Was meinen wir mit Purpose?

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Foto von bruce mars

Das Thema Purpose oder Sinn begegnet uns in Unternehmen in zwei unterschiedlichen Bedeutungen: Sinn hat sowohl eine sachlich-inhaltliche, als auch eine emotionale Dimension. Sinn ist einerseits das ultimative Ziel, das angestrebt wird, und andererseits Energiegeber und Motivationstreiber.

Beide Dimensionen sind in Purpose Driven Organizations gleichermaßen relevant.

So dient Sinn oder Purpose in Purpose Driven Organizations als Leitstern für vielfältigste Entscheidungen, die Mitarbeiter überall in der Organisation treffen können, da sie weitgehende Entscheidungsfreiräume haben.

Bedürfnis nach Sinn

Die emotionale Dimension hat sich zu einem bedeutenden Faktor auf dem Arbeitsmarkt entwickelt. Das Bedürfnis nach Sinn in und durch die Arbeit steigt. Eine weltweite Studie von imperative.com und LinkedIn zeigt, dass weltweit 37 Prozent der auf LinkedIn vernetzten Arbeitnehmer purposeorientiert waren. Sie sehen Sinn als ihre primäre Motivationsquelle im Job – in Abgrenzung zu Menschen, die in der Arbeit primär Einkommen oder sozialen Status und Aufstieg anstreben. In den USA liegt der Anteil der Purposeorientierten bei 40 Prozent, in Deutschland und den Niederlanden sogar bei 50 Prozent. Spitzenreiter war Schweden mit 53 Prozent Purposeorientierten (LinkedIn/Imperative 2016, S. 13). Imperative und LinkedIn gehen daher davon aus, dass Sinnorientierung für Unternehmen zunehmend zu einem Wettbewerbs- und Differenzierungsfaktor im Recruiting von Talenten wird – und Unternehmen diese Entwicklungen daher nicht ignorieren sollten (Imperative/LinkedIn 2016, S. 3).

Purpose sorgt für mehr Leistung

Ein zweiter Grund für Unternehmen, auf Sinn zu setzen, ist, dass er für mehr Leistung sorgt. Der in den USA lehrende Managementprofessor Morton Hansen hat herausgefunden, dass Purpose oder Sinnorientierung wesentlich wichtiger für Leistung und Erfolg ist, als Leidenschaft und Begeisterung (Hansen 2018a, S. 88 ff.). In einem mehrjährigen Forschungsprogramm hat Hansen untersucht, welche Faktoren Spitzenleistende von anderen unterscheiden – mit teilweise überraschenden empirischen Befunden.

Anders als angenommen, ist nicht die Begeisterung für die eigene Arbeit (Passion) entscheidend für den Erfolg. Die Studie zeigt, dass Menschen, die ihrem Purpose folgen, eine noch bessere Leistung zustande bringen und noch erfolgreicher sind. Die höchsten Werte erreichen diejenigen, die Passion und Purpose miteinander verknüpfen. In der gesamten Studie zeigt sich die Verknüpfung von Purpose und Passion als zweitgrößter Leistungshebel von Menschen. Lediglich die Fokussierung auf weniges und dieses dann obsessiv zu betreiben („Do less, then obsess“) hat einen noch stärkeren Effekt.

Dass sinnorientierte Mitarbeiter produktiver und erfolgreicher sind, bestätigen auch interne Untersuchungen von LinkedIn, die ergaben, dass die Sinnorientierten unter den LinkedIn-Beschäftigten ein höheres Engagement zeigen und ihre Arbeit als erfüllender erleben. Sie übertreffen vergleichbare, aber weniger purposeorientierte Beschäftigte in jeder gemessenen Dimension, von der Bindungsdauer ans Unternehmen bis zu Führungsfähigkeiten (Imperative/LinkedIn 2016, S. 3). Ähnliches ergab eine repräsentative Studie für den US-Markt im Jahr 2015, die zeigte, dass sinnorientierte Beschäftigte ein um 64 Prozent höheres Maß an Erfüllung im Job erleben. Auch ist es um 50 Prozent wahrscheinlicher, dass sie Führungspositionen übernehmen, und um 47 Prozent wahrscheinlicher, dass sie ihre Arbeitgeber aktiv promoten (Imperative/LinkedIn 2016, S. 15).

