entweder in der eigenen Persönlichkeit bereits angelegt oder muss durch praktische Erfahrungen entwickelt werden. Auch durch Erfahrungen negativer Art – das berühmte Ins-kalte-Wasser-springen und Zurechtkommen.

Grundsätzlich gilt, je höher die Hierarchiestufe desto grösser der Anteil an weichen Faktoren. Statt Betriebswirtschaft und Fachwissen ist zunehmend Psychologie und Kommunikation gefragt. Darauf sind viele Fachleute nicht vorbereitet. Und während in Mittelstands- und Kleinunternehmen Führung überschaubar und leichter anzueignen ist, ist es in Grossorganisationen ausgesprochen schwierig, dieses typisch Unternehmerische, was auch etwas Menschliches beinhaltet, herauszubilden.

Neuere Management-Theorien und Vordenker plädieren für eine Abkehr vom Prinzip Herrschaft und Kontrolle. Welchen Stellenwert messen Sie hierarchischen Strukturen bei? Gerade ein Orchester braucht doch Disziplin und „unbedingten Gehorsam“?

Prof. Schulz: Tatsächlich gibt es ja Ensembles wie das Orpheus Chamber Orchestra, die ihre Programme ohne Dirigenten einstudieren und aufführen, die es also ohne diese Hierarchie versuchen. Die fehlende Führung wird jedoch, jedenfalls nach meiner Beobachtung, auf mehr oder weniger komplizierte Art kompensiert und delegiert. So werden innerhalb des Orchesters vier, fünf, sechs Leute bestimmt, sozusagen ein Komitee, das sich künstlerisch mit dem Werk zu befassen hat und dann die Proben leitet. Denn zunächst geht es ja um das technische Zustandekommen, das Organisieren und Kontrollieren. Ganz banal: Einer muss ja sagen: „Wir fangen bei F an.“ Aus meiner Sicht ist Führung bereits aus Gründen der zeitlichen Ökonomie angebracht. Und es hat einfach mehr Stringenz, einen höheren Wirkungsgrad, wenn die Führung ganz klar und auf eine Person konzentriert ist.

Glauben Sie, dass Führung auch im Zeitalter von Netzwerken und Kollaboration unverzichtbar ist?

Prof. Harnischfeger: Da gibt es immer wieder Moden – auch in der Führungsfrage. Es ist aber möglich und notwendig, Hierarchien zu minimieren. Denn großen Organisationen droht immer das Dinosaurier-Problem – ein Aussterben durch schiere Grösse und Unbeweglichkeit. Es steht aber nicht im Gegensatz dazu, Führung im Sinne einer Vorgabe und Vorstellung der Gesamtkonzeption wahrzunehmen.

Was meinen Sie genau damit?

Prof. Harnischfeger: Ich denke da an einen Vorstandsvorsitzenden, der für sich selbst das postheroische Management propagiert hat und als Primus inter pares innerhalb von Teams und Netzwerken wirken wollte. Er hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen nach Führung sehnen. Denn in dem Moment, als sein Aufstieg an die Spitze bekannt wurde, haben ihn die Leute anders angeschaut und behandelt. Jede Mimik, jede kleine Verhaltensweise, jeder Scherz, den er gemacht hat, wurden plötzlich interpretiert. Genau wie Prof. Schulz vom Dirigieren sagt: „Jetzt stehen Sie hier vorn, jetzt werden Sie auch wahrgenommen.“

Prof. Schulz: Und dann hat alles Konsequenzen, was du machst…..

Prof. Harnischfeger: Insofern heisst die Schlussfolgerung wahrscheinlich, wir kommen nicht darum herum, dass bestimmte Menschen eine Führungsrolle einnehmen.

Es gibt bereits unzählige Workshops zur Aus- und Weiterbildung von Führungskräften Die Angebote werden dabei immer ausgefallener. Ist „Dirigieren & Führen“ ein weiteres exotisches Angebot im bunten Reigen der Seminare?