Purpose Driven Organizations leisten mehr

In der Studie „People on a mission“ untersuchte das Korn Ferry Institute Purpose Driven Organizations aus der US-Konsumgüterbranche, die ihren Purpose und ihre Kernwerte definiert haben und sie in ihrem operativen Geschäft erkennbar integrieren und leben (Korn Ferry Institute 2016a). Dabei zeigte sich, dass diese Unternehmen in den Jahren 2011 bis 2015 viermal so schnell wuchsen wie ihre Mitbewerber derselben Branche.

Während sich in vergleichbaren Unternehmen lediglich 32 Prozent der Mitarbeitenden als engagiert bezeichneten, waren es in den Purpose Driven Organizations mehr als 90 Prozent. Zudem erklärten die Unternehmen, dass ihnen der Purpose helfe, Mitarbeiter zu rekrutieren und zu binden, neue Kunden zu gewinnen, bestehende Kunden zu binden und positive Beiträge für die Gesellschaft zu leisten.

Ein deutsches Beispiel, wie Purpose den Unternehmenserfolg und die Mitarbeiterzufriedenheit drastisch verbessern kann, ist die Firma Upstalsboom, die in Norddeutschland zehn Hotels und mehr als 600 Ferienwohnungen betreibt. Nach dem Schock, den das miserable Ergebnis einer Mitarbeiterumfrage vor zehn Jahren Geschäftsführer Bodo Janssen verpasst hat, zog dieser sich über anderthalb Jahre immer wieder in ein Kloster zurück, um an einer Lösung für die eklatante Mitarbeiterunzufriedenheit zu arbeiten. Durch die Entdeckung seines eigenen Purpose und die Einladung aller Führungskräfte zu Meditationsseminaren ins Kloster hat Janssen einen tiefgreifenden Kulturwandel bei Upstalsboom angestoßen. Heute, fast zehn Jahre später, steht das Glücksempfinden der Menschen im Vordergrund – der Mitarbeitenden, der Gäste und aller anderen, die mit Upstalsboom in Kontakt kommen. Also nicht der Mensch ist Mittel zum Zweck fürs Unternehmen, sondern Upstalsboom dient den Menschen. „Dabei ist eigentlich egal, was wir machen, um diesen Sinn zu erfüllen. Wir könnten genauso Autos bauen, Versicherungen verkaufen oder Holz verarbeiten. Das Hotelgeschäft liegt eben in meiner Familie und ist ja auch eine perfekte Voraussetzung. Im Kontakt mit Gästen und Kollegen gibt es da ganz viele Möglichkeiten für gelingende Beziehungen und glückliche Menschen“, stellt Janssen fest.

Der Purpose hat bei Upstalsboom auch die Struktur verändert. „Funktionen und Positionen werden immer weniger, weil wir die Organisation darauf ausrichten, dass Beziehung maximal gelingt.“ Führungskräfte brauche das Unternehmen noch, sagt Janssen, allerdings haben sie jetzt die Aufgaben „Verbundenheit unterstützen“, „Klarheit über den Purpose vermitteln“ und „Potenziale fördern“. Besprechungen können mittlerweile von allen einberufen oder besucht werden. Sie beginnen immer mit der Frage: Warum bin ich heute hier? Auch die Workshops starten mit einem ähnlichen Purposeritual. Statt Projektgruppen und To-do-Listen wird das Workshopergebnis mit einem Abschlussritual operationalisiert. Jeder fragt sich, was er daraus mitnimmt und ab jetzt anders machen kann. Controlling, Budgets und Ziele werden nicht mehr vorgegeben, sondern von und durch die Mitarbeiter gesetzt und besprochen.

Woran der Kulturwandel noch spürbar wird? Ein Hoteldirektor erzählt: „Es hat sich seitdem Vieles bei uns geändert. Wir sind viel offener geworden. So kennt jeder Mitarbeiter die Unternehmenszahlen, die Wirtschaftlichkeit, die Monatsergebnisse.“ Die Kommunikationskultur habe sich deutlich verbessert. Wertschätzung untereinander ist Usus, genauso Humor im oft stressigen Berufsalltag. Achtsamkeit ist einer der zentralen Werte und es gelingt den Mitarbeitenden trotz des Widerspruchs eines hoch getakteten Hotelbetriebs, wo alle immer für den Gast da sein sollten, sich Zeiten des Innehaltens und In-Ruhe-Arbeitens zu schaffen. Die Tatsache, dass die Zugehörigkeitsdauer der Mitarbeitenden mit durchschnittlich sechs Jahren weit über dem Branchendurchschnitt von anderthalb Jahren liegt, dass die Krankheitsquote deutlich gesenkt wurde, dass sich der Umsatz des Unternehmens innerhalb kurzer Zeit tatsächlich verdoppelt hat und dass Upstalsboom 60 Prozent Stammgäste hat, sind ungeplante und gern gesehene „Nebenwirkungen“. Bodo Janssen selbst scheint bei Upstalsboom mit seinem persönlichen Purpose am richtigen Platz. „Ich will zu einer Arbeitswelt mit mehr Sinn und Menschlichkeit beitragen!“ Eines seiner Projekte ist die „Tour des Lebens“. Als Teil ihrer Ausbildung geht er mit zehn seiner Azubis auf eine zehntägige Wanderung zum Polarkreis. Im ersten Teil der Tour bestieg er zusammen mit den Azubis den Kilimandscharo, den höchsten Berg Afrikas in Tansania.

Zwei Dimensionen von Purpose

1. Sachlich-inhaltliche Dimension: Sinn bietet Orientierung. Er ist ein Bezugspunkt für die Ausrichtung in grundlegenden Fragen. In turbulenten Zeiten und komplexen Situationen steigt der Bedarf, den Sinn und Zweck des eigenen Tuns zu schärfen und als Navigationshilfe zu nutzen.

2. Emotionale Dimension: Sinn ist eine Art natürliches Bedürfnis des Menschen. Was als sinnvoll erlebt wird, erzeugt in uns eine innere Kraft und versorgt uns mit Energie fürs Handeln. Ohne das Gefühl von Sinn fehlt uns nicht nur der Grund, etwas zu tun, zu glauben oder zu verändern, es fehlt auch ein wesentlicher Beitrag zu Wohlbefinden und einem gelingenden Leben.

 

Unterscheidung von Purpose und Passion nach Morten Hansen

Passion wird meist sehr selbstbezogen und hedonistisch interpretiert: Was macht mir Freude und was kann die Welt mir geben?

Bei Purpose und Sinnorientierung geht es um die Frage: „What can you give the world? What contributions can you give to others?“ (Hansen 2018b). Sinn- oder Purposeorientierung ist vorhanden, wenn jemand wertvolle Beiträge für andere Personen, Organisationen oder die Gesellschaft leiste, die persönlich als sinnvoll erlebt werden und die niemandem schaden (Hansen 2018a, S. 90 f.)

 

Literaturtipp

Purpose Driven Organizations. Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Von Franziska Fink und Michael Moeller. Schäffer-Poeschel Verlag 2018.

 

Webtipps

Mehr über den Kulturwandel bei Upstalsboom

Tiefer eintauchen in die Theorie der Purpose Driven Organizations

Manche Autoren und Organisationstheoretiker schimpfen bereits wie die Rohrspatzen auf den „Hype“, der rund um die Begriffe Agilität, Selbstorganisation und Purpose entstanden ist. Sie kritisieren, dass Unternehmen blind in die Fänge jener laufen, die jetzt – auf Teufel komm raus – alles zu „New Work“ machen, Führungskräfte abschaffen und die Strukturen zugunsten der Selbstorganisation zerschlagen wollen. Alles, was Organisation ist, müsse angeblich agil werden und ein cooler Purpose gehöre auch noch dazu. Somit balancieren wir in diesem Artikel auf einem schmalen Grat – zwischen Hype und realem Wandel, zwischen Mode und Notwendigkeit, zwischen den Fans und den Kritikern neuer Organisationsformen. Unser Anliegen ist es, mit Ihnen genauer hinzuschauen: Welchen Unternehmen helfen diese neuen Ansätze und wo wären sie reine Zeitverschwendung, weil die aktuelle (klassische) Organisation zweckmäßiger ist? Warum ist Selbstorganisation ohne Sinnorientierung eine Luftnummer und welches theoretische Konzept gibt dem Neuen Hand und Fuß?

Die Komplexitätslandkarte

Für die neuen Formen und Modelle gilt das gleiche, wie für die altbekannten: Sie eignen sich für manche Organisationskontexte besser als für andere. Aber was passt wann und wo? Ein wichtiges Instrument zur Diagnose ist die Komplexitätslandkarte, die unser Kollege Heinz Jarmai entwickelt hat. Sie unterscheidet verschiedene Komplexitätslagen und Grundformen des Managements, die jeweils funktional sind. Wir wollen kurz die drei häufigsten Ausgangslagen skizzieren.