Prof. Harnischfeger: Es gibt tausende von Führungsseminaren in dieser Republik und der Verdacht liegt nah, dass es bei vielen nur ums Geld verdienen geht. Wir haben unser Konzept aber ernsthaft erarbeitet und theoretisch durchdrungen. Und wir versprechen keine Wunderwirkungen. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, einen Vertriebsleiter zu uns zu schicken, der im dritten Quartal mehr Umsatz und Ergebnis machen soll. Stattdessen machen die Teilnehmer im Rahmen unserer kleinen Seminare, in denen nur acht bis zwölf Leute zusammen sind, eine intensive Selbsterfahrung auf einem ihnen völlig fremden Gebiet. Diese kontemplative Seite geht bei unserem Konzertevent, das mehr Entertainment-Charakter hat, natürlich verloren. Aber einmal ein ganzes Orchester vor sich zu haben ist in jedem Fall ein besonderes Erlebnis. Insofern beinhaltet unser Konzept auch etwas Spielerisches, ein Element der Leichtigkeit fernab von dumpfer Pädagogik.

Prof. Schulz: Wenn die Seminarteilnehmer vor dem Orchester stehen, kommen sie irgendwann an den Punkt, an dem sie zwangsläufig mit ihrem eigenen Führen konfrontiert werden. Weil das Orchester eins zu eins und umgehend zurückgibt, was sie einbringen. Die Teilnehmer begeben sich ja auf unbekanntes Terrain und sind dadurch latent verunsichert. Aus natürlichem Reflex halten sie sich zunächst am vertrauten Gerüst fest. Doch irgendwann lassen sie los und in diesem Moment ist es unsere Aufgabe, ihnen neue Möglichkeiten aufzuzeigen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Prof. Schulz: Wenn jemand sehr rigide ist, sage ich zum Beispiel: „Sie möchten die Musiker mitnehmen. Machen Sie doch mal eine einladende Bewegung.“ Und wenn der Teilnehmer das umsetzt, bekommt er sofort ein Feedback; es klingt anders, das Orchester. Das bestärkt ihn darin, sich von den alten Strukturen zu lösen. Denn ich bin überzeugt, wenn jemand rigide vor dem Orchester steht, dann führt er auch rigide. Und hat wahrscheinlich jahrelange Erfahrung mit allen Vor-, aber auch vielen Nachteilen dieses Führungsstils. Der Moment, in dem ihm das bewusst wird und er merkt, was passiert, wenn er es ändert, ist ein sehr berührender Moment. Das ist eindeutig ein Vorteil dieser Art von Veranstaltung. Alles hat mit Erleben zu tun, mit sinnlicher Wahrnehmung. Und die sitzt tiefer als abstrakt Wahrgenommenes.“

Wie weit trägt eigentlich der Vergleich Ensemble – Belegschaft? Beim Orchester ist naturgemäss viel Leidenschaft im Spiel. In Wirtschaftsunternehmen mit weniger emotionalen Produkten ist ein solches Engagement nicht im gleichen Mass zu erwarten. Hat es der „Dirigent“ dort nicht ungleich schwerer?

Prof. Schulz: Nur wenn es gelingt, dass die Mitarbeiter eine Leidenschaft für das entwickeln, was sie tun, sind sie bereit, sich über das Normalmass hinaus zu engagieren. Genau das unterscheidet erfolgreiche von weniger erfolgreichen Unternehmen. Bei den Orchestern ist das nicht anders. Weil wir es mit einem emotionsgeladenen Produkt zu tun haben, gehen wir mit den Emotionen sehr bewusst und klug um. Das dann auf die Führung von Mitarbeitern in einem Unternehmen übertragen zu können, gehört zu den Learnings von „Dirigieren & Führen“.