Wenn Kunden einheitliche und längerfristig stabile Anforderungen stellen oder sich Leistungen als Standardprodukte vermarkten und in Massenproduktion herstellen lassen, sind Unternehmen im linken unteren Quadranten von Abbildung 1 mit eher niedriger Komplexität konfrontiert und können sich im Management auf Effizienz und Produktivität fokussieren (Managing Efficiency). In der Grundstoffchemie, der Energiebranche oder in Rechenzentren ist das auch heutzutage noch oft der Fall. Prozessmanagement, Planung, Kontrolle und der Blick auf einige wenige Schlüsselkennzahlen dominieren den Organisationsalltag.

Im Wirtschaftsbereich dominieren jedoch heutzutage Umfelder, die immer wieder sich verändernde, vielfältige und teils widersprüchliche Anforderungen an Organisationen und ihre Leistungen stellen (Managing Results). Ob Auto, Smartphone, Pharma oder Konsumgüter: Die Kunden erwarten von der Industrie, dass ihre Produkte nicht nur qualitativ hochwertig und leistungsfähig, sondern auch kostengünstig und umweltverträglich sein sollen. Diese vielfältigen und sich immer wieder ändernden Anforderungen unter einen Hut zu bringen, zwingt Unternehmen dazu, viel Komplexität zu verarbeiten: Das geschieht über eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungsziele (zum Beispiel Qualitäts-, Kos-ten-, Mengen-, Liefer-, Umwelt- und Kundenzufriedenheitsziele), die Unternehmen in umfangreichen Kennzahlensystemen verfolgen, oder durch Matrixstrukturen, in denen Spezialisten für unterschiedliche Themenfelder immer wieder neu aushandeln, was wie zu machen ist.

Purpose Driven Organizations, wie wir sie verstehen, finden sich auf dieser Landkarte oben rechts. Sie eigenen sich für Rahmenbedingungen höchster Komplexität, wenn Purpose für die Steuerung des Entscheidungsgeschehens unverzichtbar wird (Managing Opportunities). Die enorme Vielfalt der Möglichkeiten und die Dynamik der Umweltveränderungen lässt gerade erst festgelegte Ziele, Pläne und Strukturen schneller veralten und unbrauchbar werden, als diese überhaupt in der Organisation kommuniziert und verankert werden können. Immer wieder gilt es, neue Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen, wofür die Kreativität und Innovationskraft der gesamten Organisation gefragt ist. In Agenturen und Beratungsfirmen oder bei Entwicklern von Individualsoftware, die für jeden noch so spezifischen Einzelfall maßgeschneiderte Lösungen suchen, wird daher auch anders organisiert, gemanagt und gesteuert.

Die Landkarte macht unterschiedliche Prinzipien für die Gestaltung von Organisationen deutlich. Während es in der unteren Hälfte der Landkarte vor allem um Optimierung im System geht, sind Organisationen im oberen Teil gezwungen, laufend am System zu arbeiten und auch radikale Änderungen von Entscheidungsmustern, Rollenverteilung und Selbstverständnis zu erreichen (Veränderungen zweiter Ordnung). Teilt man die Landkarte durch einen senkrechten Strich, fällt der Blick auf zwei unterschiedliche Steuerungslogiken. Links hat die Steuerung einen programmatischen Charakter. Es gibt ein Konzept, ein Modell des richtigen Vorgehens, und eine direktive, hierarchische Steuerung ist hilfreich. So sorgt das Management durch Vorgaben und Kontrollen dafür, dass Qualitäts- und Prozessverbesserungen vorangetrieben werden, wenn es um Managing Efficiency geht. Im rechten Teil der Landkarte würde direktive Führung jedoch eher stören oder wäre völlig überfordert. Hier gibt es keine Blaupause, keine einfachen Rezepte, und direktive Vorgaben würden die Entfaltung der notwendigen Kreativität aller nur verhindern. Führung bedeutet hier Kontextsteuerung. Sie schafft den Rahmen und stellt die Ressourcen bereit (Personal, Budget, Zugänge). Die konkreten Wege und Lösungen entstehen durch die mit Entscheidungsfreiräumen ausgestatteten Mitarbeitenden.

Unternehmen in der linken Spalte der Landkarte auf Selbstorganisation umzustellen, wäre nicht zielführend. Hier leisten klassisches Management und hierarchische Organisationsstrukturen weiterhin gute Dienste. Wo es um „Managing Results“ geht, sind Matrix- und Projektorganisationen sowie populäre Ansätze wie Lean Management oder Transformationale Führung hilfreich. Noch weiter rechts ist noch mehr Agilität und Verteilung von Entscheidungsautorität gefragt. Und um mit der hohen Komplexität und den widersprüchlichen Anforderungen umgehen zu können, wird Purposeorientierung zu einem essenziellen Steuerungsprinzip.