Herr Prof. Schulz, sind Sie eigentlich auch ein Personalmanager? Das heisst, wirken Sie darauf ein, wer demnächst die erste Geige spielt?

Prof. Schulz: Nein. Das ist ein struktureller Unterschied. Als Dirigent treffe ich auf ein in sich geschlossenes Unternehmen, eine Einheit. Das Orchester bestimmt seine Mitarbeiter völlig autonom. Ich habe keinen Einfluss darauf, wie es sich zusammensetzt, wer spielt oder wer gerade frei hat. Und es käme einer Katastrophe gleich, wenn ich sagen würde, Sie machen auf mich einen guten Eindruck, nehmen Sie doch diesen Platz ein. Das Orchester entscheidet nach einem strengen Auswahlverfahren, ob jemand genommen wird oder nicht. Und das lassen die sich auch nicht nehmen, auch nicht die Berliner Philharmoniker von Karajan. Es war ein Riesenkonflikt, als der einmal eine Klarinettistin als Solo-Bläserin haben wollte.

Prof. Harnischfeger: Das ist ein Sektor, der nun gar nicht vergleichbar ist, weil der Dirigent nicht der alles umfassende Chef des Orchesters mit disziplinarischer Verantwortung ist. Dafür gibt’s den Orchestervorstand, den Intendanten und so weiter.

Prof. Schulz: In dem Moment, in dem ich vor dem Orchester stehe, habe ich im operativen Bereich eine absolute Vollmacht, die wahrscheinlich wenige Führer und Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft jemals haben. Aber was Beförderungen, Versetzungen oder disziplinarische Massnahmen betrifft, habe ich viel weniger Einflussmöglichkeiten als jede andere Führungskraft.

Vielleicht ein bisschen wie ein Interimsmanager, der bereits eine Struktur vorfindet?

Prof. Schulz: Ja, ja.

Prof. Harnischfeger (lacht): Chef auf Zeit.

Wie haben Sie zwei sich gefunden?

Prof. Schulz: Bei einer Veranstaltung, in der eine Handvoll Führungskräfte von DHL einmal schnuppern wollten, was es bedeutet, ein Orchester zu dirigieren, vor einem Orchester zu stehen.

Prof. Harnischfeger: Das Unternehmen hat einen Kongress in Berlin veranstaltet. An einem Nachmittag war Socialising angesetzt nach dem Motto: „Jetzt gehen wir aus der Arbeitsatmosphäre heraus und lernen uns als Menschen kennen.“ Die einen haben sich für einen Besuch der Museumsinsel entschieden, andere für ein Sozialprojekt im Wedding. Insgesamt gab es sieben Möglichkeiten, darunter das Projekt „Wir dirigieren ein Orchester“ – ganz ohne jeglichen Hintersinn. Bei dieser Spass-Veranstaltung haben wir uns kennengelernt und erkannt „Moment mal, da steckt ja mehr dahinter.“

Wie ist das für die Musiker: Machen die gerne mit oder sind Sie nur sehr schwer für diese eigenartigen Termine zu gewinnen?

Prof. Schulz: Die Befürchtung hatten wir zu Anfang auch. Aber es ist Gott sei Dank so, dass die Musiker auch beschwingt rausgehen und sagen „Mensch, das war ja mal etwas ganz anderes.“ Sonst haben sie ja nur mit mehr oder weniger professionellen Dirigenten zu tun. Jetzt erfahren sie, wie sie in einer völlig ungewohnten Situation reagieren. Das ist für sie auch ein Erlebnis.

Prof. Harnischfeger: Und viele Leute in dieser Welt teilen ja die klassischen Vorurteile über Manager – das sind diese unmöglichen Leute, die unverschämt viel Geld verdienen. Dann stehen die vor ihnen in Fleisch und Blut, ganz armselige Würstchen wie alle anderen auch, sind menschlich erlebbar und angreifbar.

Interview: Petra Jauch

Weitere Informationen: www.dirigierenundfuehren.com